Der j^riefwechsel zwischen Sidonie Nadherny und Albert Bloch (September 1947 - September 1950) Mit einer Einführung in die Widmungsgedichte von Karl Kraus an Sidonie Nadherny by Elke Lorenz Champion B.A., Campbell University, N.C., 1983 M.A., The University of Kansas, 1992 Submitted to the Department of Germanic Languages and Literatures and the Faculty of the Graduate School of the University of Kansas in partial fulfillment of the requirements for the degree of Doctor ofJEhjlosophy. Committee Members Date defended: December 18,1997 Elke Lorenz Champion Copyright© 1997 Abstrakt Die Aufgabe dieser Arbeit besteht darin, Sidonie Nddhernys Einfluß auf das Werk von Karl Kraus, vor allem auf seine Lyrik, an Hand der Albert Bloch/Sidonie Nädherny- Korrespondenz auszuwerten. Neben den eigentlichen Briefen sind für diese Auswertung Sidonie Nädhernys Anmerkungen zu den über fünfzig ihr von Kraus gewidmeten Gedichten und eine Darstellung ihrer frühen Entwicklung, die Aufschlüsse über ihre spätere Beziehung zu Kraus geben kann, von Bedeutung. Ferner wird Blochs Beitrag zum Verständnis des Werkes von Karl Kraus und dessen Beziehung zu Sidonie Nädherny herausgearbeitet und die handschriftliche Korrespondenz zwischen Albert Bloch und Sidonie Nädherny als Typoskript zugänglich gemacht. F ü r T h o m a s und Phil ip iii Inhalt Seite Vorwort vi Einführung in den Briefwechsel 8 Sidonie Nädherny vor der Begegnung mit Karl Kraus 48 Einführung in die Widmungsgedichte 83 Die Widmungsgedichte der Jahre 1914 und 1915 106 Die Widmungsgedichte der Jahre 1916 und 1917 149 Die Widmungsgedichte der Jahre 1918 170 Die Widmungsgedichte nach 1918 187 Schlußwort 217 Bibliographie 225 Appendix Albert Bloch Briefe an Sidonie Nädherny 235 Sidonie Nädherny Briefe an Albert Bloch 3 82 Auszüge der Anna Bloch—Michael Lazarus—Ilse Turnovsky—Korrespondenz 484 iv Abbildungen Die Genehmigung Photos, Gemälde und Handschriftenproben in dieser Arbeit wiederzugeben erteilten Helmut Arntzen, Münster; Anna Bloch, Lawrence, Kansas; Carolyn und George Swift, Lawrence, Kansas; Staatsarchiv Prag. Handschrift Albert Bloch, Kopie Archiv Anna Bloch, Seite 29 Handschrift Sidonie Nädherny, Kopie Archiv Anna Bloch, Seite 35 Photo Sidonie Nädherny als junges Mädchen, Staatsarchiv Prag, Seite 50 Photo Schloß Janovice 1904, Staatsarchiv Prag, Seite 61 Photo Sidonie Nädherny 1916/1917 in der Schweiz, Staatsarchiv Prag, Seite 75 Albert Bloch Posthumous Portrait (Karl Kraus) 1955, Helmut Arntzen, Seite 98 Albert Bloch Metamorphosis, George and Carolyn Swift, Seite 118 Albert Bloch The Sleigh 1934-36 (von Bloch zerstört) Photo Archiv Anna Bloch, Seite 155 Albert Bloch Vallorbe 1934 ^Verbleib unbekannt) Photo Archiv Anna Bloch, Seite 159 Photo Albert Bloch, ca. 1958, Archiv Anna Bloch, Seite 236 Vorwort Albert Blochs jahrzehntelange Beschäftigung mit den Schriften des Wiener Gesellschaftskritikers, Dramatikers und Lyrikers Karl Kraus, seine Übersetzung Krausscher Gedichte und seine intensive Korrespondenz mit Kraus nahestehenden Persönlichkeiten schafften die Voraussetzungen für einen der außergewöhnlichsten und wichtigsten Beiträge, die Bloch zur Kraus-Forschung leistete: Die Korrespondenz mit der langjährigen Gefahrtin von Karl Kraus, Sidonie Nadherny von Borutin. Dieser Briefwechsel stellt eine wichtige Ergänzung der 1974 erschienenen Briefausgabe Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nadherny von Borutin dar. 1 Wenn Elias Canetti diese Briefausgabe in seinem Aufsatz "Der Neue Karl Kraus" als "Schlüssel" zu Karl Kraus bezeichnete, 2 so dient die Nädherny/Bloch- Korrespondenz der Entdeckung der Kraus/Nädherny-Beziehung aus der Sicht Sidonie Nädhernys, deren Perspektive bis heute wenig Beachtung fand. Die Aufgabe dieser Arbeit besteht einerseits darin, die handschriftliche Korrespondenz zwischen Albert Bloch und Sidonie Nadherny zugänglich zu machen und die tragende Rolle, die Albert Bloch und seine Witwe Anna Bloch bei der Sicherstellung der Originalbriefe von Karl Kraus an Sidonie Nadherny spielten, festzustellen. Andrerseits soll der Einfluß Sidonie Nädhernys auf das Werk von Kraus, vor allem auf seine Lyrik, anhand der Bloch zur Verfugung gestellten Materialien ausgewertet werden. Neben den eigentlichen Briefen sind für diese Auswertung Sidonie Nädhernys Anmerkungen zu den über fünfzig ihr 1 Hrsg. Heinrich Fischer und Michael Lazarus. Redaktion: Walther Methlagl und Friedrich Pfäfflin, 2 Bde. (München: Kösel, 1974). 2 Dieser Aufsatz erschien in Canetti, Das Gewissen der Worte (München: Hauser, 1974) 234-56, hier S. 239. vi von Kraus gewidmeten Gedichten und eine Darstellung ihrer frühen Entwicklung, die Aufschlüsse über ihre spätere Beziehung zu Kraus geben kann, von besonderer Bedeutung. Anna Bloch stellte mir die Kopien der Bloch/Nädherny-Korrespondenz aus dem von ihr verwalteten Bloch-Archiv in Lawrence, Kansas, zur Verfugung. Erika Wimmer, Brenner- Archiv in Innsbruck, machte Nädhernys Briefabschriften sowie ihre Anmerkungen zu den Widmungsgedichten und zu Kraus' Werk als Teil der Bloch/Nädherny-Korrespondenz zugänglich. Borfvoj Indra, Leiter des Staatsarchives in Prag, und Milan BaStar, Leiter der Zweigstelle des Staatsarchives Prag in BeneSov, ermöglichten mir Einblick in Sidonie Nädhernys Privatbriefe und Tagebücher. Die von Heinrich Fischer und dem Bloch-Freund Michael Lazarus herausgegebene Briefedition Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nadherny und die von Friedrich Pfäfflin, Direktor des Schiller Nationalmuseums in Marbach/Neckar, im zweiten Band dieser Briefausgabe zusammengestellten editorischen Anmerkungen erwiesen sich für diese Arbeit als unentbehrliche Informationsquelle. Friedrich Pfäfflin gab mir außerdem zusätzliche Informationen zu Sidonie Nadherny. Meine Kollegin Gabriele Lunte half beim Korrekturlesen der im Appendix wiedergegebenen Bloch/Nädherny- Korrespondenz. Professor Ernst Dick und Professor William Keel, Mitglieder meines Dissertationskommittees, korrigierten das Manuskript der Dissertation. Ihnen allen bin ich zu Dank verpflichtet. Besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater, Professor Frank Baron, der den Anstoß zu dieser Arbeit gab und sie mit großer Umsicht betreute. vii Einführung in den Briefwechsel Albert Bloch (1882-1961) hat sich nahezu fünfzig Jahre lang intensiv mit den Schriften von Karl Kraus (1874-1936) befaßt. Die Begegnung mit dem Werk des Wiener Gesellschaftskritikers, Dramatikers, Lyrikers und alleinigen Herausgebers der Fackel bezeichnete Bloch als "das entscheidende, bestimmende, das ausschlaggebende geistige Erlebnis [seines] Daseins". 3 Kraus' Fackel konnte bei Bloch auf so fruchtbaren Boden fallen, weil er seine Überzeugungen auf eine ihn direkt ansprechende Art und Weise bestärkt und ausgedrückt fand. Wie Bloch selbst sagte, half ihm Kraus, "seine eigene Lebensanschauung zu verstehen und ihr die Bestätigung und Bekräftigung zu vermitteln, die nur aus fraglos anerkennender, verehrender Autorität entstehen kann." 4 Diese bedingungslose Anerkennung ermöglichte Bloch ein selbst für Kraus-Verehrer ungewöhnliches Einfühlungsvermögen in dessen geistige Welt und erfuhr in Blochs Übersetzungen Krausscher Gedichte einen Höhepunkt, ließ ihn selbst zum Lyriker werden und beeinflußte ihn auf außergewöhnliche Weise in seiner Malerei. So äußerte Bloch z.B., er habe von Kraus, der selbst von dieser Kunst wenig verstand, mehr über Malerei gelernt als von den großen Meistern. 5 3 Albert Bloch an Sidonie Nädhentf, 4. März 1948. Im Folgenden wird die Bloch/Nädherny- Korrespondenz als "AB an SN" bzw. "SN an AB" zitiert. Der handschriftliche Briefwechsel wurde für diese Arbeit transkribiert und ist im Appendix wiedergegeben. 4 Bloch schrieb im Nachwort zu seiner unveröffentlichten Gedichtsammlung "Ventures in Verse," I, o.S.: " . . . helped him to clarify his own outlook and to give it the confirmation and corroboration that can come only from revered, unquestioningly trusted authority." Unveröffentlichtes Typoskript, Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. 5 Bloch, "Ishmael's Breviary," 13, unveröffentlichtes Typoskript, Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas: " . . . though he himself knows nothing of painting, has taught me ofthat art more than ever I learned from the great painters themselves." 8 Blochs sozialkritische Haltung, seine humanistisch geprägte liberal-konservative Lebenseinstellung und seine satirische Begabung entwickelten sich zwischen 1905 und 1908, den intensivsten Jahren der Zusammenarbeit mit seinem ersten Mentor, William Marion Reedy, Herausgeber des in St. Louis, Missouri, erschienenen Mirror. Der Mirror9 ein tonangebendes amerikanisches Magazin der Epoche, befaßte sich ähnlich wie Kraus 9 Fackel mit Literatur, Gesellschaft, Politik und Lokalereignissen. Reedy, der auch ein bekannter zeitgenössicher Lyrik-Kritiker war, dürfte auch Blochs Einstellung zu diesem Genre mitbestimmt haben. 6 Bloch war von 1905, dem Zeitpunkt seiner Entdeckung durch Reedy, bis zu seiner von Reedy geförderten Übersiedlung nach München im Januar 1909 als Karikaturist und Illustrator einer der wichtigsten Mitarbeiter des Mirror und verfaßte zudem zahlreiche Artikel und Rezensionen für das Magazin. Bereits während der Zusammenarbeit mit Reedy waren folglich für Bloch die Bereiche bildende Kunst, Kulturkritik und Literatur eng verflochten und bildeten die Basis fur die Aufnahmefähigkeit der Schriften von Karl Kraus. Bloch betonte immer wieder seine "vorvorhandene" Übereinstimmung mit Kraus in "der Denk-, Gefühls- und Betrachtungsweise, wie der Gemeinsamkeit der Vorurteile in Neigung und Abneigung." 8 In seinem ausführlichsten lyrischen Bekenntnis zu Karl Kraus "Epistle zu Weidlingau" beschreibt Bloch die Wirkung von Kraus auf ihn: For I had found myself in you This was that long-known v o i c e , . . . 6 Über die Zusammenarbeit Reedys mit Bloch siehe Max Putzel, The Man in the Mirror: William Marion Reedy and his Magazine (Cambridge, Mass.: Harvard UP, 1963) besonders 143-44. 7 Siehe dazu Werner Mohr "Albert Bloch as Caricaturist, Social Critic, and Authorized Translator of Karl Kraus in America" (Phil. Diss.: U Kansas, 1995) 14-31. 8 AB an SN, Ende November [1947]. 9 I had been walking between light and dark sleepwalking in the shadows, till one spark from your red torch, upon my pathway thrown, showed me myself and all that was my own . . . 9 Der zur Zeit seiner ersten Begegnung mit dem Werk von Kraus schon mehrere Jahre in München lebende Bloch schilderte diesen Einschnitt in seinem Leben rückblickend 1948 in einem Brief an Sidonie Nadherny von Borutin, Kraus ' langjähriger Gefährtin: Ich wußte zufallig damals, daß K.K. in München, wo ich jahrelang ansäßig war, sich aufhielt. Als ich in ein Lokal kam und mich zur Frau Lasker-Schüler setzte, fragte sie mich: "Haben Sie K.K. gesehen? Ich erwarte ihn eben." Ich erklärte, daß ich ihn nicht kenne, und stand auf, um weiter zu gehen und nicht zu stören. "Nein, nein", rief die L-S: "bleiben Sie nur, er wird Ihnen sehr gefallen, er ist gar nicht so9 er sieht aus wie ein Kardinal". Ich ging aber doch. Auch sonst bin ich der Gelegenheit ausgewichen, ihn persönlich kennen zu lernen. Das erste mal—1912 oder c 13—war ich noch nicht sein Leser; ich kannte nur den Namen. Ausschlaggebend für mich (und meine damals etwas negative Haltung) war aber, daß ich manche seiner Münchner "Verehrer" gut kannte, und die flößten mir—ganz besonders nach der Art, wie sie von ihrem Abgott redeten—gar kein Vertrauen zu diesem ein. Darum 9 Die vollständige Wiedergabe der "Epistle to Weidlingau" siehe Beilage zum Brief vom 24. Februar 1948, Appendix S. 293-319. Alle drei unveröffentlichte Gedichtsammlungen Blochs "Ventures in Verse," aufbewahrt im Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas, enthalten Kraus gewidmete Gedichte. "Ventures in Verse," I: "To Karl Kraus. On His Birthday" und "On Reading Karl Kraus;" "Ventures in Verse," II: "On the Verge. In Memoriam Karl Kraus" und "Before his Deathmask." "Ventures in Verse," III: "Epistle to Weidlingau" und "Ventures in Verse." Die veröffentlichte Gedichtsammlung Ventures in Verse (New York: Ungar, 1947) beginnt mit "To Karl Kraus. On His Birthday" und endet mit "Ventures in Verse." "To Karl Kraus. On His Birthday" wurde zum ersten Mal veröffentlicht in: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag, herausgegeben von einem Kreis dankbarer Freunde (Wien: Lany, 1934)9. 10 vermied ich es auch, die Fackel zu lesen (nicht nur, weil ich nicht happig auf die zeitgenössische Literatur war und bin), bis mir eines Tages der reine Zufall ein Heft der Fackel plötzlich in die Hand spielte. Es war sonst nichts zu lesen da, ich war unbeschäftigt und hatte auf einen Bekannten zu warten. Ohne Neugierde, ohne Interesse fing ich zu blättern an. Seit jenem Augenblick—es war 1914, einige Monate vor Ausbruch des Krieges—hat K.K. mich nicht mehr losgelassen. (In einer langen Elegie— geschrieben 1938 nicht lange nach dem Einbruch Hitlers in Österreich—"Epistle to Weidlingau," ist es beschrieben.) Das dritte mal wars wieder die Frau Lasker-Schüler, die mich, in einem anderen Lokal, sitzen zu bleiben bat: Sie erwarte eben Karl Kraus, ich sollte ihn j a kennen lernen, er sei gar nicht so , sondern persönlich ein reizender Mensch und sehe genau, aber genau wie ein Kardinal aus Es war natürlich—das 2. u. 3. mal—nur meine ehrfürchtige Scheu, die mich leitete und abhielt: für eine solche Gunst war ich noch nicht reif, denn ich hatte ihm nichts zu geben, außer der Liebe und Verehrung, die ich von fern und im Stillen ihm entgegenbrachte. 1 0 Bloch war seit 1911 der expressionistischen Künstlerbewegung der Blaue Reiter verbunden und mit Künstlern wie Wassily Kandinsky, Gabriele Munter, Paul Klee und Heinrich Campendonk bekannt und mit Franz Marc befreundet. Er wurde von Herwarth Waiden, dem Herausgeber der expressionistischen Wochenschrift Der Sturm und Mäzen des Blauen Reiters genauso wie die anderen Mitglieder gefordert und kannte viele der in 1 0 AB an SN, 1. Februar 1948. Bloch markierte seine erste Fackel (Heft 393/394 vom 7. März 1914) mit dem Zusatz "Mein erstes Heft der Fackel. Zuerst im Caft gelesen und dann beim Buchhändler gekauft." Siehe auch Erika Webhofer [Wimmer], "Zur Rezeption von Karl Kraus. Der Briefwechsel aus dem Nachlaß Albert Bloch - Michael Lazarus - Sidonie Nädhentf," in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 3 (1984): 35-53. 11 Münchner Künstler- und Literatentreffs, wie z.B. dem Cafö Stephanie, verkehrenden zeitgenössischen Schriftsteller wie Else Lasker-Schüler, Heinrich Mann und Frank Wedekind und den Karikaturisten und Herausgeber des Simplicissimus, Thomas Theodor Heine. 1 1 Obwohl Bloch schon zur Münchner Zeit wählerisch in seinem Umgang war und von sich selbst sagte, daß er nie "Mitmacher" sein konnte, ermöglichten ihm seine Kontakte vielseitige geistige Anregungen, auf die er bereits während des Ersten Weltkriegs weitgehend verzichten mußte, da die Mitglieder des Blauen Reiters zum Teil eingezogen wurden, sich freiwillig meldeten oder in die eigene Heimat zurückkehren mußten. Bloch ließ sich zwar zu Beginn des Krieges zu einer ihn schon bald bedrückenden Kriegsbegeisterung hinreißen, fühlte sich aber von Anfang an von Nationalismus und Patriotismus der deutschen Bevölkerung abgestoßen. Nach Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg wurde Blochs Situation in Deutschland als "feindlicher Ausländer" zunehmend schwieriger. In dieser Zeit erlangte Kraus' pazifistische Haltung für Bloch entscheidende Bedeutung. Blochs anhaltende Beschäftigung mit Kraus nach seiner Rückkehr aus Europa im Jahr 1921—er hatte kurz zuvor noch drei Lesungen von Karl Kraus in Wien miterlebt, aber auch bei dieser Gelegenheit vermieden, ihn persönlich kennenzulernen—hat ihren Grund mit darin, daß sich Bloch nicht nur im München der Kriegsjahre, sondern auch in seinem Geburtsland Amerika als Außenseiter fühlte. Bloch, der sich selbst als Traditionalist bezeichnete, war, ähnlich wie Karl Kraus, dem Althergebrachten mehr verbunden als dem 1 1 Bloch zeichnete Karikaturen und verfaßte kurze Artikel über die zeitgenössischen Autoren, die er in Münchner Caßs beobachtete. Siehe dazu Mohr "Albert Bloch. Caricaturist and Critic" in Albert Bloch: Artistic and Literary Perspectives, Hrsg. Frank Baron, Helmut Arntzen und David Cateforis (München: Prestel, 1997) 33-40. 12 Fortschritt, an dem er wie Kraus vor allem Technisierung, Kommerzialisierung, Macht der Presse und Mißbrauch der Phrase bei der Meinungsbildung verabscheute, Phänomene, die sich im progressiven Amerika schon ganz anders entwickelt hatten als in Europa. Bloch war im München der Vorkriegszeit, einem europäischen Kulturzentrum der Epoche, Mitglied einer der bedeutendsten Künstlergruppen des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Impulse wie sie von einer derartigen Bewegung ausgehen, konnte er in der selbsterwählten Isolation in der damals noch kleinen Universitätsstadt Lawrence, Kansas, wo er ab 1923 sehr zurückgezogen lebte und als Professor für Malerei wirkte, und wo seine Bilder bewußt unabhängig vom Kunstmarkt entstanden, kaum empfangen. Franz Marc, Blochs menschliches und künstlerisches Vorbild der Münchner Zeit, war bereits 1916 bei Verdun gefallen, Reedy 1920 gestorben. Die intensive Beschäftigung, ja Identifizierung, mit Karl Kraus und seinem Werk sowie der Gedankenaustausch mit vielen Kraus nahestehenden Persönlichkeiten halfen Bloch, das durch Reedys und Marcs Tod und den Mangel an geistiger Anregung entstandene Vakuum auszufüllen und die Verbindung mit dem europäischen Kulturkreis aufrechtzuerhalten. Albert Bloch hat neben einer wertvollen Gemäldesammlung ein umfangreiches schriftliches Erbe, bestehend aus Gedichten, Aphorismen, Essays und Briefen, hinterlassen. Ein Großteil dieser Schriften hätten ohne Blochs Beschäftigung mit Kraus nicht oder zumindest nicht in der Weise entstehen können. In den zwanziger Jahren korrespondierte Bloch regelmäßig mit dem Fackelverlag. Kraus veröffentlichte eine Reihe von Blochs Zuschriften, welche Zeitereignisse und Sprachprobleme behandelten. 1 2 Kraus, der sich in 1 2 Zu Blochs Zuschriften an die Fackel siehe John Richardson, "Albert Bloch: An Annotated Bibliography" Yearbook of German-American Studies, Vol. 31 (1996): 167-204. Nachdruck in: Albert 13 der Fackel Leserzuschriften meistens verbat, reagierte auf die Briefe des "Lesers in Kansas" wohlwollend, da er, wie Sidonie Nadherny sich ausdrückte, "wahres Verständnis stets heraushörte." 1 3 Zwei Anfragen Blochs zu Sprachproblemen veröffentlichte Kraus nicht nur in der Fackel, sie gingen auch in Kraus ' Werk Die Sprache ein, Zeichen, wie sehr Kraus Blochs Zuschriften schätzte. 1 4 1926 hielt Bloch die wahrscheinlich erste öffentliche Lesung aus Kraus ' Worten in Versen in den Vereinigten Staaten, ein Ereignis, über das er Kraus in einem Brief, den dieser in der Fackel fast ungekürzt veröffentlichte, berichtete: Nicht nur um einer Pflicht zu genügen, sondern auch meiner Freude Ausdruck zu geben, will ich Sie von der ersten Karl Kraus-Vorlesung an dieser Universität in Kenntnis setzen. Die heutige Vorlesung - ich möchte sie lieber eine Feier nennen - fand vor einem nicht ungeschickt gewählten Kreis statt, bestehend aus Mitgliedern der Deutschfakultät, einem Teil ihrer Studentenschaft, einigen deutschkundigen Herren aus anderen Fakultäten und etlichen außenstehenden Damen und Herren. Über meinen Vortrag der Gedichte will ich lieber schweigen - ich bin kein geübter Vorleser. Allerdings beschäftigt mich ihr Werk schon seit 12 Jahren so intensiv, daß ich mich mit ihm einigermaßen vertraut fühle, vor allem mit seinen Voraussetzungen und Hintergründen; und während des Krieges wurde es mir zu fast täglicher Labung Bloch: Artistic and Literary Perspectives, 163-72. Von Blochs fünfundzwanzig zwischen 1920 und 1935 verfassten Zuschriften an die Fackel veröffentlichte Kraus zwölf. 1 3 SN an AB, 1. Oktober 1947. Nädhernys Hervorhebung. 1 4 Es handelt sich um die Abhandlungen "Der Apostroph" und "Brauchen" die Kraus in der Fackel 668-75 (Dezember 1925): 101 und der Fackel 679-85 (März 1925): 107-08 veröffentlichte. Siehe auch Kraus, Schriften, Bd. 9, Die Sprache, Hrsg. Christian Wagenknecht (Suhrkamp: Frankfurt, 1987) 56- 57 und 257-59. 14 und zum einzigen Trost, bei einer Freundin stundenlang aus den Fackelheften vorzulesen. Auch hier zuhause - namentlich in St. Louis und Chicago - habe ich zuweilen im Privatkreise aus Worten in Versen vorgelesen. Aber öffentlich und sozusagen offiziell habe ich es bis heute abend nicht gewagt. Weshalb ich Ihnen davon Bericht erstatten muß. - Die Aufnahme der dargebotenen Stücke - das Programm, welches ich beilege, war ausschließlich aus den 8 Bänden von Worten in Versen zusammengestellt - war eine überraschend erfreuliche, wenn man bedenkt, daß außer Herrn Dr. Kellermann kein einziger Anwesender auf so etwas vorbereitet war und daß es meistens stockamerikanische Studenten waren. Wenn auch das Feinste und Tiefste an ihnen vorübergeweht ist - was selbst einem der Aufgabe besser gewachsenen Vorleser gegenüber der Fall gewesen wäre - so gaben sie doch ganz deutlich zu erkennen, daß von Klang und Farbe und Duft Ihres Wortes nicht alles verflogen sei. Ich preise mich glücklich, daß ich einen solchen Eindruck, der hoffentlich bei dem Einen oder Andern ein bleibender sein wird, vermitteln durfte. Denn anders kann ich Ihnen nicht d a n k e n — 1 5 Unter den mehr als vierzig vorgetragenen Gedichten befanden sich fünfzehn Sidonie Nädherny gewidmete, darunter so bedeutende wie "Vor einem Springbrunnen," "Vallorbe," "Fahrt ins Fextal," "Landschaft" und "Verwandlung." 1 6 Bloch hielt 1927 mindestens eine weitere öffentliche Lesung in St. Louis, Missouri, seiner Geburtsstadt. 1 7 Zu diesem 1 5 Die Vorlesung war vom German Club des German Department der Kansas University auf Einladung des Gastprofessors Fritz Kellermann veranstaltet worden. Siehe dazu Mohr, "Albert Bloch as Caricaturist... ," 213-18. Blochs Zuschrift siehe Fackel 717-23 (Ende März 1926 [April 1926]): 33- 34. 1 6 Zum Programm siehe Fackell'17-23: 34. 1 7 Siehe Mohr, "Albert Bloch as Caricaturist...," 237. 15 Zeitpunkt konnte Bloch bereits eigene Übersetzungen aus Worte in Versen vortragen, die in demselben Jahr entstanden waren. Kurz darauf ernannte Kraus Bloch auf Empfehlung des Münchner Philosphen und Schriftstellers Theodor Haecker zu seinem offiziellen Übersetzer . Dies führte 1930 zur Veröffentlichung von Blochs Karl Kraus: Poems, einer Auswahl von Übersetzungen der in Kraus ' Anti-Kriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit eingegangenen Gedichte und über zwanzig Nachdichtungen von Sidonie Nadherny gewidmeten Gedichten. 1 8 Ende der zwanziger und in den dreißiger Jahren schrieb Bloch eine Vielzahl eigener Gedichte, von denen er 1947 zusammen mit etlichen Kraus- Übersetzungen, z.B. dem Sidonie-Gedicht "Unter dem Wasserfall," eine Auswahl unter dem Titel Ventures in Verse veröffentlichte. 1 9 Den Titel wählte Bloch in Anlehnung an Kraus ' Worte in Versen als Bekenntnis seiner "großen geistigen Schuld an dem erhabensten Geist [seiner] Zei t ." 2 0 Bloch selbst bezeichnete seine Gedichte im Vergleich zu Kraus ' Lyrik als 21 "Wagnisse," eine für Bloch typische Untertreibung. Während des zweiten Weltkriegs übersetzte Bloch neben zahlreichen Aphorismen von Kraus auch vierunddreißig Gedichte Georg Trakls, dessen Lyrik er in einem Brief an Sidonie Nadherny mit seiner Malerei verglich: Karl Kraus: Poems. Authorized English Translation from the German, Hrsg. und Übersetzer Albert Bloch (Boston: The Four Seas Press, 1930). 19 Ventures in Verse (New York: Ungar, 1947). Ein Teil der von Bloch übersetzten Kraus-Gedichte sind zu finden in Albert Bloch: German Poetry in War and Peace. A Dual Language Anthology. Poems by Karl Kraus and Georg Trakl with Translations, Paintings, and Drawings by Albert Bloch Hrsg. Frank Baron (Lawrence, Kansas: Max Kade Center for German-American Studies, 1995). Zu den von Bloch übersetzten Sidonie-Gedichten siehe die Übersicht auf Seite 86-88. 2 0 AB an SN, Ende November [1947]. 2 1 AB an SN, Ende November [1947]. 16 Es sei nicht leicht, behaupten manche Verständige, in meine Bilder hineinzukommen, und allerdings könnte man sie "abwegig" nennen, wenn ich gleichwohl Stilleben, Landschaften, Figurenkompositionen male, wie jeder andere: nur aber, daß das Resultat—weil ich halt nichts dafür kann—eine vollkommene Vergeistigung* des Dargestellten darstellt. *Z>wrcAgeistigung der Materie, das greifbar Gegenständliche verwischend. Meine Bilder haben oft etwas mit der Lyrik Trakls g e m e i n ; . . . meine Lyrik hingegen ist, wenigstens der äußeren Form nach, rein traditionell. 2 2 Für Bloch war die Malerei eng mit der Lyrik verbunden und umgekehrt. Die sinnbildliche Verschmelzung der beiden Sphären drückte er z.B. in dem folgenden Aphorismus aus: "A 23 picture that is not a poem is not a picture, and a poem that is not a picture is not a poem." Zu zahlreichen seiner Gemälde verfaßte Bloch entsprechende Gedichte. Ein Beispiel dafür ist Blochs Gemälde "The Garden of Asses" und das Gedicht "Garden of Asses ." 2 4 Auch zu etlichen Kraus-Gedichten entstanden Gemälde. Vorbild für die Gemälde "Sleigh Ride," "Metamorphosis" und "Vallorbe" waren die Kraus-Gedichte "Fahrt ins Fextal," "Verwandlung" und "Vallorbe." 2 5 Wie sehr der Dichter Karl Kraus den Maler Albert Bloch beeinflußte, brachte Bloch im Vorwort zu seiner unveröffentlichten Gedichtsammlung "Ventures in Verse" zum Ausdruck: 2 2 AB an SN, 10. Juni 1948. Blochs Hervorhebungen. 2 3 Bloch, "Painter's Progress," "Additions," in: "Ishmael's Breviary," o.S. Siehe auch Albert Bloch: German Poetry in War and Peace, xii. 2 4 Bloch, "Ventures in Verse," III, o.S. 2 5 Abbildungen, siehe S. 118, 159 und 155. Zahlreiche Gegenüberstellungen von Blochs Bildern mit eigenen Gedichten und Gedichten von Karl Kraus befinden sich in Albert Bloch: German Poetry in War and Peace und Albert Bloch: Artistic and Literary Perspectives. 17 What, principally (aside from the recognition of rime as a unifying and inevitable thought-element of the lyric organism), the author of these ventures in verse has learnt or has tried to learn from the example of Karl Kraus and from his philosophy of verse-and-word structure, of the structure of the word within the verse, is . . . by grace of the word—, just as the painter must think in and through color and visible form . . , " 2 6 Blochs Gedicht "The Picture and the Painter" ist eine Analogie auf Kraus' programmatisches Gedicht "Der Reim:" Bloch bringt in diesem Gedicht seine Anschauung über Malerei auf ähnliche Weise zum Ausdruck wie Kraus seine Reimtheorie in dem Gedicht "Der Reim:" 2 7 The Painter and the Picture Vague worlds toss wrapped in blinding light. He lifts a hand: Let there be night. Upon the toppling formlessness he lays a hand in stern caress. Color, light's breath, must be divined. Form shall be fashioned in the mind Form woos color in blissful strife; color takes form and gives it life. 2 0 Bloch., "Word to the Reader" in "Ventures in Verse" I, o.S. 2 7 Das Gedicht "Der Reim" ist veröffentlicht in Karl Kraus, Schriften, Band 9, Gedichte, Hrsg. Christian Wagenknecht (Frankfurt: Suhrkamp, 1989) 94-96. 18 Soon which is which both have forgot. Without the other each is not. Each through each begins and ends; one self into the other blends. Its advent brings good will and peace; resolved all discord, strife shall cease. And by their interplay triune a cosmos swings in rhythmic tune. He can but question so and brood, and dare not answer: It is good. Its virtues? While its failings shout, all he is sure of is his doubt. Out of the night he summons storm, and rears a monster without form. So out of chaos form is willed. From heart 's blood color is distilled. They meet and chaos is restored. They struggle on in hot discord. One to the other yet unused, in warring harmony they are fused. 19 Each has but what each has and gives; because of one the other lives. And they beget, as they combine, the cleaving element of line. What figure here of mystery! A holy symbol stand these three. Before the work its maker stands. What is this labor of his hands? How was this wrought-by what firm laws? He cannot know. He sees its flaws. Still doubting, he resumes his play. 28 A new world must be born today. Über Kraus fand Bloch in seiner Malerei nach der vom Expressionismus beeinflußten Münchner Phase im Laufe der Zeit zu einem ganz eigenen, traditionelleren Formen verbundenen Stil. Obwohl seit Blochs Tod 1961 immer wieder versucht wurde, sein künstlerisches und schriftstellerisches Werk bekanntzumachen, kann man erst in den letzten Jahren von einem Aufschwung in der Bloch-Forschung sprechen, der 1997 durch drei Ausstellungen in Kansas 29 City, Missouri, München und Wilmington, Delaware einen Höhepunkt erfuhr. Mit der 2 8 "Ventures in Verse" I, o.S. Gedicht Nr. 92. 2 9 Orte und Daten der Ausstellungen: The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, 26. Januar bis 16. März 1997; Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 16. April - 6. Juli 1997; Delaware Art 20 Neuentdeckung des künstlerischen Werks von Bloch ist ein wachsendes Interesse an seiner schriftstellerischen Tätigkeit verbunden. Frank Baron faßte in einem Arikel "Albert Blochs Bedeutung für die Germanistik 9 ' die Leistungen Blochs als Übersetzer, Schriftsteller und Förderer des Werks von Kraus in den Vereinigten Staaten zusammen und veröffentlichte einen Teil von Blochs Nachdichtungen, bestehend aus Gedichten von Kraus, Trakl, Goethe, Lasker-Schüler u . a . 3 0 Bisher liegen zwei Dissertationen über Albert Bloch vor. Maria Schuchter untersuchte in ihrer kunsthistorischen Dissertation "Albert Bloch" die romantischen Elemente im Werk Blochs. 3 1 Im Mittelpunkt von Werner Möhrs Dissertation "Albert Bloch as Caricaturist, Social Critic, and Authorized Translator of Karl Kraus in America" steht Blochs Verbindung zu Karl Kraus. 3 2 Die Zusammenarbeit amerikanischer, deutscher und österreichischer Literaturforscher und Kunsthistoriker gipfelte 1997 in der Herausgabe des Essay-Bandes Albert Bloch: Artistic and Literary Perspectives. In dem Band werden einzelne Aspekte aus Blochs Bildern, wie z.B. die immer wiederkehrenden Motive des Harlekins, der verödeten Landschaft und der Christuslegende herausgegriffen und im Detail behandelt. Ein Aufsatz beweist Blochs tragende Rolle bei der Gründung des Museum, Wilmington, 3. Oktober - 7. Dezember 1997. Die folgenden Ausstellungskataloge erschienen im Zusammenhang mit den Ausstellungen: Albert Bloch: The American Blue Rider, Hrsg. Henry Adams, Margaret C. Conrads und Annegret Hoberg (München: Prestel, 1997) und Albert Bloch: Ein amerikanischer Blaue Reiter, Hrsg. Annegret Hoberg und Henry Adams (München: Prestel, 1997). 3 0 Frank Baron, "Albert Blochs Bedeutung für die Germanistik," in: 'Die in dem alten Haus der Sprache wohnen.' Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Hrsg. Eckehard Czucka (Münster: Aschendorff, 1992) 423-29 und Albert Bloch: German Poetry in War and Peace. 3 1 Maria Schuchter, "Albert Bloch" (Phil. Diss., Universität Innsbruck, 1992). 3 2 Mohr, "Albert Bloch as Caricaturist.. ." 3 3 Siehe Anmerkung 11. 21 Blauen Reiters, ein anderer verfolgt romantische Elemente in Blochs Werk. Einen zweiten Schwerpunkt des Bandes bildet Blochs Verbindung zu Kraus und seine umfangreiche Korrespondez mit Kraus nahestehenden Persönlichkeiten, z.B. mit dem Krausforscher Werner Kraft, der Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky und nicht zuletzt Sidonie Nädherny von Borutin, der Kraus am nächsten stehenden Gefährtin. Auf den folgenden Seiten ist der umfangreiche Briefwechsel Albert Blochs mit Mitgliedern des Blauen Reiters und ihm nahestehenden Persönlichkeiten sowie dem Karl- Kraus-Kreis graphisch skizziert. Die beiden Korrespondenzkreise enthalten die wichtigsten, aber nicht alle für die Bloch-Forschung bedeutenden Briefwechsel. 1984 faßte Erika Wimmer Blochs Korrespondenz mit dem Kraus-Kreis in dem Artikel "Zur Rezeption von Karl Kraus: Der Briefwechsel aus dem Nachlaß Albert Bloch - Michael Lazarus - Sidonie Nädherny" zusammen. 3 4 Die Originale des Bloch/Nädherny-Brieftvechsels wurden 1971 von dem Bloch Freund und späteren Herausgeber der Briefe von Karl Kraus an Sidonie Nädherny, Michael Lazarus, mit der Zustimmung von Albert Blochs Witwe, Anna Bloch, dem Brenner Archiv in Innsbruck zur Verwahrung übergeben. Die Korrespondenz Blochs mit dem Kraus-Kreis ist bis heute so gut wie unveröffentlicht geblieben. Ein Teil des Briefwechsels Blochs mit dem Umkreis des Blauen Reiters wurde in den Ausstellungskatalogen Albert Bloch: The American Blue Rider und Albert Bloch: Der amerikanische Blaue Reiter zum ersten Mal veröffentlicht. 3 5 3 4 Webhofer [Wimmer], "Zur Rezeption von Karl Kraus. Der Briefwechsel aus dem Nachlaß Albert Bloch - Michael Lazarus - Sidonie Nädhenry" 35-53. 35 Albert Bloch: The American Blue Rider 163-207. 22 Albert Blochs Korrespondenz mit dem Karl-Kraus-Kreis Sidonie Nädherny Werner Kraft 1947-1950 1933-1955 47 Briefe AB 57 Briefe AB 55 Briefe SN 138 Briefe WK Mechtilde Lichnowsky 1930-1956 121 Briefe ML Ernst Krenek 1936-1943 19 Briefe AB 29 Briefe EK Ficker/Dallago 1935-1947 5 Briefe AB 4 Briefe FD Erny Pollinger 1936-1943 7 Briefe AB 12 Briefe EP Albert Bloch Karl Jaray 1929-1939 16 Briefe AB 22 Briefe KJ Oskar Samek 1939-1958 15 Briefe AB 31 Briefe OS Hildegard Jone 1935-1961 6 Briefe AB 57 Briefe HJ Michael Lazarus 1939-1961 mehrere hundert Andere Korrespondenten, z.B. Helene Kann Theodor Haecker Berthold Viertel Karoline Kohn Paul Schick 23 Albert Blochs Korrespondenz mit dem Umkreis des Blauen Reiters Franz Marc 1912-1916 14 Briefe AB 35 Briefe FM Maria Marc Herwarth Waiden 1915-1948 1913-1917 21 Briefe AB 26 Briefe AB 14 Briefe MM Albert Bloch Wassily Kandinsky Lyonel Feininger 1936-1937 1938-1951 5 Briefe AB 27 Briefe LF 3 Briefe WK Paul & Lilly Klee 1936-1939 4 Briefe AB 2 Briefe PLK 24 In der Reihe wertvoller Briefwechsel nimmt derjenige mit Sidonie Nadherny von Borutin—als einziger fast vollständig erhalten— die bedeutendste Stellung ein. Sidonie Nadherny zeichnete für Bloch zum ersten Mal Einzelheiten ihrer über zwanzig Jahre währenden unkonventionellen, oft problematischen persönlichen Beziehung zu Kraus auf. Um Bloch Einblick in Kraus' "Privatmenschentum" zu gewähren, kopierte sie umfangreiche Passagen aus Kraus' Briefen an sie, stellte die ihr gewidmeten Gedichte chronologisch zusammen und erläuterte den Hintergrund ihrer Entstehung. Durch den schriftlichen Dialog mit der tschechischen Baronesse erfuhr Blochs Auseinandersetzung mit Kraus, besonders mit seinem lyrischen Werk, eine erneute Vertiefung. Die Freundschaft zwischen Bloch und Nadherny basiert in erster Linie auf diesem Aspekt von Kraus' Werk. In dem Briefwechsel offenbaren sich Blochs Bedeutung als Kenner und Übersetzer Krausscher Gedichte und seine Leistungen als eigenständiger Lyriker. Berühmte Zeitgenossen, die in der Kraus/Nädherny-Beziehung von Bedeutung waren, wie die Dichter Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Mechtilde Lichnowsky und die Musikerin Dora Pejacsevic, sind ebenso Gegenstand des Meinungsaustauschs wie der Wiener Kraus-Kreis, darunter die Kraus-Erben Helene Kann, Heinrich Fischer, Karl Jaray und Oskar Samek, die durch den Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 zur Auswanderung gezwungen waren und zur Zeit der Bloch/Nädherny-Korrespondenz in verschiedenen Ländern lebten. Nadherny sandte Bloch bis dahin unveröffentlichte Gedichte, z.B. "Ski und Fiedel," "Zum neuen Jahr," "Drei" und die zweite Strophe von "Gespräche" sowie Erstfassungen von Gedichten, z.B. "Schäfers Abschied." Nadherny überließ Bloch zahlreiche Photographien von Kraus, dessen Wiener Wohnung, sich selbst und ihren Brüdern, Mechtilde Lichnowsky 25 und in Kraus' Lyrik vorkommenden Landschaften der Schweiz. Schon vor der Kontaktaufhahme mit Sidonie Nädherny befand sich in Blochs Besitz eine kleine Sammlung von Kraus Memorablia. Kraus selbst ließ Bloch seine Schallplatten und mehrere Vorlesungsprogramme zukommen und sandte ihm handsignierte Kopien von Traumstück und seinen Shakespeare-Übersetzungen. 3 7 Kraus' Nichte Erny Pollinger vermachte Bloch eine rote Krawatte und ein kleines Notizbuch aus dem Nachlaß ihres Onkels. Oskar Samek, im New Yorker Exil lebender Wiener Kraus-Anwalt und -Testamentvollstrecker, schenkte Bloch eine Zigarettendose von Kraus. Zu dem Briefwechsel zwischen Nädherny und Bloch kam es durch Vermitt lung von Samek, den Bloch persönlich kannte und der ihn regelmäßig in Falls Village besuchte, wo Bloch oft den Sommer zu verbringen pflegte. Samek hatte Sidonie Nädherny Blochs Band 38 Ventures in Verse gesandt, über den sie sich lobend äußerte. Bloch nahm Kontakt mit ihr auf, um ihr für die anerkennenden Worte zu danken, aber auch um ihre Aufmerksamkeit auf die 1930 erschienenen Übersetzungen Karl Kraus: Poems zu lenken. Nädherny antwortete umgehend und führte aus, daß ihr Blochs Buch seit seinem Erscheinen bekannt war. Sie schrieb: 3 6 Die Photographien werden heute im Brenner-Archiv, Innsbruck aufbewahrt. 3 7 Die Bezeichnung "Vorlesung" wird in dieser Arbeit in derselben Weise wie von Kraus benützt, der seine öffentlichen Lesungen stets als "Vorlesungen" bezeichnete und ankündigte. Siehe z. B. die Ankündigung der ersten Vorlesung auf dem Deckblatt der Fackel 381-83 (September 1913). 3 8 Auszug aus Nädhernys Brief an Samek vom 20. August 1947: " . . . Innig danke ich Ihnen für die Übersendung der Gedichte von Albert Bloch. Es sind solche darunter die mich erschüttern. Sie sind echt, ohne Mache, aus einem Muss entstanden. Und der schwer übersetzbare K.K. läßt sich, wie ich entdecke, ins Englische gut übersetzen, z.B. Jugend mit seinem ganzen Rhythmus. Von dreien der Gedichte habe ich die mir gewidmeten Manuskripte " Kopie Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. 26 Unlängst, ganz zufällig, ein Buch in einer der vielen Kisten suchend, in die meine Bibliothek verpackt wurde, als die S.S. mich nötigten, das Schloß zu verlassen, fiel mein Blick auf Ihren blauen Band, auf "Poems of Karl Kraus", u. als ich "Kansas" las, dann wusste ich plötzlich alles. Ich sah sein Zimmer vor mir, in dem er mir öfters Briefe von Ihnen vorlas, ich erinnerte mich, dass er öfters von Ihnen mit aufrichtiger Hochschätzung sprach . . . und wie konnte ich vergessen, dass er selbst im März 1931 mir Ihr Buch mit seiner Unterschrift schenkte? 3 9 Nädherny erkannte von Anfang an in Bloch nicht nur den Kenner und Übersetzer der Krausschen Lyrik, sondern auch den eigenständigen Lyriker: Und ich las Ihre Gedichte - ventures in verse - u. sie erschütterten mich, denn sie sind anders, sie sind ein Muss, sind niemals Worte ohne Gedanken, sind ein Kämpfen, Lieben, Leiden, ein Sichwehren, ein Suchen, ein Bejahen und Verneinen. Sie dringen direkt in mein Herz, ich fühle ihre Grösse u. ihren Ernst, ihren tiefen Ernst, der niemals lügt noch vormacht. In jedes Wort ist das Empfinden gebannt, das Wort ist das Empfinden. Wie bei K.K 4 0 Diese Anerkennung Blochs als Lyriker und das Verständnis, das er Kraus' Werk, insbesondere seiner Lyrik, entgegenbrachte, spielten eine ausschlaggebende Rolle bei Nädhernys Entscheidung, Albert Bloch als erstem und einzigem Einblick in den persönlichen Hintergrund der Widmungsgedichte zu gewähren: Vielleicht entschliesse ich mich, Ihnen einmal die wahren Manuskript-Titel u. Daten aller mir gewidmeten Gedichte zu senden, auch seiner 2 letzten noch ungedruckten. 3 9 SN an AB, 1. Oktober 1947. 4 0 SN an AB, 1. Oktober 1947. Nädhernys Hervorhebung. 27 ("Man frage nicht" schrieb er hier am 13. 9. 33 u. sein überhaupt letztes, wie sein erstes mir gewidmet, am 1. 10. 33). In einem Band zusammengefasst, würden sie eine biographische Lebensgeschichte darstellen. Ihnen als Dichter, Ihnen als Unbekanntem, Ihnen als Erstem. 4 1 In ihrem nächsten Brief bekräftigte Sidonie Nadherny ihre Absicht, Gedichte betreffende und andere aufschlußreiche Passagen Krausscher Briefe an sie für Bloch herauszuschreiben, und bekannte: "Ihr Brief gab mir das sichere Gefühl, dass Sie der einzig Würdige sind, sie [die Briefauszüge] kennenzulernen." 4 2 Für Sidonie Nadherny bedeuteten die Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen eine Aufarbeitung und Verarbeitung ihrer "einzigartigen Beziehung" zu Karl Kraus. In ihrer Rilke-Biographie schrieb Lou Andreas Salome: Nicht so ausschließlich, wie man oft meint, ist "Nachtrauer" rein gefühlsmässiges Besetztsein: es ist mehr noch eine Unablässigkeit des Verkehrs mit dem Entschwundenen, als nähere er sich. Denn durch den Tod geschieht nicht bloß ein Unsichtbarwerden, sondern auch ein neues Insichtbarkeittreten; nicht nur wird hinweggeraubt, es wird auch auf eine nie erfahrene Weise hinzugetan. 4 3 Auch Sidonie Nadherny beschäftigte sich nach Kraus' Tod unablässig mit dem Verstorbenen und entwickelte ihr Verhältnis zu Kraus neu. Zu seinen Lebzeiten war es ihr nicht möglich gewesen, Kraus' Absolutheitsanspruch zu genügen. Nach seinemTod konnte sie ihr Verhältnis zu Kraus neu definieren und sich uneingeschränkt zu ihm bekennen. 4 1 SN an AB, 1. Oktober 1947. 4 2 SN an AB, 18. November 1947. 4 3 Lou Andreas-Salomö, Rainer Maria Rilke, Hrsg. Emst Pfeiffer (Frankfurt: Insel, 1988) 9. 28 - >—~ V5 . Zeugnis dieses bedingungslosen Bekenntnisses sind z.B. ihre kurz nach Kraus' Tod an Ludwig von Ficker, Herausgeber des Brenner, gerichteten Briefe. 4 4 Auch ihr Nachwort zu den 1936 beendeten Briefabschriften von Kraus an sie, in dem sie sich nach Alfred Pfabigan "dem Toten gegenüber völlig aufgab," 4 5 und der konzentrierte Dialog mit Bloch, der ihr psychische Entlastung und Erleichterung bedeutete und einen intensiven Lebensrückblick ermöglichte, belegen ihre unablässige Nähe zu Kraus . 4 6 Den Briefaustausch mit Bloch bezeichnete Nadherny "als [ihre] einzige Freude, die [sie] schwer entbehren würde." 4 7 Schon nach wenigen Wochen adressiert sie Bloch mit "mein lieber Freund" und ähnlich persönlichen Anreden und geht so weit, Bloch die Rolle des Boten aus dem Jenseits zuzuweisen, in der Karl Kraus sich selbst in dem Gedicht "Sendung" sah und metaphorisch zum Abgesandten von Sidonies verstorbenem Bruder Johannes wurde: Er will nicht, daß du weinst. Es sprach der Tote: "Geh du zu ihr, sei Ich ihr, sei mein Bote! Tod heißt nur: zwischen ihren Sternen schweben." (WV,69) Bloch reagiert mit Einfühlungsvermögen auf Nädhernys Briefe und die ihm zugesandten Abschriften. Schuldgefühle, das Empfinden, in der Beziehung zu Kraus versagt zu haben, kommen in Nädhernys Briefen offen und wiederholt zum Ausdruck. Als sie die ersten 4 4 Werner Kraft, langjähriger Brieffreund Blochs, veröffentlichte diese Briefe auszugsweise in seinem Buch Karl Kraus: Beiträge zum Verständnis seines Werkes (Salzburg: Müller, 1956). 4 5 Alfred Pfabigan, Karl Kraus und der Sozialismus (Wien: Europa, 1976) 121. 4 6 Nadherny' hatte auf Wunsch von Kraus seine Briefe bereits 1922 kopiert und diese Arbeit nach Kraus' Tod beendet. Das Ms. der Abschriften befindet sich im Brenner-Archiv, Innsbruck und hat vermutlich als Vorlage für die Briefabschriften für Bloch gedient. Das Nachwort zu diesen Abschriften wurde veröffentlicht in Karl Kraus, Briefe an Sidonie Nadherny, Bd. 2, 689-90. Siehe auch Anmerkung 61. 4 7 SN an AB, 1./2. April 1948. 30 Abschriften aus Stellen von Kraus' Briefen über die Widmungsgedichte in Worte in Versen sendet, schreibt sie "Bitte zu glauben, dass ich mir jederzeit meines Unwerts und seiner Illusionskraft bewusst bin." 4 8 Bloch zerstreut ihre Bedenken, versichert ihr, daß er sich weder das Recht anmaßen wolle noch die Absicht habe, ein Urteil über ihre Beziehung zu Karl Kraus zu fällen: Wenn ich mir aber einen ganz leisen Einwand erlauben darf, fühle ich mich gezwungen, folgendes zu äußern: Gern glaube ich, daß, wie Sie so rührend versichern, Sie sich jeder Zeit Ihres "Unwertes" bewußt sind; aber da tun Sie sich und insbesondere ihm unrecht. Denn das Objekt solcher Liebe ist völlig außerstande, den eigenen Wert oder Unwert in den Augen des Liebenden zu ermessen oder auch nur zu erfassen; das bleibt ausschließlich seine Sache (und hat übrigens, auch bei ihm, mit "Urteilen" eigentlich überhaupt nichts zu schaffen). Und nicht weniger gern glaube ich, daß Sie sich "seiner Illusionskraft" bewußt sind. Aber gerade solche Illusionskraft ist ein integrer Bestandteil solcher Liebe, sodaß als Ergebnis jener "Illusion" eine vollgültige Realität enstehen muß. Das wußte natürlich keiner besser als Karl Kraus selbst - keiner wußte es so gut; und [h]underte von Aphorismen, Sätzen, Versen sind die Bestätigung Mich hierüber weiter zu ergehen, wäre als vollkommen überflüssig nur Selbstüberhebung und Anmaßung . . . und wäre ein 49 "Urteil" über deren Inhalt [Briefabschriften] vollends undenkbar 4 8 SN an AB, 5. Dezember 1947. 4 9 AB an SN, 17. Dezember 1947. Blochs Hervorhebung. Schon in seinem Brief vom 13. Dezember 1947 betonte Bloch, daß er eine Wertung der Briefabschriften nicht beabsichtige. 31 Durch seine Unvoreingenommenheit ermöglichte Bloch einen freimütigen Meinungsaustausch und bezeugte sein Einfühlungsvermögen in die Lyrik von Kraus. Als Gegenleistung für Blochs Verständnis gewährte ihm Nadherny Einblick in Kraus' Privatsphäre: . . . die Aufzeichnungen sollen Ihnen ihn, sein edles Herz und die Grösse seiner Persönlichkeit u. seines Charakters nahe bringen; ich bleibe dabei Nebensache. Nur da ich die Adresse war u. der einzige Mensch, dem er sein Herz u. alles Denken rückhaltslos aufschloss, bin ich das einzige heute noch lebende Wesen, das Ihnen Auskunft geben kann über sein Privatmenschentum. Und dieses und sein Künstlertum waren eine unteilbare Einheit und jenes nicht minder gross, nicht minder einzig. 5 0 Sidonie Nadherny empfand eine große Verantwortung, die Kraus-Briefe und den Hintergrund der ihr gewidmeten Gedichte zu bewahren. Ihre Stellung als Aristokratin in der kommunistischen Tschechoslowakei, die sie mehr und mehr in die Isolation trieb, war für sie nicht nur schmerzhaft, sondern auch bedrohlich. Unter diesen Umständen empfand sie den Briefaustausch mit Bloch, der in den USA, der Zuflucht vieler Emigranten, lebte, als ein besonderes Glück. Vor ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei in eine weiterhin unsichere Zukunft wollte sie den in ihrem Besitz befindlichen Teil des Nachlasses von Karl Kraus nicht nur in der Obhut von Dr. Jan Turnovsky, Kraus' ehemaligem Prager Anwalt, sondern auch außerhalb des Landes in Sicherheit wissen. 5 1 Bloch war in dieser schwierigen Zeit Sidonie Nädhernys wichtigster Ratgeber hinsichtlich des Nachlasses von Kraus. Sie erwog, 5 0 SN an AB, 31. Dezember 1947. 32 ihn die Widmungsgedichte in englischer Sprache herausgeben zu lassen, einen Plan, den Bloch als unergiebig verwarf. Für ihn blieb trotz ungünstiger Nachkriegsverhältnisse der deutschsprachige Raum für Kraus' Nachlaß zuständig: " . . . Karl Kraus und sein Werk sind, wie mir scheint, bis auf weiteres eine rein deutsche Angelegenheit, eine Angelegenheit deutscher F o r s c h u n g ; . . . " 5 2 Für Bloch war die Tatsache, daß seine Übersetzungen Karl Kraus: Poems nur wenig Interessenten gefunden hatten, ein Zeichen, daß die amerikanische Germanistik noch nicht bereit war, sich mit Kraus zu befassen. Seiner Ansicht nach sollte Sidonie Nädherny ihre Manuskripte und Aufzeichnungen einer europäischen Universität oder Staatsbibliothek vermachen. Die Korrespondenz zwischen Albert Bloch und Sidonie Nädherny umfaßt die drei letzten Lebensjahre der Nädherny. Der Dialog ist von einer für beide Beteiligten außergewöhnlichen Offenheit, gegenseitigem Vertrauen und vor allem zu Beginn der Korrespondenz von großer Intensität gekennzeichnet. Nädherny schrieb allein im ersten Jahr des Briefwechsels siebenunddreißig Briefe. In denselben Zeitraum fielen auch ihre umfangreichen Abschriften der Briefauszüge von Kraus und die Aufzeichnungen der ihr gewidmeten Gedichte. Auch Bloch schrieb in den ersten zwölf Monaten siebenunddreißig Briefe, zum Teil mit ausführlichen Kommentaren zu Kraus' Werk im allgemeinen, seiner Lyrik und zu den Ausführungen Nädhernys. Er zeigte sich für Nädhernys Informationen erkenntlich und sandte ihr eigene unveröffentlichte Gedichte, vor allem solche, die sich mit seinem Verhältnis zu Kraus befaßten, wie z.B. die "Epistle to Weidlingau,"die er, hätte er 5 1 Zum Hintergrund der Veröffentlichung der Briefe von Kraus an Nädherny Siehe auch S. 58 dieser Arbeit und Appendix, S. 484-96. 5 2 AB an SN, 8. Oktober 1947. 33 mehr über die Beziehung von Karl Kraus und Sidonie Nadherny gewußt, "Epistle to t he Park of Janowitz" genannt hät te . 5 3 Zwischen September 1948 und Sommer 1949 war der Schriftwechsel sporadisch, was auf beiden Seiten gute Gründe hatte: Die Abschriften, die im ersten Jahr der Brieffreundschaft das Bindeglied darstellten, waren abgeschlossen. Dies nahm dem Briefwechsel die Spannung und Dringlichkeit des ersten Jahres. Sidonie Nadherny litt m e h r und mehr unter dem zu dieser Zeit endgültig an die Macht kommenden kommunist ischen Regime. Sie hatte nicht die innere Ruhe zum Schreiben, bereitete ihre bevorstehende Flucht vor und hielt sich oft in Prag auf, w o sie sich, anonym, weniger gefährdet fühlte. Kraus* Briefe bewahrte sie schon seit Anfang 1948 dort auf und brachte nur Teile zur Abschrift nach Janovice zurück. Bloch, der im Sommer 1947 nach einem Herzinfarkt seine Stelle a l s Professor für Malerei an der University of Kansas aufgab, um sich nur noch der Malerei zu widmen, war immer wieder unwohl. Das intensive Schreiben, das er als "labor of love" und "Dankesschuld an Karl Kraus" bezeichnete, strengte ihn an. Nach Sidonies geglückter Flucht—sie überschritt am 19. September 1949 mit Hilfe eines ortskundigen Führers zu Fuß die Grenze nach Bayern und wanderte mit Hilfe von Freunden über Bonn und Holland nach London aus—schrieben sich Bloch und Nadherny wieder regelmäßig. Bloch fungierte weiterhin als Berater, diesmal hinsichtlich Rainer Mar ia Rilkes Briefe an Nadherny, die sie ins Exil mitgenommen hatte und Ende 1949 an das Rilke- Archiv der Yale University verkauf te . 5 4 Der Briefwechsel befreite sich in dieser Phase v o m Schwerpunkt Karl Kraus und war nicht mehr so intensiv. 5 3 AB an SN, 23. Februar 1948. 5 4 SN an AB, 5. Januar 1950. Siehe auch Rainer Maria Rilke, Briefe an Sidonie Nadherny von Bornim* Hrsg. Bernhard Blume (Frankfurt: Insel, 1973). 34 VRCHOTOVY JANOVICE P O & T A . T E L E G R A F , T E L E F O N I , S T A N I C E O R A H Y O L Ö R A M O V I C E . lUU^ JU+lt^ ß*it£ stJ^ ryn^J^y &U&fa H>4.Hh> / W v / ^ A a &vy£f Ary^M , ^ ^ m Ä Zur Zeit ihres Briefwechsels mit Bloch war Sidonie Nadherny im Besitz ihrer eigenen Briefe an Kraus. Dies kann aus der Diskussion über die Disposition der Briefe im Falle des Todes eines der Briefpartner geschlossen werden. In dieser Diskussion brachte Nadherny ihre eigenen Briefe an Kraus zur Sprache: Und nun, nachdem Sie mich beruhigt haben, dass kein Auge, ausser dem Ihren, so lange Sie leben die Abschriften aus seinen Briefen sehen werden, bitte ich mit denselben u. mit meinen Briefen wie folgt zu disponieren: sie sollen . . . ungelesen an mich zurückgesandt werden. (Ebenso disponierte K.K. in seinem Testament über meine Briefe.) Sollte ich Ihnen vorsterben, dann ungelesen an Dr. Jan Turnovsky, Praha XIX., Belcrediho 80 nach meinem Tod überlasse ich am liebsten ihm die Briefe; er erscheint mir geeigneter als Dr. Samek, mit dem er sich ja dann immer - u. auch mit Ihnen - ins Einvernehmen setzen kann. 5 5 In einem späteren Brief griff sie das Thema noch einmal auf: "Was mit meinen Abschriften geschehen soll, wenn Sie uns Beide [Sidonie Nadherny und Jan Turnovsky] überleben? Dann verfugen Sie nach eigenem Gutdünken." 5 6 Aus der Tatsache, wie sie über Karl Kraus' Disposition über ihre Briefe an ihn sprach—sie gab keinerlei Anzeichen des Unmuts zum Ausdruck, daß Karl Kraus' Wille nicht entsprochen worden wäre—kann geschlossen werden, daß sie ihre Briefe tatsächlich zurückerhielt. Dies ergibt sich auch aus einem Brief an Oskar Samek, dem Testamentvollstrecker von Karl Kraus, dem sie unter anderem für die SN an AB, 31. Dezember 1947. Hervorhebung elc. 5 6 SN an AB, 26. Januar 1948. 36 Übergabe eines Briefpakets an Moritz von Chlumecky, einem in Wien wohnenden gemeinsamen Freund von Nadherny und Kraus'dankte: Vielen Dank . . . auch für die neuen Fackelbände. Wärmstens danke ich Ihnen, d a s s Sie die Herstellung derselben veranlasst haben, und bitte ich, neue Exemplare b inden zu lassen, da ich die alten Hefte wie gewohnt, behalten möchte. Es wären dies 12 Hefte (873-922), wohl 2-3 Bände? - Dank auch für die Übergabe des Briefpackets an Herrn v. Chlumecky. 5 7 Bei dem erwähnten Briefpaket könnte es sich um ihre eigenen Briefe an Karl Kraus gehandelt haben, die durch Samek über Moritz von Chlumecky in Nädhernys Hände zurückgelangt sein könnten. Aufschlußreich ist, daß Sidonie Nadherny Jan Turnovsky als Erblasser für ihre Kraus-Manuskripte einsetzte, an zweiter Stelle Oskar Samek nannte und Albert Bloch, d e n sie nicht persönlich kannte und mit dem sie erst seit wenigen Wochen im Briefkontakt s tand , im Todesfall von Turnovsky zu ihrem Testamentsvollstrecker in Sachen der Briefe und Gedichtabschriften machte. Wie ernst sie diese Auflage nahm, zeigt eine Verfugung, d ie sich bei Blochs Briefen an Sidonie Nadherny befand, die 1968 über Jan Turnovskys Witwe, I lse Turnovsky, nach Lawrence in die Hände von Anna Bloch zurückgelangt waren. Die Verfugungsnotiz lautet wie folgt: Nach meinem Tod ist, wie mit Karl Kraus besprochen, gegen die Publizierung unseres Briefwechsels, besonders seiner Briefe, nichts einzuwenden, sofern sie v o n einem wahren Versteher und von einem edlen Geist liebevoll gesichtet und 5 7 Nadherny an Oskar Samek, 24. November 1936. Typoskript, Brenner-Archiv, Innsbruck. Kraus und Während ihrer Aufenthalte in Wien war Nädhentf oft bei dem Ehepaar Chlumecky einquartiert. 37 ausgewählt werden. Womöglich Sichtung u. Auswahl vor Veröffentlichung mit Mechtild Peto-Lichnowsky besprechen. Vor eventueller Drucklegung ist der Briefwechsel keinesfalls Frau Helene Kann zu zeigen noch mit ihr zu berathen oder zu besprechen. Vrchotovy Janovice am 14. Februar 1938. Sidonie Nadherny 5 8 Das Beilegen dieser Verfiigungsnotiz war kein unbedachter Entschluß, sondern geschah aus der Überzeugung heraus, daß Bloch nicht nur der "einzig Würdige" war, Einblick in die Briefe zu erhalten, sondern auch für würdig befunden wurde, nach Sidonie Nädhernys Ableben über das weitere Schicksal der Briefe bzw. der von ihr verfassten Briefauszüge zu verfügen. Man geht in der Forschung davon aus, daß Sidonie Nadherny ihre eigenen Briefe vernichtet hat. Diese Vermutung stützt sich vor allem darauf, daß sich Nädhernys Briefe nicht bei den Kraus-Briefen befunden haben . 5 9 Daraus ist aber höchstens zu schließen, daß Nadherny ihren Briefen nicht die gleiche Bedeutung wie denjenigen von Kraus beimaß und ihnen vor ihrer Flucht nicht dieselbe Sorgfalt angedeihen ließ wie Kraus' Briefen. Ihre eigenen Briefe könnten sich in einer der vielen Kisten befunden haben, in denen ihr Besitz seit der Evakuierung aus Schloß Janovice während des Zweiten Weltkriegs verpackt war. Die Tatsache, daß die ihre eigenen Briefe ausdrücklich erwähnende Verfiigungsnotiz dem Bloch-Briefkonvolut beigefügt war sowie die Tatsache, daß Nadherny Bloch gegenüber 5 8 Beilage zum Brief Ilse Turnovsky an Michael Lazarus vom 10. [Februar] 1968. Archiv Anna Bloch. Lawrence, Kansas. Nädhernys Hervorhebungen. Siehe Anmerkung 51. 5 9 Turnovsky an Lazarus, 5. März 1968: "Er [der Koffer] enthielt nur seine Briefe an Sidi (insgesamt 1070 Stück " Turnovskys Hervorhebung. 38 nichts über den Verlust ihrer eigenen Briefe erwähnte, läßt eher darauf schließen, daß Nädhernys Briefe zum Zeitpunkt ihrer Flucht noch existierten. Wie sehr Nadherny Bloch vertraute, kommt in vielen Briefpassagen, wie z .B. der folgenden, zum Ausdruck: Aber plötzlich empfand ich, seitdem mir bewusst wurde, wie intensiv Sie sich mit seinen Gedichten befasst hatten, als dürfte ich Ihnen den Einblick in die Fülle u. Tiefe seines Herzens nicht vorenthal ten. Ich empfand es fast als Sünde, solch einzigartige Schönheit mit ins Grab zu nehmen, verborgen vor jedes Menschen Auge. Ich begriff, dass Sie der einzige mir bekannte Geist sind, sie aufzunehmen, sie zu verstehen, sie zu vergöttern, sich in sie zu versenken . . . Ich glaube erwähnt zu haben, dass ich auf seinen Wunsch die Briefe abschrieb, zwecks eventueller späterer Veröffentl ichung.. . . Wenn ich also aus allen Kennern und Verstehen! von K.K. Sie ausgesucht habe, so geschah es mit seiner Zust immung. 6 0 Bereits 1917 erwog Kraus die Möglichkeit einer Veröffentlichung seiner Briefe nach seinem Tod. 1 1920, während einer Zeit der Trennung, bat er Sidonie Nadherny zum ersten Mal , seine Briefe an sie abzuschreiben. 1936, kurz nach seinem Tode, vollendete Nadherny diese Arbeit. Uber Kraus' Briefe schrieb sie an Bloch: SN an AB, 31. Dezember 1947. 6 1 Am 14. November 1917 schrieb Kraus . . . Innigsten Dank für die Herzensgüte der Arbeit an den Briefen." (BSN1,449). Am 29./30. November 1920 heißt es: "Die Briefe bitte, wenn dazu Zeit und Stimmung vorhanden sind, abzuschreiben." (BSN1, 486). Am 12./13. April 1922 schreibt Kraus: "Da hast du ja eine außerordentliche Arbeit geleistet, aber war sie nicht schon einmal getan?" (BSN1. 544). Siehe auch Anmerkung 46. 6 2 Zu schließen aus "Mein Nachwort," veröffentlicht in Kraus, BSN2,689-90. 39 Es gab Zeiten, in denen er mir täglich, manchmal stündlich schrieb, mir jeden Gedanken mitteilte und der Reichtum seiner wundervollen Briefe u. ihr unermesslicher Werth sind in jeder Richtung unvorstellbar. Sie sind der Erste, dem ich Einblick gewähre; dies möge Ihnen meine Zurückhaltung beweisen und wie streng ich sie während all der Jahre vor Menschenblicken behütet habe. Aber auch mein Vertrauen in Ihre unbedingte Diskretion, gewonnen aus Ihren Briefen u. aus Ihrer Hochachtung für den Unvergesslichen. Es wäre mir schrecklich, wenn auch nur ein Satz dieses Heiligtums public werden würde. Nun geht es einen weiten Weg. Aber es ist mir leichter, es in die Ferne als in die Nähe zu leiten. Vielleicht täte ich auch dies nicht, aber es war mit seiner Zustimmung (die er auch öfters in Briefen erwähnt) dass ich die schönsten Stellen herausschrieb (weil seine Schrift schwer zu 63 entziffern ist,) zwecks eventueller Veröffentlichung nach unserem Tod. Von ihrem Exil in London aus bat Nadherny Albert Bloch im Frühjahr 1950 um die Rückgabe der Kraus-Briefabschriften, da sie ein Andenken von Kraus vermißte. Vielleicht befürchtete sie auch, die Briefe könnten in die falschen Hände geraten und vorzeitig veröffentlicht werden. Sie erkundigte sich angelegentlich nach Veröffentlichungspraktiken in den USA. Solche Bedenken könnten bei der Rückforderung der Briefe eine Rolle gespielt haben, da Blochs Gesundheitszustand labil und immer wieder Thema des Briefaustauschs war. Sidonie Nadherny hatte früher an eine Veröffentlichung der Widmungsgedichte in englischer Sprache gedacht. In England hatte sie entsprechende Verbindungen und erwog vielleicht erneut diese Möglichkeit. Wie dem auch sei, Bloch sandte die Briefabschriften an die gewünschte Adresse in London. Sie erreichten Sidonie Nadherny jedoch nicht mehr, da 6 3 SN an AB, 5. Dezember 1947. 40 sie am 30. September 1950 in einem Londoner Krankenhaus unerwartet an einem Krebsleiden starb. Die mit Kraus und Nadherny befreundete und mit Bloch ebenfalls in Briefkontakt stehende Schriftstellerin Mechti lde Lichnowsky unterrichtete Bloch über Krankheitsverlauf, Tod und Beerdigung der Freundin . 6 4 Sie übersandte ihm auch Nädhernys letzte an ihn gerichtete Notiz vom 9. September 1950. Auf Bloch's Bitte fahndete Lichnowsky erfolglos nach den Briefabschriften. Sie waren in die Hände des in London und den USA im Exil lebenden langjährigen Freundes von Nadherny und Kraus, Max Lobkowitz, gelangt und wurden von diesem später Friedrich Pfäfflin, damals beim die Schriften von Karl Kraus herausgebenden Kösel Verlag tätig, übergeben. 6 5 Am 4. Januar 1968, sieben Jahre nach Blochs eigenem Tod, versuchte Ilse Turnovsky mit Bloch Kontakt aufzunehmen, da sie ihm seine Briefe an Sidonie Nadherny zurücksenden, vorher aber sicher gehen woll te, daß sie ihn auch unter der angegebenen Adresse erreichten. In ihrer Verwahrung hatte Nadherny laut Ilse Turnovsky die folgenden Kraus-Materialien hinterlassen: . . . Andenken und Fotos, eine Fotokopie des Testaments von K.K. nebst einer maschinengeschriebenen Abschrift davon, hauptsächlich aber die vollständige, sehr 6 4 Mechtilde Lichnowsky schrieb am 2. Oktober 1950 an Bloch: Dear AB, you will want Sidi's letter which I kept waiting for an opportunity to send it back to you. She died on Sept. 30th. She never had the slightest suspicion, never knew what had happened & what was killing her. She has always been throroughly ignorant about symptoms, possibilities etc. I am glad of it as she could not have stood the shock of knowledge. I saw her on Oct. 22nd & she was very pleased, even cheerful. It took me exactly 7 hours on & back, quite a journey, train, 'bus & walk. She was making plans for "when I am well again." I was taken by car to attend the funeral yesterday; The owner of the car was late & so everything was over before we reached the little church in Denham, service & burial. It was not his fault. He had been kept busy at the Foreign Office. The day was THE ONE perfect day, Indian Summer. She did not suffer -.-" Kopie Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. Siehe auch BSN2, 42. Siehe auch Anmerkung 277. 6 5 Zu der Beziehung Kraus/Nädherny/Lobkowitz, siehe BSN2,241. 41 umfangreiche Korrespondenz mit K.K., d.h. nur seiner Briefe an Sidi (insgesamt 1070 Stück). Dazu ein von Sidis Hand geschriebener Band Exzerpte der Briefe, die 23 Jahre dieser Korrespondenz umspannen. Auf der ersten Seite steht, ebenfalls von Sidis Hand, die Notiz: "Extrakte der Briefe von Karl Kraus an mich/von ihm gewünscht, zwecks einmaliger eventueller Veröffentlichung. 6 6 Nachdem Anna Bloch Ilse Turnovskys Adresse über Michael Lazarus an den Kösel Verlag weitergeleitet hatte, erkundigte sich Friedrich Pfäfflin bei ihr nach den Originalbriefen von Kraus. Bei der Suche war Ilse Turnovsky nicht nur auf Kraus' Originalbriefe, sondern auch Blochs Briefe an Nadherny und die Anweisung, sie an Bloch zurückzusenden, gestoßen. Die Nädherny/Bloch-Korrespondenz war demzufolge in der Auffindung von Kraus' 1974 veröffentlichten Briefen an Nadherny mit ausschlaggebend. Ilse Turnovsky betraute auf Empfehlung von Anna Bloch Michael Lazarus, den langjährigen Kraus-Kenner und Freund von Bloch, mit der Herausgabe der Kraus-Briefe. Die ersten Briefe, die zwischen Ilse Turnovsky, Anna Bloch und Michael Lazarus gewechselt wurden, tragen zur Aufklärung des zur Veröffentlichung fuhrenden Hintergrundes bei und werden deshalb im Appendix dieser Arbeit wiedergegeben. Der erste Kontakt zwischen Lazarus und Bloch geht auf 1930 zurück, als Lazarus von Wien aus eine Sammlung für Kraus' "Theater der Dichtung" veranstaltete. 1938 sah sich Lazarus nach dem Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland wie so viele Kraus-Anhänger, die später Kontakt zu Bloch suchten, zur Auswanderung gezwungen und ersuchte Bloch dabei um Hilfe. Es entwickelte sich eine bis zu Blochs Tod Turnovsky an Lazarus, 5. März 1968. Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. Siehe Anmerkung 51. 6 7 Siehe Anmerkung 51. 42 währende Freundschaft, die auf der gemeinsamen Bewunderung von Kraus basierte. Lazarus wurde ein wichtiges Bindeglied Blochs zu dem hauptsächlich im New Yorker Exil lebenden Kraus-Kreis und war die treibende Kraft hinter Albert Blochs Veröffentlichung von Ventures in Verse. Er schenkte Bloch die Trakl-Gedichtsammlung, die Bloch zu seinen Trakl- Übersetzungen anregte. Nach Blochs Tod bemühte sich Lazarus unermüdlich darum, Blochs Kraus-Übersetzungen (Gedichte und Aphorismen) zu veröffentlichen. Diesen Plan gab er Ende der sechziger Jahre in Übereinst immung mit Anna Bloch nach jahrelangen Verhandlungen mit verschiedenen Verlagen wegen unvereinbarer Gegensätze hinsichlich einer geeigneten Auswahl auf. Lazarus versuchte, ebenfalls vergeblich, Blochs Korrespondenz mit dem Kraus-Kreis zu veröffentlichen. Auf sein Betreiben fanden die ersten Ausstellungen von Blochs Bildern in den USA, Deutschland und Österreich statt. Lazarus' Bemühungen um Blochs Lebenswerk wurden 1968 nach Auffindung der Briefe von Karl Kraus an Sidonie Nadherny in den Hintergrund gedrängt. Den Rest seines Lebens widmete er der Edition dieser Briefe, deren Herausgabe er selbst nicht mehr erlebte. Ein Teil der gegenwärtigen Bemühungen, Albert Blochs künstlerisches und literarisches Lebenswerk und seine Verbindung zu Karl Kraus der Forschung zugänglich zu machen, schließt sich also indirekt an Lazarus' Einsatz in den sechziger Jahren an. Der Briefwechsel zwischen Bloch und Nadherny umfaßt den Zeitraum vom 13. September 1947 bis 9. September 1950. Das Konvolut umfaßt über einhundert Briefe, die im Appendix dieser Arbeit mit der Zust immung von Anna Bloch zum ersten Mal zugänglich gemacht werden. 6 8 Der erste Brief stammt von Albert Bloch, den letzten schrieb Sidonie Die Briefe Albert Blochs sind im Appendix ab Seite 235 wiedergegeben, diejenigen von Sidonie Nadherny ab Seite 382. 43 Nädherny kurz vor ihrem Tod. Fünfundfünfzig handgeschriebene Briefe Nädhernys, d.h. alle an Bloch gesandten Briefe, sind erhalten. Die meisten Briefe schrieb sie an Blochs Adresse in Lawrence, einige an seine Sommeranschrift in Falls Village, Connecticut. Die meisten Briefe verfaßte sie auf Schloß Janovice, einige in Prag, die lezten sechzehn Briefe stammen aus dem Exil in London und Irland. Von Nädhernys Briefen lag ein Typoskript vor, das wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Herausgabe der Kraus-Briefe Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre erstellt wurde. Es wurde mit den handschriftlichen Briefen verglichen und ergänzt und diente überarbeitet als Vorlage für das neue Typoskript. Die von Nädherny für Bloch zusammengestellten Erläuterungen zu den Widmungsgedichten werden bei der Besprechung der Gedichte wiedergegeben. Abschriften der Auszüge von Kraus' Briefen, einschließlich derjenigen über Kraus' Werk und Zeitgenossen, dienten bereits als Teilvorlage für Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nädherny, d.h. sie gingen in der Briefausgabe auf und sind der Forschung seit Uber zwanzig Jahren zugänglich. Daher brauchten sie in 69 diese Arbeit nicht aufgenommen zu werden. Anhand der Korrespondenz lassen sich die verschiedenen Phasen der Briefabschriften genau verfolgen, da Nädherny meist Angaben über ihre Briefbeilagen machte bzw. Bloch deren Eingang regelmäßig bestätigte. Die Briefe werden originalgetreu wiedergegeben. 7 0 In Sidonie Nädhernys Deutsch und Englisch sind "Ismen" der anderen Sprache eingeflossen, jedoch mehr Germanismen ins Englische als Anglismen ins Deutsche. Der Hintergrund der sprachlichen Eigenheiten Sidonie Nädhernys wird an anderer Stelle besprochen. 7 1 Abweichungen von den 6 9 Den Briefabschriften konnten jedoch Daten über Zusammentreffen von Kraus und Nädherny, die sie für Bloch ergänzend eintrug, entnommen werden. 7 0 Siehe Anmerkung 68. 7 1 Zu Nädhernys sprachlichen Eigenheiten siehe auch S. 51 dieser Arbeit. 44 Konventionen der Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik in den deutschen und englischen Passagen wurden unverändert übernommen und in der Regel nicht besonders hervorgehoben, da dies beim Lesen störend wirkt. Werktitel und Unterstreichungen—einfach oder doppelt—wurden im Kursivdruck wiedergegeben, Gedichttitel wurden einheitlich in Anfuhrungszeichen gesetzt. In sehr wenigen Fällen wurden eindeutige Flüchtigkeitsfehler, wie z.B. das Auslassen von Umlautzeichen oder Kleinschreibung am Satzanfang, korrigiert . Die archaische Schreibweise bestimmter Wörter, wie /Ä-Schreibung im Anlaut (z.B.Thier)* /e-Schreibung (z.B. gieng,fieng und hieng), c-Schreibung (z.B. Concentration), ss s ta t tß und andere Abweichungen von der Norm (z.B. eventuel statt eventuell, zu hause statt zu Hause) wurden beibehalten. Dasselbe gilt für die beiden Schreibweisen Janovice und Janowitz. Bei Präpositionalfügungen ließ sich manchmal der Einfluß eines süddeutschen Dialekts nicht verleugnen. Sidonie Nadherny benutzte z.B. nach der Präposition "wegen" meist den Dativ. Auch Verwechslungen von "mir ' und "mich" kommen vor. In den englischen Passagen gibt es ähnliche Abweichungen von der Norm, die ebenfalls übernommen wurden. Von Albert Blochs Briefen sind siebenundvierzig erhalten. Sie wurden für diese Arbeit zum ersten Mal transkribiert. 7 2 Briefe nach dem 3. Juni 1949, d.h. die letzten Briefe nach Janovice und alle Briefe ins Exil, gelten als verloren. Bloch sandte fast alle erhaltenen Briefe nach Vrochotovy Janovice, nur wenige Briefe gingen nach Prag. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit fertigte Bloch, mit Ausnahme seines ersten Briefes, keine Entwürfe seiner Briefe an Sidonie Nadherny an, oder zumindest existieren solche Entwürfe mit Ausnahme des ersten Briefes nicht mehr . 7 3 Auch Bloch schrieb seine Briefe überwiegend auf 7 2 Siehe Anmerkung 68. 7 3 Dieser Briefentwurf ist als Handschriftenprobe von Albert Bloch auf S. 29 wiedergegeben. 45 deutsch. Es wäre für ihn zwar weniger anstrengend gewesen, auf englisch zu schreiben, aber es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, sich in einer so eng mit Kraus verbundenen Sphäre der deutschen Sprache zu bedienen: "schon immer fühle ich mich irgendwie gehemmt, wenn ich jemandem, dessen Muttersprache die Deutsche ist, auf Englisch schreiben s o l l . . . wie erst aber, wenn der Hauptgegenstand meines Schreibens einer ist, der das reinste Wesen der deutschen Sprache verkörpert und an den ich nur Deutsch denken kann ." 7 4 Das Deutsch des Amerikaners Bloch ist an Kraus geschult. Fehler in Grammatik und Rechtschreibung unterlaufen ihm selten. Sein Deutsch zur Zeit des Briefwechsels mit Nädherny ist gewandter als dasjenige der Münchner Zeit, z.B. in den Briefen an Franz und Maria Marc. Die wenigen Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung, bei der Zeichensetzung, bei Pluralbildung und anderen grammatischen Strukturen (Kasus-Bildung, Präpositionen) wurden unverändert beibehalten. Randbemerkungen wurden, wo möglich, in den Text integriert. Von Bloch selbst verbesserte Fehler und vorgenommene Änderungen wurden in der Regel nur in der korrigierten Version übernommen, Ellipsen vereinheitlicht. Unterstreichungen und Publikationen wurden wie in Sidonie Nädhernys Briefen behandelt, d.h. kursiv gedruckt. Eckige Klammern wurden wie folgt eingesetzt: Unleserliches Wort [ ] Fehlendes Wort [sie] Überflüssiges Wort (z.B. zweimal reflexives "sich" [sich] Wort kann nicht eindeutig entziffert werden [ ] 7 4 Bloch an Emy Pollinger, Februar 1937, Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. Blochs Hervorhebung 46 Blochs Briefbeilagen, bestehend aus eigenen Gedichte und Erläuterungen zu Übersetzungen, wurden als wichtiger Bestandteil der Korrespondenz ebenfalls mit aufgenommen. Der Briefwechsel stellt das ausführlichste Zeugnis der persönlichen Beziehung Sidonie Nädhernys zu Karl Kraus aus ihrer Sicht dar. Bloch geht in seinem schriftlichen Dialog mit Nädherny wie in keinem anderen Briefwechsel, j a wie in keiner anderen schriftlichen Aufzeichnung, auf sein Verhältnis zu Karl Kraus ein. Die Korrespondenz ist also nicht nur eines der wichtigsten biographischen Zeugnisse Nädhernys, sondern vermittelt auch ein deutliches Bild Blochs. Die bis jetzt so gut wie unerschlossen gebliebene Korrespondenz verdient es daher besonders, der Kraus- und Bloch-Forschung zugänglich gemacht zu werden. 47 Sidonie N ä d h e r n y vor d e r B e g e g n u n g mit Kar l K r a u s Über Sidonie Nädhernys Leben liegt keine zusammenhängende Untersuchung vor. Das Interesse der Literaturwissenschaft richtete sich bisher auf ihre Rolle als Gefahrtin des Gesellschaftskritikers Karl Kraus und aristokratische Freundin des Dichters Rainer Maria Rilke. Als eigenständiger Mensch fand sie, wie die Mehrheit der Frauen im Leben bedeutender Persönlichkeiten, wenig Beachtung. 7 5 Die frühe Entwicklung Nädhernys blieb in der Darstellung ihrer Beziehung zu Kraus und Rilke bisher so gut wie unberücksichtigt, obwohl sich gerade in dieser Lebensphase Eigenschaften entfalteten, die wichtige Aufschlüsse über ihr späteres Verhältnis zu beiden Dichtern zuläßt. Deshalb wird hier Sidonie Nädhernys Entwicklung bis zu ihrer Begegnung mit Karl Kraus im Jahre 1913 kurz nachgezeichnet. Die im Staatsarchiv Prag aufbewahrten Familienbriefe, persönlichen Tagebücher, Reisetagebücher und Notizhefte über Konzert- und Theaterbesuche, Lektüre und 7 5 Der zweite Band von Karl Kraus. Briefe an Sidonie Nädherny enthält die gründlichste Untersuchung zu Sidionie Nädhernys Leben und ihrer vielschichtigen Beziehung zu Karl Kraus. Siehe dazu BSN2, 25-42. Neben dem Lebensabriß gibt es zahlreiche Informationen in den Anmerkungen zu den Briefen. Die folgenden Arbeiten geben ebenfalls Aufschluß über einzelne Aspekte von Sidonie Nädernys Leben. Rilke, Briefe an Sidonie Nädherny. Alfred Pfabigan "Wer war Sidonie Nädherny?" in: Literatur und Kritik Österreichische Monatsschrift 83 (April 1974): 137-39. Jirf Tywoniak, "Rainer Maria Rilkes Briefe an Johannes Nädherny von Borutin (1907-1911)," Blätter der Rilke-Gesellschaft 13 (1986): 9-28, bes. 9-13. Webhofer [Wimmer], "Zur Rezeption von Karl Kraus. Der Briefwechsel aus dem Nachlaß Albert Bloch - Michael Lazarus - Sidonie Nädherny. Elke Emrich, "Karl Kraus, Rainer Maria Rilke und Sidonie Nädherny von Borutin," Text und Kontext (Wiesbaden: Steiner, 1985): 261-84. Dieser Artikel porträtiert jedoch keine ausgewogene Darstellung des Kraus-Nädherny- Beziehung. Edward Timms, Karl Kraus: Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna (New Haven: Yale University Press, 1986) 250-69, besonders 250-53. Joachim W. Storck, "Rilke und Karl Kraus," in: Literatur und Kritik 211/212 (Februar/März 1987): 40-54. Jaromir Louzil "Der Lebensabend der Sidonie Nädherny von Borutin in ihren Briefen an Vaclav Wagner," in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Matrin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 41(1992): 19-29. Otto Rauchbauer, "Sidonie Nädherny, Karl Kraus, Max und Gillian Lobkowitcz und die Familie Somerville: Einige Anmerkungen zu Begegnungen und Beziehungen," in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 14 (1995): 37-42. Sidonie Nädherny, Chronik über Vrchotovy Janovice: Nachdem Typoskript aus dem Nachlass, Hrsg. Friedrich Pfäfflin (Marbach: Selbstverlag, 1995). 48 Kunststudien vermitteln eine Vorstellung von Nädhernys Kindheit und Jugend, vom Milieu des böhmischen Landadels, in dem sie aufwächst, von ihren umfangreichen Reisen, künstlerischen und literarischen Interessen sowie ihrer Beziehung zu Kraus und Rilke. Eine umfangreiche Sammlung der zwischen 1897 und 1913 an ihren Bruder Johannes geschriebenen Briefe ermöglicht es, Sidonie Nädhernys Entfaltung vom temperatmentvollen, phantasiebegabten elfjährigen Kind zum sich heftig auflehnenden Mädchen zu einer jungen Frau, die sich—innerhalb ihrer eigenen Gesellschaftsklasse—keinerlei Schranken auferlegt noch auferlegen läßt, nachzuvollziehen. 7 6 Sidonie Nadherny von Borutin wird am 1. Dezember 1885 aufschloß Janovice in Böhmen ca. 65 km südlich von Prag geboren. Die Kindheit ist verdüstert durch den frühen Tod des Vaters, Ritter Karl Nadherny von Borutin (1849-1895), den sie als Neunjährige verliert. Die frühen Jahre verbringt Sidie in enger Verbundenheit mit ihren Brüdern, dem um knapp zwei Jahre älteren Lieblingsbruder Johannes (1884-1913) und dem Zwillingsbruder Karl (Charlie, 1885-1931). Die Mutter, Amalie Nadherny, geb. Freiin von Wiesenberg (1854-1910), die Krankheit und Tod des Ehemanns verwinden und sich mehr und mehr um die Belange des Gutsbesitzes Janovice kümmern muß, überläßt die Erziehung der drei Kinder, wie in ihrer Gesellschaftsklasse üblich, weitgehend der seit 1885 bei der Familie lebenden irischen Gouvernante Mary Cooney. Die eher unbedeutende Rolle der Mutter in der Entwicklung der Geschwister zeigt sich in deren Sprachentfaltung: Sie kommunizieren zeitlebens untereinander nur in der englischen Sprache, die Sidonie 7 6 Sidonie Nädhernys Familienbriefe, Tagebücher, Reisetage- und Notizbücher befanden sich bis vor kurzem im Staatsarchiv Prag, Forst- und Landwirtschaftliche Abteilung und der Zweigstelle des Staatsarchives in Beneäov, Tschechische Republik. 49 Nädherny später in einem Brief an Bloch als die Sprache ihres Herzens bezeichnet. Der herzliche und natürliche Ausdruck des englischen Briefwechsels der Geschwister untereinander und mit Mary Cooney unterscheidet sich auffallend von Amelie Nädhernys archaischem, unpersönlichem deutschen Briefstil, dessen Freudlosigkeit durch ein Briefpapier mit schwarzem Trauerrand, das Amalie Nädherny nach dem Tod des Ehemanns zu benutzen pflegte, noch betont wird. Amelie Nädhernys Deutsch basiert auf einer für die Region typischen dürftigen Sprachgrundlage, gesprochen von einer isolierten deutsch­ böhmischen Minderheit, die entfernt vom deutschen Sprachraum der natürlichen Weiterentwicklung der Sprache nur begrenzt und verspätet ausgesetzt ist. Das abgelegene Schloß Janovice ist von einer die Landessprache Tschechisch sprechenden Dorfbevölkerung umgeben. Für die Geschwister Nädherny ist die Zweisprachigkeit auch ein Ausweg, die eng gesteckten Grenzen der deutschen Sprache in Böhmen zu überwinden. Das Englisch Sidonie Nädhernys, das sich in den formativen Jahren nur an den Sprachgepflogenheiten der Irin Mary Cooney bilden kann, zeigt ähnliche Beschränkungen. Wie sie Albert Bloch später erklärt, ist sich Sidonie Nädherny, die auf ausgedehnten Reisen Gelegenheit hat, ihre italienischen und französischen Sprachkenntnisse anzuwenden, einer Muttersprache nicht 78 bewußt. Ihre in der Literaturforschung immer wieder hevorgehobenen Eigenheiten im deutschen und englischen Sprachgebrauch, deren sie sich bewußt war und die sie auch mit 70 Bloch diskutierte, lassen sich vor diesem Hintergrund erklären. 7 7 SN an AB, 30. Januar 1948. 7 8 SN an AB, 30. Januar 1948. 7 9 Nädhernys sprachlichen Eigenheiten werden in den unter Anmerkung 75 aufgeführten Abhandlungen z.B. von Pfäfflin, Timms und Rauchbauer aufgegriffen. Siehe auch S. 44. 51 Sidonie Nadherny ist bereits als Kind standesbewußt und identifiziert sich mit ihrer Gesellschaftsklasse. In einem Brief an den Bruder Johannes schreibt die Zwölfjährige: Do you know, the eldest son of Hilda Strochwitz married a "Tabak Trafik Verkäufer in" , . . . he told it to a great lot of people and to all his friends and relations; he does not want to own that he has a brother and two sisters; his parents do not proclaim him no more as their son; don't you find it all very funny? Think, a "Tabak Trafik Verkäuferin" to be a Countess. I think he must have very common blood, dont you? Das Kind nimmt die Bezeichnung "Tabaktrafikverkäuferin" wörtlich. Der Begriff war jedoch eine gängige herabwürdigende Bezeichnung für eine Frau aus einer niedrigeren Gesellschaftsschicht und impliziert gleichzeitig einen fragwürdigen Lebenswandel. Auch wenn das Kind den Ausdruck "Tabaktrafikverkäuferin" nicht in seiner Tragweite versteht, kann man aus der Passage deutlich ersehen, daß Familienrücksichten und Standesbewußtsein früh selbstverständlicher Teil von Sidonie Nädhernys Weltbild sind. Die Briefpassage entstand, bevor Amalie Nadherny und ihre Kinder im Mai 1898 in den österreichischen Freiherrnstand erhoben wurden. Die Erhebung berechtigte Sidonie Nadherny, den Titel Baronesse zu führen, und trug zur Verstärkung ihres Klassenbewußtseins bei. 8 1 Sidonie Nadherny wächst als sportlich aktives, naturverbundenes junges Mädchen auf. Sie reitet, spielt Tennis, läuft Ski und Schlittschuh j a g t und fischt, ist als Kind nicht den für Mädchen ihrer Zeit üblichen Zwängen ausgesetzt und kann sich frei entfalten. In einem 8 0 SN an Johannes Nädhern^, 29. Januar 1898. Die Briefe Sidonie Nädhernys an ihren Bruder Johannes werden im Staatsarchiv Prag, Zweigstelle BeneSov aufbewahrt. 8 1 Zur Familiengeschichte der Nädhernys siehe BSN2, 26-27 und Sidonie Nadherny, Chronik über Vrchotovy Janovice. Siehe Anmerkung 75. 52 Album des Bruders Johannes beantwortet sie die Frage: "Worin bist Du am geschicktesten?' ' mit "in allen Sports" und die Frage: "Worin bist Du am ungeschicktesten?" mit "in Handarbeiten" und ihre "Idee vom Glück" ist es, "Die beste Sportsdame zu se in . " 8 2 In demselben Album beantwortet sie die Frage nach ihrer "unüberwindlichen Abneigung" mit "gegen Juden," deutlicher Hinweis auf die antisemitische Grundhaltung des reaktionären böhmischen Landadels, die sie als Kind übernimmt und Zeit ihres Lebens nicht überwindet. Die Situation der jungen Sidonie ändert sich von Grund auf, als ihre heranwachsenden Brüder mit dem zwölften Lebensjahr das Zuhause verlassen, um in Prag das Gymnasium zu besuchen. Der Unterschied in der Erziehung von Mädchen und Jungen wird ihr jetzt stark bewußt. Sie wird nach dem Brauch der Zeit zu Hause unterrichtet, fühlt sich eingesperrt und beengt und beneidet die Brüder um ihre vermeintliche Freiheit. Die zwölfjährige Sidie schreibt an den unter Heimweh leidenden Bruder Johannes in Prag: "You wrote, that you are sad, nonsen[s]e! You are happy; on Sunday you go to Aunt Adele & the next to the jolly Ringhoffers; I do not go even to the Devi l . " 8 3 Ihr Drang auszubrechen manifestiert sich in einer wachsenden Auflehnung gegen die in der Tradition verwurzelten, ausschließlich von praktischen Erwägungen geleiteten Mutter, die der temperamentvollen Tochter wenig Verständnis entgegenbringen kann. Die problematische Beziehung zwischen Mutter und Tochter wird durch Mary Cooney, die die Autorität von Amelie Nädherny auf subtile Weise untergräbt, vertieft. Der in Prag und Heidelberg studierende Bruder Johannes ist in den Übergangsjahren Freund, Verbündeter und Lehrer. Er versorgt die jüngere Album Johannes Nädhern^, Staatsarchiv Prag, Zweigstelle Beneäov. 83 SN an Johannes Nädhern^, 18. Januar 1898. 53 Schwester mit Lesestoff, führt sie in Kunst und Literatur ein und ist die Verbindung zur als faszinierend empfundenen Außenwelt, von der sie bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr weitgehend abgeschirmt ist. Mit Sidonie Nädhernys achtzehntem Geburtstag verläßt Mary Cooney den Dienst bei den Nädhernys und Sidonie bleibt allein mit der Mutter auf Janovice zurück. Sie liest ohne Anleitung klassische und zeitgenössische Literatur, darunter Werke von Thomas und Heinrich Mann, Hauptmann, Wedekind und Schnitzler. Auch Werke zeitgenössischer Autorinnen, wie Gabriele Reuters Aus guter Familie, Helene Böhlaus Sommerbuch, Clara Viebigs Das Weiberdorf und Ricarda Huchs Seifenblasen nehmen einen breiten Raum ein. Sie liest nicht nur Bücher moderner deutscher Autoren, sondern z.B. auch Flauberts Madame Bovary, Ibsens Nora oder Ein Puppenheim und Die Stützen der Gesellschaft sowie Oscar Wilde's Salome. Bei der Formung von Nädhernys Weltbild spielt die Literatur vor allem wegen des Mangels an Kontakten zur Außenwelt eine überdurchschnittliche Rolle. Einerseits erkennt sie den Wahrheitsgehalt zeitkritischer Werke, die sich mit Problemen der Frau in der Gesellschaft befassen, andrerseits entwickelt sie ein vollkommen unrealistisches Lebensbild. Einer Figur wie Agathe aus dem Roman Aus guter Familie bringt sie Mitleid, Nora aus Ein Puppenheim Verständnis entgegen. Nur ihrer Sexualität lebende Frauengestalten wie Ute Ende in Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe und Lulu in Wedekinds Die Büchse der Pandora werden bewundert und erhalten Vorbildcharakter. Sie schreibt an Johannes: "Why / am against legal marriage, is because love may be no contract & never a duty! Love is born in freedom only, & in freedom only keptl"*5 Die Übereinstimmung mit literarischen Vorbildern läßt sich in dieser und anderen 8 4 Lektüretagebücher SN. Lektüretagebücher und persönliche Tagebücher Sidonie Nädhernys werden im Staatsarchiv Prag aufbewahrt. 54 Briefpassagen kaum übersehen.In einem Brieftagebuch beschreibt Sidonie Nädhern^ rückblickend ihre Kindheit und Jugend: I grew up in Janovice with my mother, surrounded by 2 governesses. When I was 18 I remained alone with my mother. I had passed the last years with much study. It lies in my blood to dedicate myself entirely to whatever I do. So with 18 science seemed to me the most sacred thing, knowledge the highest aim, art the sweetest sublimest essence of everything around me. I yearned for it. I felt it as true inner culture. - University was not granted to me. Society seemed empty and dreary to me. Mamma agreed to travel with me. I drank art with a hot longing & enjoyed as natural consequence na tu re . . . My childhood and first youth were not gay; it was full of passionate longing [no one] could understand. I was restless but I was always strong 8 6 Ihre Bemerkung, daß ihr die Gesellschaft langweilig und leer erscheint, bezieht sich auf ihre eigene Gesellschaftsklasse, die bis zur Begegnung mit Karl Kraus—mit Ausnahme von Rilke, der selbst der Aristokratie näher stand als dem Bürgertum—ihren einzigen Umgang bildet. In den Jahren 1905 bis 1907 unternimmt die junge Sidonie in Begleitung ihrer Mutter längere Reisen nach Italien, Deutschland, Frankreich, Holland und Belgien, auf denen sie vor allen anderen Sehenswürdigkeiten die Kunstmuseen interessieren, in denen sie sich oft tagelang aufhält. Die unterschiedlichen Ambitionen von Mutter und Tochter ließen 8 5 SN an Johannes Nädherny, 15.-16. 12. [o.J.] 86 Tagebucheintrag Sidonie Nädherny, 24. Mai 1911. Im Folgenden werden Tagebucheinträge Nädhernys unter TBSN zitiert. 55 sich kaum miteinander vereinbaren. Aus Berlin schreibt Sidonie an Johannes: "Conta is now with his Auto in Venice, Padua, Verona, Meran, sends daily cards or letters M[amma] talks daily of him & lets drop sharp remarks, why I don't want to think of marriage, which I i gno re . . . " Bei dem erwähnten Conta könnte es sich um Graf Carl Guicciardini gehandelt 88 haben, mit dem Nadherny später mehrmals die Ehe in Erwägung zieht. Die Überwindimg der 1908 in die Selbständigkeit mündenden Konflikte mit der Mutter beschreibt Sidonie Nadherny in ihrem Brieftagebuch: . . . I have a strongly independent nature. [No one] believes how I suffer by the mere thought of any check or command or "Druck" . . . Well, so at last, after horrible inner struggles, after much pleading, I gained from mamma a certain independence. 89 . . . I gained a yearly apanage & could come and go as I liked Die zweiundzwanzigjährige Sidonie empfindet den Schritt in die Unabhängigkeit als ungeheure Erleichterung. Sie schreibt an Johannes: "Behind me all the nasty bonds, joy & 90 life before me, free, free at lastl And with a leaping h e a r t . . . on to your land! Italy!" Besonders aufschlußreich für ihre spätere Beziehung zu Kraus ist die Bemerkung, wie sie unter jeder Art Zwang und Druck fast körperlich leidet. Sobald Kraus sie mit seinen Forderungen zu erdrücken droht, reagiert sie entsprechend mit Flucht, sobald sich Kraus zurückzieht, ist sie imstande sich ihm wieder zu nähern. 8 7 SN an Johannes Nadherny, 5. April 1907. 8 8 Siehe dazu auch Anmerkung 113. 8 9 TBSN, 24. Mai 1911. 9 0 SN an Johannes Nadherny, 8. April 1908. 56 Bei der Formung von Nädhernys Weltbild treffen also mehrere Faktoren zusammen. Die soziale Stellung ermöglicht eine privilegierte Kindheit. Den für Mädchen ihrer Zeit üblichen sozialen Zwängen ist sie erst relativ spät ausgesetzt. Dies fordert die Entwicklung eines normalen Dranges nach Selbständigkeit, den sie weder als junges Mädchen noch als der Pubertät entwachsene junge Frau ausleben kann. Durch die Isolation auf Janovice und das Fehlen des Vaters erfolgt eine übertriebene gefühlsmäßige Bindung an den künstlerisch und literarisch interessierten Bruder Johannes. Das gespannte Verhältnis zur Mutter in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs schließt eine Identifikation mit ihr als Frau aus. Ein Universitätsstudium, das ihre weitreichenden literarischen und künstlerischen Interessen vielleicht in produktive Bahnen gelenkt hätte, war ihr versagt. So entwickelt sie ein realitätsfernes, rein ästhetisch ausgerichtetes Lebensbild. Von Männern geschaffene, nur ihrer Sexualität lebende exotische literarische Frauengestalten erhalten Vorbildcharakter und beeinflussen Sidonie Nädhernys Selbstverständnis als Frau nachhaltig. Sidonie Nädherny steht mit ihrem uneingeschränkten Freiheitsdrang und ihrem Aufbegehren beispielhaft für viele junge adlige Frauen um die Jahrhundertwende, die versuchen, sich der gesellschaftlichen Fesseln zu entledigen. Man denke zum Beispiel an die Schriftstellerin Lou Andreas-Salome, die Nietzsche, Freud und Hauptmann nahestand und als reife Frau mit dem jungen Rilke liiert war und mit ihm zeitlebens befreundet blieb. Franziska Gräfin zu Reventlow verarbeitete ihr rebellisches Aufbegehren in ihrem autobiographischen Roman Ellen Olestjerne. Auch die dem Großbürgertum entstammende Musikerin Alma Mahler-Werfel, die mit dem Komponisten Gustav Mahler, dem Architekten Walter Gropius und dem Dichter Franz Werfel verheiratet, mit dem Maler Oskar Kokoschka liiert und dem Maler Gustav Klimt befreundet war, gehört in die Gruppe 57 nonkonformistischer Frauen. Die mit Kraus und Nadherny befreundete Mechtilde Lichnowsky war nicht nur schriftstellerisch tätig, sondern komponierte Musik zu Kraus- Gedichten, zeichnete und führte als Frau des österreichischen Botschafters in London einen bekannten Salon. 9 1 Sidonie Nädhernys Jugendfreundin Dora Pejacsevic gilt heute als eine der bedeutendsten kroatischen Musikerinnen ihrer Zeit . 9 2 Diese Frauen waren, wie Sidonie Nädhenry, keine Frauenrechtlerinnen. Sie beteiligten sich nicht aktiv an der Frauenbewegung der Jahrhundertwende, deren Zielsetzung die Gleichstellung der Frau in Gesellschaft, Beruf und Familie war. Ihre privilegierte soziale Stellung machte dies wenig erforderlich, da sie finanziell unabhängig waren. Der Abstand zu den bürgerlichen Schichten oder gar zum Proletariat war zu groß, um ein Solidaritätsgefühl mit diesen Frauen entwickeln zu können. Sidone Nadherny erkämpfte sich Bewegungsfreiheit und sexuelle Freiheit und entsprach damit dem Wunschbild von Karl Kraus, der die Frau idealisierte und in ein sexuelles Fabelwesen stilisierte, der bürgerlichen Frauenbewegung dagegen vollkommen verständnislos, ja feindlich, gegenüberstand. Sidonie Nadherny hatte, wie in ihrem Milieu üblich, keinen Beruf. Sie war weder Künstlerin noch Schriftstellerin, weder Frauenrechtlerin noch Ehefrau und Mutter. So fand die verwöhnte junge Frau in ihrer zügellosen Leidenschaftlichkeit und ihrem Bestreben nach unbegrenzter Freiheit kein Gegengewicht, das ihr Leben in eine erstrebenswerte Richtung gelenkt hätte. Die errungene Freiheit verpuffte nach einiger Zeit ins Nichts, was sich in einem Gefühl der inneren Leere und Kälte, das durch den unzeitgemäßen Tod des Bruders Johannes noch verstärkt wurde, und einem 9 1 Zu Mechtilde Lichnowsky siehe Mechtilde Lichnowsky: 1879-1958, Hrsg. Ulrich Ott, Marbacher Magazin 64 (Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 1993). 9 2 Zu Dora Pejacsevics Beziehung zu Nädhern^ und Kraus siehe Koraljka Kos," Die kroatische Komponistin Dora Pejacsevic und ihre Beziehung zu Karl Kraus," in: Kraus Hefte 9: 2-7. Pejacsevic (1885-1923) und SN waren von 1896 bis zu Pejacevics Tod 1923 eng befreundet, siehe BSN2, 123. 58 rastlosen Reisefieber manifestierte, das später sowohl Rilke als auch Kraus an ihr bemängelten. Rilke, der Sidonie Nädherny als junge Frau nachhaltig in ihrem Kampf um Selbstbestimmung bestärkte, betonte, daß die äußerlich erkämpfte Freiheit mit einer inneren Entwicklung einhergehen sollte, "daß man nur in sich zu leisten hat, was man außerhalb meint durchsetzen zu können; daß nicht die Hände die Kerkerthüren aufbrechen dürfen (um 93 hernach, blutig und frei, nicht mehr zu wissen, was sie w o l l t e n ) . . . " Sidonie Nädherny hatte Rilke im April 1906 im Atelier von Auguste Rodin in Mendon-Val-Fleury auf ihrer ersten Paris-Reise kennengelernt. 9 4 Die Briefe Rilkes von an Sidonie Nädhenry geben wichtige Aufschlüsse über diese Freundschaft. 9 5 Im November 1907 findet Rilkes erster von drei Besuchen auf Janovice statt, über den er sich wie folgt äußert: Wie gut hat der Nachmittag in Janovice mir gethan mit Allem. Ich war innen so froh, wie mans sonst nur in der Arbeit ist. Was würde ich mitnehmen hätt ich nicht diese Erinnerung? Und denken Sie, daß es eigentlich die erste Stelle in der Heimath war, die sich mir aufthat um meiner selbst willen; von Janovice aus erkannte ich wieder Rainer Maria Rilke, Briefe an Sidonie Nädherny von Borutin, Hrsg. Bernhard Blume (Frankfurt: Insel, 1973), Brief vom 14. Oktober 1908. Rilkes Hervorhebung. 9 4 Über den Besuch bei Rodin schrieb SN in ihr Tagebuch: "Am 26. IV. [1906] nachm. nach Mendon gefahren, zu Rodin 's Villa, die klein u. Ziegelbau, doch aus seinem kl. Museum herrl. Blick ins Seinetal, durch eine Insel in 2 Arme geteilt, die Ufer Anhöhen. Rodin selbst, klein u. alt, schweigsam, s. freundlich, blaue gütige, vertrauensvolle Augen, freudvolles Lachen, begrüsste uns, kam dann noch einmal u. führte uns in sein Arbeitszimmer, uns die Büste Bern. Shaw's zu zeigen, die eben in Arbeit u. man in den Zügen den Ironischen, Phantastischen (wie R.[Rodin] meinte) liest. (R. [Rodin] lachte u. meinte, Shaw sei s. unterhaltend, spiele nur m. seinem Geist u. man oft n. wisse, ob er meint, was er sagt.) Die Werke teils in Marmor, teils Gips, zeigte ein jung. Herr, Schriftsteller, u. machte zu jedem äusserst feine Bermerkungen... " s. teilweise BSN2, 121, und Jiri Tywoniak, Janovicky zämek v kulturnich dejinäch, " (Prag: Spornik, 1994) 29. Nädhernys Hervorhebungen. 9 5 Sidonie Nädhernys Briefe an Rilke vor April 1915 gelten als verschollen. Ihre späteren unveröffentlichten Briefe an Rilke konnten für diese Arbeit nicht eingesehen werden. 59 das heimatliche Land und empfand es in seiner schlichten Schönheit ohne von den 96 vergangenen Zusammenhängen länger verwirrt zu sein.—Dank. Auch seiner Frau, Clara Rilke Westhoff, beschreibt Rilke den Eindruck dieses Besuches: . . . von Janovic wäre viel zu erzählen. Schon die Wagenfahrt durch den verglasten harten Herbstnachmittag und das naive Land war so schön . . . Und plötzlich glitt man . . . in ein Parktor, und es war Park, alter Park, und kam ganz nahe an einen heran mit seinem feuchten Herbst. Bis nach mehreren Wendungen, Brücken, Durchblicken, durch einen alten Wassergraben abgetrennt, das Schloß au f s t i eg . . . Die Baronin, die verwitwet ist, blieb (es war Allerseelentag) zurückgezogen; die schöne Baronesse (die wie eine Miniatur aussieht, welche ein Jahr vor der großen Revolution gemacht worden ist, im letzten Augenblick) kam mir mit ihren beiden sehr sympathischen jungen Brüdern auf der Schloßbrücke entgegen; wir gingen durch den Park; als es schon dämmerte, durch das merkwürdige Schloß (mit einem unvergeßlichen Speisesaal), während zwei Diener mit schweren Silberarmleuchtern in die tiefen Gemächer wie Höfe hineinleuchteten. So blieben wir ganz unter uns und (was bei der Kürze der Zeit besonders angenehm war) tranken schließlich Tee (wozu es Ananasscheiben gab) und waren gerne beisammen, jeder des andern froh. Es war ein bißchen wie eine Kindergesellschaft, nur daß es keine Großen gab und man die Spielzeugschachteln innerlich aus- und einpackte . . . 9 7 Rilke erinnert diesen Besuch immer wieder und zeichnete 1912 folgendes Bild von Janovice: 9 6 Rilke, Briefe an SN. Brief vom 4. November 1907. 9 7 Rilke, Briefe, Hrsg. Rilke Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Karl Altheim (Wiesbaden: Insel, 1950) 209 f. 60 Janowitz, wie hab ich's mir doch zu Herzen genommen. Es kommt viel in meinem Innern vor. Schriebe ich Hieroglyphen, so verhielte es sich so: das Sidonienzelt mit Phlox rechts und links — bedeutet: Ruhe. Ein Weg, grasüberwachsen, auf der einen Seite Mauer, auf der anderen Obstbäume voller Äpfel, im Rasen stehend — heißt Freude. Flaches Gemüseland, von Hecken umrahmt, mit kleinen Wegen, Wasserläufen, einem kleinen runden Schöpfteich in der Mitte und unaufhörlichem Himmel über sich — : ist "Freiheit" oder "Glück" zu lesen, die Bedeutung ist nicht 98 ganz wiederzugeben, (obwohl sie, ihrem Inhalt nach, völlig rein und sicher ist)." Nädherny und Rilke standen sich zwischen 1907 und 1910, der Zeit von Nädhernys Weg in die Unabhängigkeit, und 1913, dem Zeitpunkt von Johannes Nädhernys Tod und ihrer Begegnung mit Kraus, besonders nahe. Diese Jahre sind die intensivste Zeit ihres 99 Briefwechsels, in diese Jahre fallen die längeren Begegnungen. Rilkes dreiwöchiger Aufenthalt auf Janovice im Sommer 1910 kurz nach Amelie Nädhernys Tod ist ein Höhepunkt ihrer Freunschaft. Rilke liest aus seinen Gedichten und dem Malte Laurids Drigge. Auch Werke von Hölderlin, Kleist, Hofmannsthal, Stifter und Keller werden diskutiert. Sidonie spielt fur Rilke Klavier, vor allem Werke von Bach und Chopin. Sie unternehmen Spaziergänge und Ausfahrten in die Umgebung und halten sich viel im Park auf. Rilke schreibt auf Janovice zwei Gedichtentwürfe: "Ein rarbegangner Pfad"und "Vom 9 8 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 8. März 1912. 9 9 Die folgenden Begegnungen von Rilke und Nädhem^ lassen sich nachweisen: 26. April 1906, Paris. 2. November 1907, Janovice. März 1910 Rom, August/September Janovice. 1911 Janovice/Prag. 1912 München. Mai 1913 Paris. Oktober 1913 Hellerau. Jahreswechsel 1915/16 München/Wien. 1919 Schweiz. Die Begegnungen zwischen Rilke und Nädherny sind unter anderem aufgeführt in Ingeborg Schnack, Rainer Maria Rilke: Chronik seines Lebens und seines Werkes, 2 Bände (Frankfurt: Insel, 1975). 62 Wegrand ruht der Blick der blauen Rade/auf deinem aufgeschlagenen Vertraun . . Bereits im Februar 1909 hatte Rilke für Nädherny ein Mondgedicht geschrieben. 1 0 1 Nach Rilkes Abreise von Janovice im September 1910 fragt sich Sidonie Nädherny, ob sie Rilke liebe und verneint diese Frage: " . . . nein ich liebe ihn nicht, so sehr gut ich ihm auch b in . " 1 0 2 Auch wenn die Beziehung zwischen Nädherny und Rilke eine rein freundschaftliche bleibt, in welcher der um zehn Jahre ältere Rilke die brüderlich/väterliche Rolle des Beraters Ein rarbegangner Pfad, der zwischen Stellen Heide den Jungwald aufwärts führt zur Hügelschau. Hier ist kein Ruhm darinnen, daß man leide, die Blicke gehn, es reicht die Augenweide und nie sein Nichtsein fürchtend trocknet Tau. die starke Stille schwingender Insekten macht um dein Dasein keinen Unterschied. Wo sind die Forderungen, die dich schreckten? Dein Herz versammelt sich im Unentdeckten und in der Zukunft liegt das Lied. Janovice (Böhmen), Ende August 1910 Vom Wegrand ruht der Blick der blauen Rade auf deinem aufgeschlagenen Vertraun; in ihrem Sterne sammelt sich die Gnade und sehnt sich blau in ein Gesicht zu schaun. O Einfachheit der einstigen Gebreite, Kartoffelacker, Kleefeld, schmaler Rain, die Apfelbäume tragen dir zur Seite, am nächsten Hang erwartet dich die Weite und alles weilt und will beisammen sein. Janovice (Böhmen), Ende August 1910 Zitiert nach Rilke, Sämtliche Werke. Bd. 2. Gedichte. Hrsg. Rilke Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke bersorgt durch Emst Zinn (Frankfurt: Insel, 1955) 377. 1 0 1 Vergiß, vergiß und laß uns jetzt nur dies erleben, wie die Sterne durch geklärten Nachthimmel dringen; wie der Mond die Gärten voll übersteigt. Wir fühlten längst schon, wies spieglnder wird im Dunkel; wie ein Schein entsteht, ein weißer Schatten in dem Glanz der Dunkelheit. Nun aber laß uns ganz hinübertreten in die Welt hinein, die monden ist. Zitiert nach Rilke, Briefe an SN, Brief vom 7. Februar 1909. 63 und Vorbilds einnimmt, bewegt sie sich zeitweise im "Vorfeld der Erotik." Daß Sidonie Nadherny Rilke auf ähnliche Weise wie später Kraus in der Lyrik anregte, kann durch Rilkes Briefe belegt werden in Passagen wie der folgenden: " . . . und darum waren Sie mein liebster Zuhörer und mein leisester: der, den niemand sah und den ich doch vor allen andern dasein und horchen fühlte . . , " 1 0 4 Rilke, der selbst von der wohl intellektuellsten Frau seiner Zeit, Lou Andreas Salome, in seiner Entwicklung maßgeblich beeinflußt wurde und mit der kreativen Clara Westhoff verheiratet war, hatte wohl ein unverkrampfteres Verhältnis zu Frauen als Kraus, was sich auch darin zeigte, daß Rilke keine Hemmungen hatte auch materielle Hilfe von seinen Mäzeninnen anzunehmen. Er reduzierte Sidonie Nadherny nicht auf ihre Sexualität, wie es Kraus gerne tat, sondern unterstützte ihre Entwicklung als abgerundete Persönlichkeit: "Vielleicht können Sie selber nicht wissen, wie sehr Ihnen Ihr Leben schon g e h ö r t . . . Ich ahne, daß die Conventionen und falschen Rücksichten, alle die beirrenden und neidisch bindenden Zusammenhänge Ihnen nichts mehr anhaben können: so sehr ist, über sie fort Ihr Sein in Ihren Besitz geglitten." 1 0 5 Nach Erlangung der Selbständigkeit befreite sich Sidonie Nadherny allmählich auch gefühlsmäßig von ihrem Bruder Johannes. Die schon 1910 immer wieder aufflammenden Anzeichen seiner Krankheit hielten Sidonie Nadherny weder von ihren ausgedehnten Reisen und langen Aufenthalten in Italien ab, noch ließ sie sich von Johannes einschränken, der nach dem Brauch der Zeit nach dem Tod von Amalie Nadherny im Juli 1910 Vormund der unverheirateten Schwester 1 0 2 TBSN, 13. September 1910. 1 0 3 Pfabigan "Wer war Sidonie Nadherny?" Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift 83 (April 1974): 137-39, hier S. 138. 1 0 4 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 14. November 1907. 1 0 5 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 14. Oktober 1908. 64 geworden war. Sie schlüpfte auch nicht in die traditionelle Rolle der sich fur den kranken Bruder aufopfernden Schwester, als sich sein Zustand verschlechterte. Johannes wußte bis kurz vor seinem Tod wenig vom abenteuerlichen Leben der Schwester. Nach dem Tod der Mutter hatte Johannes Janovice allein geerbt, was in Sidonie ein Gefühl der Unbehaustheit und Verlassenheit auslöste. 1 0 6 Aus den zahlreichen Briefen an den Bruder aus dieser Zeit ist ersichtlich, daß sich ihr Verhältnis trotz innerer Befreiung und einiger Konflikte weiterhin sehr eng und herzlich gestaltete. Nachdem Sidonie Nädherny erfahrt, daß Blochs eigentliches Arbeitsfeld die Malerei ist, schildert sie ihm ihr Leben vor der Begegnung mit Kraus, in dem Kunst eine große Rolle spielte und Johannes lange eine zentrale Stellung eingenommen hatte: Also jetzt weiss ich endlich Ihr eigentliches Fach. Ich glaubte vielleicht Germanistik, wenn es so etwas gibt, u. dass Sie vielleicht Ihren Hörern die Sprache von K.K. erklären, oder vielleicht Dichtung. Wenn Sie von Malerei noch mehr als von Lyrik verstehen, muss dies unendlich viel sein, was ich auch an der Art Ihrer Kritik erkenne u. an der wohlthuenden Leidenschaft Ihrer Empörung. Kunst in jeder Form war das, wofür mein Bruder Johannes mit seither nie wieder erlebter Glut u. Begeisterung lebte. Seine Studien waren Philosophie und Kunstgeschichte gewesen u. da wir von jeher alles gemeinsam taten, dieselben Neigungen u. Interessen hatten, ist mir Malerei sehr vertraut. Wir jagten der Kunst nach in den verschiedensten Ländern Europas, in Italien wurden die kleinsten Dörfer besucht, um dieses oder Am 6. August 1910 schrieb SN in ihr Tagebuch: " . . . Ein Heim haben wir ja beide nun nicht mehr. Joh. kann ja nichts dafür." "Beide" bezieht sich auf SN und ihren Zwillingsbruder, mit dem sich SN im Winter 1912 eine Stadtwohnung in Prag einrichete. Siehe dazu Rilke, Briefe an SN, Brief vom 8. März 1912. Siehe auch Anmerkung 129 und 300. 65 Vieles mir Vertrautes und Geliebtes war ihm unbekannt, es gab eine Stelle in mir, die immer einsam blieb. Ich habe Ihnen dies erzählt, weil Sie mich dadurch besser kennen lernen u. Ihnen auch manches in den Briefen klarer sein wird. Vielleicht hätte ich heute nicht davon gesprochen, wenn mich nicht Ihr mir mitgeteiltes 107 Arbeitsfeld zurückversetzt hätte in Zeiten, wo Malerei eine grosse Rolle spielte. Die fortschreitende Krankheit Johannes Nädhernys hatte Sidonie Nadherny nicht von einer fünfmonatigen Reise nach Italien, Tunesien und Paris abgehalten, die sie am 1. Januar 1913 in Begleitung von Mary Cooney von München aus antrat, wo sich Johannes in 108 ärztlicher Behandlung befand. Zu diesem Zeitpunkt sah sie den Bruder zum letzten Mal. Nach der auf Anregung von Rilke unternommenen Tunesienreise, die sich direkt an den fast dreimonatigen Italienaufenthalt anschloß, reiste Nadherny nach Paris weiter. Dort verbrachte sie Zeit mit Rilke und Clara Westhoff Rilke, die mehrere Wochen an einer Büste Nädhernys arbeitete. 1 0 9 Die Nachricht vom Tod ihres Bruders, der sich in München am 28. Mai 1913 das Leben genommen hatte, erreichte Sidonie Nadherny in Paris. Rilke verstand, was Johannes für sie bedeutet hatte. Er schrieb an Marie von Thum und Taxis: "Sidie war in Paris, kam zu s p ä t . . . Er war für sie alles, durch ihn kam zu ihr, was dann zu ihrem Leben SN an AB, 2. März 1948. Daß sie noch 1948, also 35 Jahre nach dem Tod ihres Bruders von der Todesursache "Herzkrampf * spricht und die eigentliche Todesursache verschweigt, läßt deutlich darauf schließen, welch verheerende Wirkung dieses Ereignis auf ihr Leben hatte. 1 0 8 Nädhern^ korrespondierte mit ihrem Bruder während ihres Italienaufenthaltes regelmäßig. 1 0 9 Clara Rilke Westhoff, Schülerin von Rodin, war um dieselbe Zeit nach Paris gekommen, in der Hoffnung von Rodin eine Büste fertigen zu können. Als sich dieser Plan zerschlug, begann sie an Sidonie Nädhernys Büste zu arbeiten. Siehe Ingeborg Schnack, Rainer Maria Rilke: Chronik seines Lebens und seines Werkes, Bd. 1, S. 429. Schon in einem Brief vom 31. Mai 1911 sprach Rilke von dieser Möglichkeit. Rilke, Briefe an SN, Brief vom 31. Mai 1911. 67 wurde, konnte nur durch ihn kommen . . . " H 0 Wenige Monate zuvor, im November 1912, hatte sich bereits der beste Jugendfreund von Johannes, Charlie Vincenz, dem Sidonie zeitweise gefühlsmäßig nahestand, kurz nach einer längeren Begegnung mit den Geschwistern Nädherny in Italien aus unerklärlichen Gründen das Leben genommen. 1 1 1 Es ist unwahrscheinlich, daß die Serie empfindlicher Todesfalle, die in Sidonie Nädhernys Leben zwischen 1910 und 1913 eingriff, ohne Wirkung auf ihr weiteres Leben bleiben konnte. Nach etlichen flüchtigen Liebesabenteuern hatte Sidonie Nädherny im März 1911 in Rom einen jungen Adligen kennengelernt, der in ihren Tagebüchern als JR auf taucht . 1 1 2 Mit ihm unterhielt sie eine fast zweijährige Beziehung. JR war erst achtzehn, als ihm die fünftmdzwanzigjährige Sidonie begegnete. Er kam also für eine Ehe trotz standesgemäßer Herkunft nicht nur wegen des Altersunterschieds, sondern auch wegen seiner Jugend von vornherein nicht in Betracht. Es ist syptomatisch für Sidonie Nädhernys Persönlichkeitsstruktur, daß es ihr nur möglich war, einen für die Ehe ungeeigneten Partner uneingeschränkt zu lieben. Dies trifft auf JR und später vorübergehend auf Karl Kraus zu. Sidonie Nädhernys Tagebücher und ihre Briefe an Johannes Nädherny geben auch Aufschluß über die Beziehung zu Graf Carlos Guicciardini, mit dem sie nachweislich zwischen 1909 und 1913 mehrmals die Ehe in Erwägung zieht und dessen Werbung sie sich 110 Rainer Maria Rilke und Marie von Thum und Taxis. Briefwechsel. Hrsg. Emst Zinn (Frankfurt: Insel, 1951), Brief vom 11. 6. 1913. m B S N 2 , 29f. 1 1 2 Nach einer e-mail-Mitteilung von Friedrich Pfäfflin vom 24. Februar 1997 handelt es sich bei dem in den Tagebüchern Nädhernys und den Briefen von Kraus nur mit den Initialien auftauchenden JR um Josef Graf Rzyszczewski, geboren am 30.10.1893 in Dalsko Turisko Wolhynien, der ab 1916 in Leitmeritz in Böhmen stationiert war. Weitere Lebensdaten sind nicht bekannt. Nädhernys Begegnung mit JR in Rom im März 1911 ist in einem Tagebucheintrag dieser Zeit festgehalten. 68 jahrelang zu entziehen weiß. Aus keiner ihrer Bemerkungen über Guicciardini geht eine gefühlsmäßige Bindung hervor. Trotzdem ist es wichtig, diese langjährige Beziehung hier zu erwähnen, da sie vielleicht Sidonie Nädhernys Verhalten im Frühjahr 1915 und auch Charlie Nädhernys ablehnende Haltung gegenüber Karl Kraus verständlicher macht. Die einschlägige Literatur ignoriert die Tatsache, daß Sidonie Nadherny zur Zeit ihrer Begegnung mit Kraus mit dem italienischen Grafen so gut wie verlobt war. Kraus griff in eine bestehende Beziehung ein. Aus dieser Tatsache heraus läßt sich auch ein Tagebucheintrag kurz nach der Begegnung mit Kraus verstehen, in dem Nadherny von 1 1 3 Nädhernys Erwähnungen von Carlos Guicciardini in Briefen an Johannes Nädhern^ und in den Tagebüchern vor der Begegnung mit Kraus: 1) Brief an Johannes Nadherny vom 5. April 1907: " . . . Conta is now with his Auto in Venice, Padua, Verona, Meran, sends daily cards or letters M. talks daily of him & lets drop sharp remarks, why I don't want to think of marriage, which I ignore . . . " Da der Name Guicciardini oder die Abkürzung CG. in dieser Passage nicht auftaucht, kann nur vermutet werden, daß hier bereits Carlos Guicciardini gemeint ist. 2) Brief an Johannes Nädhern^ vom 6. April 1909: " . . . picked by the fair hands of a dainty Guicciardini in their garden " 3) Tagebucheintrag vom 6. August 1910. " . . . CG., ich entschliesse mich nicht mit sicheren Worten u. dadurch leidet er Ein Heim haben wir ja beide nun nicht mehr. Joh. kann ja nichts dafür.. .Doch CG. habe ich das Recht, ihn so lange warten zu lassen?" 4) Tagebucheintrag vom 18. September 1910: " . . . U. allein muss ich sein, irgendwie ganz allein, muss mich wieder zurechtfinden. Kopenhagen, dort wird es gut sein, das Meer, alles grau - u. still. Grosse Stille - die will ich u. die werde ich dort [haben]. Dann mag es, dann muss es nach Rom gehen . . . Gestern schrieb R.M.R. v. Paris, er gehe auf eine weite Reise. Heute schrieb der Prinz [Carlos Guicciardini] ich möge hinkommen. Werd' ich das? Ich fürchte ja . . . " 5) Tagebucheintrag vom 21. Januar 1911: " . . . u. dann nach Rom u. wann u. wie u. wessen wiederkommen? Ich frag es oft und bange..." Auf dieser Romreise lernte Sidonie dann JR kennen. 6) Tagebucheintrag vom 24. Januar 1911 :" . . . Von Rom schreibt man mir lieb und ungeduldig..." 7) Tagebucheintrag vom 31. Dezember 1912: " . . . Joh. we saw still in the evening . . . We [Sidonie Nädhern^ und Mary Cooney] left Munich at 10:40 . . . via Brenner, Verona, Bologna, Pistoria, where CG. stepped in to meet us . . . I had long talks with CG. - what is to become of me? . . . I never knew so little about myself..." 8) Brief an Johannes Nädhern^, 1. Januar 1913, Staatsarchiv Prag: " . . . Usella [Sitz von Carlos Guicciadini] turned out to be more charming & delicious than I ever thought, & it's master has deepened his heart, it is love & kindness itself... He recommended Rapallo so warmly for you." 9) Reisetagebuch: "30. 1. - 2.2. 1913 Capri "Auf der Herfahrt im Schiff unerwartet CG. getroffen, zus. schöne, wilde Bootfahrt... gemacht CG. u. ich i. Hotel Capri gegabelt." 10) Tagebucheintrag vom 16. Mai 1913: "No news from J.R. & many . . . from CG. who wants to come. . ." 69 "Sünde," "Betrug," "Reinheit" und "Treue" spr icht . 1 1 4 Diese Begriffe lassen erkennen, daß sie sich zu dieser Zeit nicht frei in ihren Entscheidungen fühlt, sondern gebunden, und daß sie die Beziehung mit Kraus in einen Konflikt stürzt, der trotz ihrer großen Trauer um Johannes nicht im Zusammenhang mit dem verstorbenen Bruder, sondern aus der Bindung an Carlos Guicciardini zu verstehen i s t . 1 1 5 Kraus und Nädherny lernen sich am 8. September 1913 in Wien kennen. Der geistig labile Cousin von Nädherny, Max Thun und Hohenstein, den sie im April 1920 heiraten wird, machte Kraus und Nädhern^ im Cafe Imperial in Wien miteinander bekannt . 1 1 6 Nädherny spricht in ihren ersten Tagebucheinträgen, so skizzenhaft sie sind, Themen an, die für die weitere Beziehung zu Kraus von Bedeutung bleiben: Cafehaus, Gespr. ü. Dichter, wie St. George, Rilke, Dehmel, Hoffmannst[h]al etc., m. Auto in die Adria Austell., K.K. allein zurück über Wüste gesprochen, Wunsch mich allein zu sehen, u. doch dabei zu sein - wie es dann war im Heiligenkreuzhof [sie] - Fiaker Praterallee, gleitende Sterne - nach 10 Min. gekannt - Helfen unmöglich - das Nichtheranlassen führt in Abgründe - wünschen etwas wünschen - wohin blickt diese Frau, warum kann man nicht dort sein - der Blick - die Stimme, klagend, hell u. doch kaum vernehmbar, verschollen - Einfluss auf Rilke's Gedichte - nichts für Sie, ich werde jetzt arbeiten - schweigende Versprechen 1 1 4 Tagebucheintrag vom 14. September 1913: "Retten wollen - da wird Sünde u. Betrug nur Reinheit, Gut-sein. Beides zu vermögen, muss man weiter, weiter - oh, da gibt es keine Grenzen, kein Genügen. Rücksichte, Denken, Feinheit, Treue - werden unmenschlich - menschlich nur die Bes[s]essenheit, die Sünde. Denn ich will die echte Versuchung, will tief erschüttert werden, um zu wissen, wie ich erlöst werden kann 99 (zitiert nach BSN2, 30-31). 1 1 5 In BSN2,31 wird dieser Eintrag als Skrupel gegenüber Johannes Nädherny interpretiert. 1 1 6 Siehe dazu BSN2, 35. 70 Reich eröffnet, neue Möglichkeiten. Wie wunderbar hat er das getan. - Ein Telegramm: Tiefen Dank. - " 1 1 9 Von welchem Reich spricht sie hier? Doch wohl von dem Reich der ungebundenen nur ihrer "Natur" lebenden Frau, die das Ideal von Kraus verkörpert. Zu Beginn ihrer Beziehung scheint Kraus von seiner Resonanz auf Sidonie fasziniert. Er schreibt z.B.: "Wie bin ich Ihnen dankbar fur meine Wirkung" (BSN1, 10) oder " . . . ich bin von Deinem Fieber geschüttelt. Liebste!" (BSN1,11). Kraus' erster Besuch auf Janovice findet am 27. November 1913 statt. Mit dem Freund Adolf Loos verbringt Kraus auch die Weihnachtstage und allein den Jahreswechsel 1913/1914 auf Janovice, wo Kraus sich wie 120 folgt ins Gästebuch einträgt: "Es ist alles gut in Ewigkeit. K.K. Janowitz Sylvester 1913." Der Begriff der "Ewigkeit" erscheint hier zum ersten Mal in Verbindung mit Nadherny. Er soll in den Widmungsgedichten später ein zentrales Motiv werden. 121 Im Dezember 1913 erfährt auch Rilke von der Beziehung Nädhernys zu Kraus. Er steht einer freundschaftlichen Verbindung zwischen Nadherny und Kraus zunächst positiv gegenüber, will sie auch für sich selbst nützen. Er bittet die Freundin, Kraus seinen Werfel- Aufsatz "Über den jungen Dichter" mit der Bitte um eine mögliche Veröffentlichung in der Fackel vorzulegen. Rilke und Kraus kannten sich seit einer Begegnung 1896 in Wien 1 1 9 TBSN, 19. September 1913. Zitiert nach BSN2, 31. 1 2 0 Dieser Eintrag ist als inneres Deckblatt abgedruckt in BSN1. 1 2 1 Die erste Erwähnung von Kraus in den Briefen an Nädhern^ erfolgt im Brief vom 13. Dezember 1913: "Karl Kraus . . . sagen Sie, daß ich mich seiner herzlich, ja liebevoll erinnere. Es mögen an die achtzehn Jahre sein, daß wir einander in Wien begegnet sind, und sein großer schauender Blick, hinter dessen reiner Prüfung eine so unbedingte Bereitschaft, einzusehen, - ein so reicher Wunsch, zuzustimmen, wartet -: dieser Blick ist mir noch immer eingeprägt, und ich hab ihn nie mit einem anderen verwechselt." Rilke, Briefe an SN, Brief vom 9. Dezember 1913. 1 2 2 Siehe Rilke, Briefe an SN, Brief vom "zweiten Weihnachtstage 1913." 72 persönlich. Sie verband die gemeinsame Bewunderung für Detlev von Lilienkron und eine Bekanntschaft mit Maximilian Harden. Berthold Viertel hatte in der Fackel Rilkes Malte Laurids Brigge positiv rezensiert, und Kraus war an Rilke mit der Bitte um einen Fackel- Beitrag herangetreten. Erst als Rilke nach einem Treffen von Nädherny und Kraus mit Clara Rilke Westhoff und einem Brief von Nädherny eine nähere Verbindung zu vermuten beginnt, fühlt er sich bemüßigt, ihr seine Einwände gegen eine nähere Beziehung zu Kraus darzulegen. 1 2 3 Rilke appelliert dabei an Nädhernys latenten Anti-Semitismus, der ihm zumindest seit Oktober 1913 bekannt ist, als sie zusammen den jungen Dichter Franz Werfel bei einer Theaterauffuhrung kennenlernten und wegen seiner jüdischen Physiognomie herabwürdigend behandelten. Rilke schreibt im Februar 1914 an Nädherny: . . . Ihr erster Br i e f . . . kam kurz nach einem von Clara . . . sie war glücklich über Ihr Dor t se in , . . . und, wie Sie richtig vermuthet haben, äußerst unzufrieden mit K[arl] K [ r a u s ] . . . . denn sehen Sie, liebe Sidie (bedenken Sie sein Leben, bedenken Sie das Ihre): er kann Ihnen nicht anders als fremd sein, ein fremder Mensch; ein Sie nahe angehender ausgezeichneter Schriftsteller; ein Geist, der auf den Ihren vom glücklichsten Einfluß sein kann, wenn . . . : die Distanz keinen Moment verloren geht, wenn Sie irgend einen letzten unaustilgbaren Unterschied, auch im Geistigsten noch, zwischen sich und ihm aufrechterhalten:.. . 1 2 4 Von dem von Rilke in einem früheren Schreiben an Nädherny propagierten Sich-lösen von "falschen Rücksichten und Conventionen," von "beirrenden und neidisch bindenden 1 2 3 Zur Kraus/Rilke-Beziehung siehe z.B. Joachim W. Storck, "Rilke und Karl Kraus," in: Literatur undKritiklUriU (1987): 40-54. Zu Rilkes Einstellung zu Politik, Faschismus und Judentum siehe Egon Schwarz, Das verschluckte Schluchzen: Poesie und Politik bei Rainer Maria Rilke, Reihe Wissenschaftliche Paperbacks Literaturwissenschaft (Frankfurt: Athenäum, 1972). 1 2 4 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 21 Februar 1914. Rilkes Hervorhebungen. 73 Zusammenhängen" ist jetzt nicht mehr die Rede. Im Gegenteil, jetzt legt ihr Rilke die Wahrung der Konventionen nahe. Nach einer längeren Schreibpause greift Rilke das Thema noch einmal auf, beschwört diesmal, genauso unterschwellig, den Geist von Johannes, ein Druckmittel, dessen sich später übrigens auch Kraus gern bei seinen Versuchen, Nadherny auf seine Seite zu ziehen, bediente: Wieviel auch ich über so viele Gedenktage hin bis zu dem schwersten Jahrestag, immer wieder in Gedanken um Sie war, können Sie begreifen und ich meine Sie müssens gefühlt haben; ich schrieb absichtlich nicht, fast war mir, als wärs zu 126 wörtlich gewesen, wo doch Unaussprechliches hin und wieder ging. Ob Rilkes Intervention gegen eine Kraus/Nädherny-Verbindung, die gerechterweise auch unter der Einflußnahme von Clara Rilke-Westhoff gesehen werden sollte, die von Kraus' Verhalten bei einem Zusammentreffen mit Nadherny und Kraus anscheinend betroffen war, tatsächlich eine Rolle spielte, ist schwierig zu beurteilen. 1 2 7 Es ist nicht auszuschließen, daß eine neutrale oder positive Haltung Rilkes Sidonie Nadherny eine Entscheidung für Kraus erleichtert hätte. Es scheint jedoch eher, als ob Karl Nädhernys ablehnende Haltung in der Zeit einer unmittelbaren Entscheidung im Sommer 1914 den Ausschlag gegeben hätte. Siehe Seite 64 dieser Arbeit. 1 2 6 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 3. Juni 1914. 1 2 7 Rilke schrieb auch Lou Andreas Salomö über Clara Rilkes Bedenken gegen Sidonie Nädhernys Verbindung mit Kraus: "Hörst Du manchmal von Sidie? - Karl Kraus ist viel bei ihr in Janowitz, was mich für Sidie, in ihrer Verlassenheit, freut, Clara, allerdings, merk ich, sieht es mit Mißbilligung und Unwillen an " Rainer Maria Rilke. Lou Andreas-Salome: Briefwechsel, Hrsg. Emst Pfeiffer (Frankfurt: Insel, 1975) 317. Siehe auch Friedrich Pfäfflin "Nachbemerkung zur Taschenbuchausgabe," BSN2, 411; Blume, Einleitung zu Briefe an SN bes. S. 17-20; Joachim W. Storck "Rilke und Karl Kraus," bes. S. 47-52. Siehe dazu auch S. 207-12 dieser Arbeit. 74 Im Winter und Frühjahr 1914 ist Kraus immer wieder für ein oder zwei Tage Gast auf dem böhmischen Schloß. Sidonie Nadherny ist ab und zu in Wien, besucht die Kraus- Vorlesungen. Kraus besucht Sidonie auch im Sommer 1914 auf Janovice, nur selten in Abwesenheit von Karl Nadherny. Im Juli unternehmen Kraus und die Geschwister Nadherny eine gemeinsame Fahrt durch die Dolomiten, wo sie vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht werden. Kraus verbringt im Anschluß an die Reise einige Tage auf Janovice, bevor er Mitte August nach Wien zurückkehrt. Seit dem Tod von Johannes Nadherny ist Karl Nadherny Besitzer von Janovice und quasi Vormund seiner unverheirateten Zwillingsschwester. Er sperrt sich mehr und mehr gegen das Zusammensein von Nadherny und Kraus, befürchtet, es könnte zu "Intimitäten" zwischen dem über vierzigjährigen Kraus und der achtundzwanzigjährigen Nadherny gekommen sein. Als Kraus Anfang September wieder auf Janovice erscheint, wird Karl Nadherny gegenüber Kraus zunehmend abweisend. Nadherny schreibt in ihr Tagebuch: "Chfarlie] is against dear K.K., it Kraus war vom 15. - 29. Juni auf Janovice. Am 13. Juli traten die Geschwister Nadherny mit Kraus eine Dolomitenfahrt an, die Karl Nädhemy nach Ausbruch des Krieges unterbrach. Im Anschluß an die Reise blieb Kraus bis 9. August auf Janovice und kehrte vom 18. August bis 23. August dorthin zurück. Siehe auch BSN2,32. 1 2 9 Daß zuerst Johannes Nadherny und nach dessen Tod Karl Nädhern^ Janovice alleine erbten, geht z.B. aus zwei Tagebucheinträgen Nädhernys hervor: 6. August [1910, nach dem Tod von Amalie Nadherny]: " . , . Ein Heim haben wir [Sidonie und Karl Nadherny] ja beide nun nicht mehr. Joh. kann ja nichts dafür..." und Tagebucheintrag SN vom 5. März 1934: "Alas that Ch. had Janow. written on his name alone, so he lost the grounds & I must pay now so much." Diese Eintragungen stehen im Widerspruch zu Nädhernys Aufzeichnungen in Chronik überVrchotovy Janovice: Nach dem Typoskript aus dem Nachlass, 31, wo es heißt: u . . . zum dritten Male fällt mir Janovice zu . . . " [d.i. nach dem Tod der Mutter, nach dem Tod von Johannes Nadherny' und nach dem Tod von Karl Nädhern^]. Sidonie Nädhern^ verfasste die Chronik im Jahre 1934, demselben Jahr aus dem der obige Tagebucheintrag stammt. Die widersprüchlichen Angaben lassen sich vielleicht aus der Privatsphäre des Tagebuchs und den für die Nachwelt bestimmten und bereinigten Aufzeichnungen in der Chronik erklären. Siehe auch Anmerkung 106 und 300. 76 is very sad. K.K. is here for the last time in this year; in the next I shall do it different. 130 C.G. [Carlos Guicciardini] fears to go to ba t t le . . . " Karl Nädherny sprach sich offensichtlich gegen eine Verbindung seiner Schwester mit Karl Kraus aus und untersagte ihr als Eigentümer von Janovice, Kraus für den Rest des Jahres dort zu empfangen. Nädherny wird wieder verstärkt bewußt, daß sie eigentlich kein Zuhause hat und daß sie auf Janovice kein unabhängiges Leben führen kann. Sie beschließt, eine Veränderung ihrer Situation herbeizuführen. Mit Guicciardini ist sie offensichtlich weiterhin in brieflicher Verbindung geblieben. Eine wenige Tage vor dem oben erwähnten Eintrag entstandene Tagebuchnotiz läßt erkennen, daß Nädherny sich im Grunde schon vor der Auseinandersetzung mit Karl Nädherny damit abgefunden hatte, keine langfristige Bindung mit Kraus eingehen zu können: . . . for I never can forget, not even for an instant, how much I have lost, & ever and every day I miss Joh. I have a feeling as could I not hold my life, as were it ebbing away after him . . . And yet, sad as my life has been, it drew in itself unheard-of riches & endless thankfulness is in my soul towards the greatest, dearest, kindest, best, most noble & most worthful man that exists, towards K.K. He has given me all happiness that was possible to give. He is the only man living. I never knew so strong a heart, so true a character as are his. A man so quite without false. I don't think there exists a being that received so much love & friendship as I by him. God bless him for it. K.K. shall always remain the glory & crown of my life! . . . What TBSN, 11. September 1914. Teilweise in BSN2,33. 77 shall become of Janow., who knows? And what of me? Shall I marry? Or ever stay 131 here? Or die soon? I must make my testament I want K.K. to get a m e a d o w , . . . Der Eintrag spiegelt Sidonie Nädhernys anhaltende Trauer für den Bruder Johannes und ihre depressive Grundstimmung wieder, die sie nach dessen Tod nur selten überwindet. Er zeigt eine tiefe Bewunderung für Karl Kraus, aber auch, wie auswegslos sie die eigene Situation beurteilt. Kraus und Nädherny verlassen am 11. September Janovice und begeben sich mit Mary Cooney als Anstandsdame auf eine mehrtägige Autoreise. Danach bleibt Nädherny einige Tage in Wien, um sich Ende des Monats bei der Freundin Dora Pejacsevic auf Schloß Naäice in Slawonien einzuquartieren. Von dort aus nimmt sie Kontakt mit dem Bruder auf, um sich, wohl nach Beratungen mit Dora Pejacsevich, mit ihm auszusöhnen und ihre Italienreise anzukündigen, auf der sie Guicciardini zu sehen beabsichtigt. Das Verhältnis zwischen Kraus und Karl Nädherny ist weiterhin gespannt. In Janovice, Wien und Prag sind Gerüchte über Nädhernys Lebenswandel, ihre Beziehung zu Rilke, Kraus und Guicciardini in 132 Umlauf, was jegliches Zusammensein zwischen Kraus und Nädherny erschwert. Ihre Lage wird durch die Reisebeschränkungen während des Kriegs noch kompliziert. Aus dieser Situation heraus beschließt Nädherny, wie es scheint nach Absprache mit Kraus, die schon lange ins Auge gefaßte Konvenienzehe mit Carlos Guicciardini vorzubereiten. Gleichzeitig versucht Kraus, Sidonie für sich zu gewinnen, wendet dabei aber so viel Druck an, daß sie TBSN, 28. August 1914. Teilweise in BSN2, 32-33. Nädhernys Hervorhebung. 1 3 2 Das Gerücht über eine intime Beziehung zwischen Rilke und Nädhern^ hatte Franz Werfel nach einer herablassenden Behandlung von Rilke und Nädherny in Hellerau anläßlich einer Theateraufführung am 13. Oktober 1913 in Umlauf gebracht. Siehe auch S.76. Siehe auch BSN2, 127-28. Zu Gerüchten in Janovice, Wien und Prag siehe z.B. BSN1, 32 und 87. Kraus schreibt am 3./4. Oktober an Sidonie: "Den schönsten Dank! Und besonders dafür, daß man nach J.[Janovice] geschrieben hat. . . Es ist hier in allen Kreisen unabänderlich, daß ich verheiratet bin . . . Nach einer anderen Version mit "Baronin Borutin". BSN1, 71. 78 verstärkt mit Rückzug reagiert. Je mehr Kraus sie bedrängt, desto mehr verschließt sie sich ihm gegenüber im Laufe der nächsten Monate. Erst als Karl Kraus im März 1915 bereit ist, Nadherny aufzugeben, ist sie imstande, sich ihm wieder zu nähern. Die Frage, warum ihr eine Ehe mit Guicciardini trotz ihrer großen Bewunderung für Kraus erstrebenswerter erscheinen ließ, läßt sich letztlich nicht beantworten. 79 1885 Chronologie 2. Dezember. Geburt Sidonie Nädhernys auf Schloß Janovice in Böhmen. Kindheit in enger Verbundenheit mit dem Bruder Johannes (1884- 1913) und dem Zwillingsbruder Karl (Charlie, 1885 - 1931) 1895 Tod des Vaters 1898- 1903 Jugend auf Janovice. Sie wird zu Hause von 2 Gouvernanten unterrichtet Die Brüder gehen in Prag aufs Gymnasium 1903 - 1906 Vermehrtes Aufbegehren. Großes Interesse an Kunst und Literatur. Gefühlsmäßige Bindung an den Bruder Johannes 1905 - 1907 Längere Reisen mit der Mutter nach Italien, Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien 1906 Begegnung mit Rilke im Studio Auguste Rodins in Meudon-Val-Fleury 1907 Erster Besuch Rilkes auf Schloß Janovice 1908 Unabhängigkeit von der Mutter. Jährliche Abfindung. Reise nach Italien 1909 Italienaufenthalt 1910 Rom-Aufenthalt mit Rilke. Tod der Mutter. Rilke drei Wochen auf Janovice 1911 März Begegnung mit JR in Rom. Sidonie in London und Italien 1912 Trennung von JR. Selbstmord des Freundes Charlie Vincenz. Begegnung mit Rilke in München 80 1913 Reise nach Italien und Tunesien. Paris-Aufenthalt. Zusammentreffen mit Rilke. Clara Rilke-Westhoff arbeitet dort an einer Büste von Nädherny. 28. Mai: Tod Johannes Nädherny 9. September: Begegnung mit Karl Kraus 1914 Februar Rilkes Intervention gegen Sidonies Verbindung mit Karl Kraus. Kraus schreibt sein erstes Sidonie-Gedicht "Leben ohne Eitelkeit" 1915 Geplante Trauung mit Carlo Guicciardini. "Verwandlung"und "Vor einem Springbrunnen" entstehen. Im Herbst erster Aufenthalt in der Schweiz 1916 Längerer Aufenthalt mit Kraus in St. Moritz. Kraus und Nädherny helfen Rilke bei der Unterbringung im Kriegspressequartier 1917 Längerer Aufenthalt mit Kraus in der Schweiz 1918 Längerer Aufenthalt mit Kraus in der Schweiz. Trennung von Kraus im Oktober 1919 Letzte Begegnung mit Rilke in der Schweiz. Sidonie Nädhernys vermittelt die endgültige Übersiedlung Rilkes in die Schweiz 1920 Im April Eheschließung mit Max Thun und Hohenstein. Trennung nach wenigen Wochen. Zum Jahresende Rückkehr zu Karl Kraus 1921 Erste Abschrift der Karl Kraus Briefe 81 1923 Reise nach Ägypten, Syrien, Palästina. Trennung von Kraus 1926 Tod Rilkes 1927 Versöhnung mit Kraus 1928 Zweimonatiger Italienaufenthalt, dreimonatiger Kuraufenthalt in Davos 1931 Tod von Karl Nadherny 1933 Scheidung von Max Thun. Nadherny führt wieder ihren Geburtsnamen 1936 Tod von Karl Kraus. Erste Zusammenstellung der Widmungsgedichte. Vollendung der Briefabschriften. Korrespondenz mit Ludwig von Ficker 1938 Anschluß Österreichs und der Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland 1942 Besetzung von Schloß Janovice durch Nazitruppen 1947 Beginn der Korrespondenz mit Albert Bloch. Zusammenstellung von Kraus- Materialien für Bloch. Schwierigkeiten mit dem kommunistischen Regime 1949 September. Flucht nach Londen 1950 30. September Tod Sidonie Nädhernys. Beisetzung in Denham bei London. 1973 Herausgabe der Briefe von Rainer Maria Rilke an Sidonie Nadherny. 1974 Herausgabe der Briefe von Karl Kraus an Sidonie Nadherny 82 Einführung in die Widmungsgedichte In dem Werk von Karl Kraus nimmt die hauptsächlich zwischen 1914 und 1925 entstandene Lyrik einen relativ geringen Umfang ein. In der Zeit, in der Kraus seine Lyrik verfaßte, entstand eine Fülle deutschsprachiger Gedichte, die einerseits von der ästhetisch geprägten Dichtung eines Rilke, George und Hofmannsthal und andererseits von den Form und Inhalt der traditionellen Lyrik sprengenden Expressionisten bestimmt wurde. Kraus' Lyrik läßt sich nicht in diese beiden Strömungen einordnen und bleibt in der Form bewußt traditionell. Da Kraus erst spät damit anfing, Gedichte zu schreiben, steht der Lyriker Kraus im Schatten des Satirikers, Gesellschaftskritikers und /acAre/herausgebers. Die über fünfzig Sidonie Nädherny gewidmeten Gedichte, die fast ausschließlich der Gattung lyrische Gedichte zugeordnet werden können, wurden bisher nicht als zusammenhängende Gruppe von Gedichten untersucht. Wie bereits in der "Einfuhrung in den Briefwechsel" erläutert, stellte Nädherny für Bloch den biographischen Hintergrund dieser ihr von Kraus gewidmeten Gedichte zusammen und schrieb in ihrem ersten Brief an Bloch, die ihr gewidmeten 133 Gedichte stellten eine "Lebensgeschichte" dar. Dieser Anspruch soll als Grundlage der Untersuchung der Widmungsgedichte dienen. Die Sidonie-Gedichte werden dabei als zusammenhängende Gedichtgruppe betrachtet und einzelne Phasen und charakteristische Merkmale herausgearbeitet. Karl Kraus schrieb seine Widmungsgedichte an Sidonie Nädherny über einen Zeitraum von zwanzig Jahren (1914 - 1933). Den Rahmen bilden die Gedichte "Leben ohne Eitelkeit" und "Man frage nicht," beides Gedichte, die innerhalb der Gruppe der 1 3 3 Siehe Seite 27 dieser Arbeit. 83 Widmungsgedichte eine Ausnahme darstellen, da sie mehr als die anderen Widmungsgedichte eine Weltanschauung porträtieren. "Leben ohne Eitelkeit" gehört mit zu den in den öffentlichen Lesungen am meisten vorgetragenen Gedichten. "Man frage nicht" ist der Ausdruck äußerster Resignation nach Hitlers Machtübernahme. Zwischen "Leben ohne Eitelkeit" und "Man frage nicht" sind die über fünfzig Sidonie-Gedichte eingebettet. In der Übersicht auf den folgenden Seiten sind sie mit Angabe des Entstehungsjahres, Entstehungsortes und der Erstveröffentlichung verzeichnet. Obwohl für Kraus der Schutz seiner Privatsphäre wichtig war, gibt es in der Fackel und In Worte in Versen explizite und implizite Anspielungen auf Sidonie Nadherny und den Park von Janovice. Die erste Erwähnung ihres Namens erscheint im Sommer 1914 in der 400. Ausgabe der Fackel Nadherny und ihr Zwillingsbruder hatten Kraus eine bis dahin unveröffentlichte Handschrift von Franz Grillparzer geschenkt, die Kraus mit dem Zusatz: "Zum 400. Heft der Fackel übersendet von den Geschwistern Freiherrn Carl und Freiin Sidonie Nadherny von Borutin" veröffentlicht. In derselben Ausgabe verteidigt Kraus in dem Essay "Über die Sehnsucht nach aristokratischem Umgang," seine in der politischen 135 und literarischen Wochenschrift Aktion kritisierten Verbindungen zur Aristokratie. Kraus Die Fackel 400-403 (Sommer 1914): 96. In einem Brief vom 20./21. März 1914 erwähnt Kraus das Grillparzer-Manuskript. BSN1,23. 1 3 5 In der Aktion heißt es: " . . . Tatsächlich aspiriert Kraus mit großem Ehrgeiz auf aristokratischen Umgang und ist sehr stolz darauf, daß sich in seinen Vorlesungen einige Mitglieder des ganz reaktionären Provinzadels blicken ließen, die natürlich die angeblich linksradikalen Angriffe auf die jüdischen Liberalen, Bourgoisie und "Neue Freie Presse" mit sehr rechtskonservativem Wohlbehagen anhörten. In seiner bekannten Ehrlichkeit wird sich Kraus hüten, dieses Mißverständnis aufzuklären. Vielmehr folgt er höchst geschmeichelt den Einladungen zu feudalen Privatgesellschaften, wo man sich das Vergnügen nicht entgehen lassen will, den jüdischen Antisemiten und ganz tollkühnen, aber in Anbetung des Landjunkertums gelandeten Revolutionär aus der Nähe zu besehen.—Kraus, dieser Schauspieler der Ethik war ja nie wählerisch mit Bezug auf sein Publikum. Zuerst war er glücklich über den Beifall derselben Juden und Journalisten, die er in seinen wütenden Satiren angeblich 84 Karl Kraus' Widmungsgedichte an Sidonie Nädherny I. Sidonie Nädhernys Aufstellung der Widmungsgedichte für Albert Bloch Entstehungsjahr/Titel Erstveröffentlichung 1 3 6 137 Blochs Ubersetzung 1914 Leben ohne Eitelkeit Fackel 406.140 1 3 8 Life without Vanity 1915 Verwandlung Fackel 406.136 Metamorphosis Vor einem Springbrunnen Fackel 406.137-38 Before a Fountain Die Krankenschwestern Fackel 406.137-38 Abschied und Wiederkehr Fackel 413.126-27 Wiese im Park Fackel 413.128 Park Lawn Aus jungen Tagen Fackel 418.59 Out of the Past Sendung Worte in Versen 1 1916 Fahrt ins Fextal, St.M Fackel 418.14 Sleigh Ride Zum Namenstag Worte in Versen 2 Landschaft Fackel 437.72 Drei Worte in Versen 2 Gespräche Fackel 443.24 Zuflucht Fackel 443.4 Sanctuary Der Besiegte Fackel 443.12 1917 Als Bobby starb Fackel 454.63-64 When Bobby died Wiedersehn mit Schmetterlingen Facte/462.86-87 Return of the Butterflies Verlöbnis Fackel 462.79-80 Vallorbe Fac te / 472.32 Vallorbe Phantasie an eine Entrückte PForte w Versen 3 Der Hörerin JForfe //i Versen 3 To My Hearer Vergelt's Gott PForte zw Versen 3 Beggar's Gift An eine Falte Facte/474.83 To a Lineament* verachtete. Jetzt ist er immerhin zum Hofharren avanciert...," Die Aktion: Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst 19 (Mai 1914): 418. Sperrdruck wurde übernommen. 1 3 6 Die zuerst in der Fackel veröffentlichten Widmungsgedichte gingen später in Worte in Versen ein, manche erschienen nur in Worte in Versen, einige blieben zu Kraus' Lebzeiten unveröffentlicht. 1 3 7 Die meisten dieser Übersetzungen, die Bloch teilweise nach der Veröffentlichung überarbeitete, erschienen Karl Kraus, Poems. Die in Ventures in Verse erschienenen Übersetzungen sind mit einem Asterix (*) gekennzeichnet. 1 3 8 Die numerische Angabe bezieht sich auf die Fackel-Nummer mit Angabe der Seite. 1 3 9 Nur die erste Strophe des dreistrophigen Gedichtes wurde zu Kraus' Lebzeiten veröffentlicht. Siehe auch 134-137 dieser Arbeit. 85 1918 Bange Stunde Fackel 474.78-80 Sehnsucht Worte in Versen 4 Longing Huldigung der Künste am BSN2,294 Namenstag Aus Gewohnheit BSN2, 297 Zum Namenstag BSN2, 297-98 Schäfers Abschied Worte in Versen 4 Auferstehung Worte in Versen 4 Resurrection Unter dem Wasserfall Fackel 508.76 Beneath the Waterfall* Slowenischer Leierkasten Fackel 508.19 Verwandlung Worte in Versen 4 Metamorphosis (II) Sage von Steinen Worte in Versen 4 Vor dem Schlaf Fackel 508.23 1919 Traum Fackel 508.73-75 1920 Die Verlassenen Fackel 521.92 Als ein Stern fiel Fackel 544.39-40 When a Star fell Eros und der Dichter Fackel 561.69-71 1921 Du bist sie, die ich nie gekannt Fackel 577.68-69 Verlust Worte in Versen 6 Du seit langem einziges Erlebnis 140 Fackel 568.34 1922 Erlebnis Worte in Versen 6 I dreamed of the Hurrying Railway Train Dank Fackel 588.58 Dein Fehler Fackel 588.56 Thy Little Flaw Fernes Licht mit nahem Schein Fackel 588.55 Distant Ray that Shineth Near Dialog Fackel 595.63 Sturm und Stille Worte in Versen 6 1925 Am Kreuz Fackel 691.56 Der Strom Fackel 697.76 Das Wunder Fackel 691.23 1932 Der Gärtnerin Forum141 1933 Man frage nicht Fackel 888.4 Immergrün Forum Dieses Gedicht ist Mechtilde Lichnowsky gewidmet. Siehe auch S. 196ff dieser Arbeit. Zur Erstveröffentlichug von "Der Gärtnerin" und "Immergrün" siehe Anmerkung 151. 86 IL Zusätzliche von Nädherny "Blauen Heft" (B1H) aufgeführte Widmungsgedichte 1 4 2 Entstehungsjahr/Titel Erstveröffentlichung Blochs Übersetzung 1916 Die Fundverheimlichung Fackel 445.170-175 1917 Epigramm aufs Hochgebirge Fackel 43723 1918 Wollust Worte in Versen 4 Transport 1920 Schnellzug Fackel 544.38 Express Train JH. In der Aufstellung für Bloch, aber nicht in B1H aufgeführte Widmungsgedichte: Entstehungsjahr/Titel Erstveröffentlichung Blochs Übersetzung 1922 Dialog Fackel 595.63 IV. Irrtümlich in der Zusammenstellung für Bloch aufgenommenes Gedicht Entstehungsjahr/Titel Erstveröffentlichung Blochs Übersetzung 1921 Du seit langem einziges Fackel 568.34 Erlebnis V. Im Bloch-Briefwechsel, nicht in den Aufzeichnungen erwähnte Widmungsgedichte 1 4 3 Entstehungsjahr/Titel Erstveröffentlichung Blochs Übersetzung 1917 Ski und Fiedel Kraus Hefte 9 (1979) 1917 Zum neuen Jahr unveröffentlicht? Nädherny dokumentierte kurz nach Kraus' Tod zum ersten Mal die ihr gewidmeten Gedichte im sogenannten "Blauen Heft" (B1H), das im Brenner-Archiv, Innsbruck, aufbewahrt wird. Die in B1H festgehaltenen Widmungsgedichte stimmen mit Ausnahme der wenigen hier verzeichneten Gedichte mit den Anmerkungen für Bloch überein. 1 4 3 Beilage zum Brief SN an AB, 10./11. Februar 1948. 87 preist in seinem Aufsatz, wenn auch nicht wörtlich, zum ersten Mal den untrennbar mit dem Sidonie-Erlebnis in Verbindung stehenden Park von Janovice, in dem er bekennt, "daß die Erhaltung der Mauer eines Schloßparks, der zwischen einer fünfhundertjährigen Pappel und einer heute erblühten Glockenblume alle Wunder der Schöpfung aus einer zerstörten Welt hebt, im Namen des Geistes wichtiger ist als der Betrieb aller intellektuellen Schändlichkeit, die Gott den Atem verlegt!" 1 4 4 Der Park von Janovice bedeutete für Kraus ein Refugium, der Garten Eden, der in krassem Gegensatz zu der feindlichen Wiener Welt stand. Die Gegenwelt Janovice wollte Kraus genausowenig einer Weltanschauung oder politischen Doktrin preisgegeben sehen wie seine gesellschaftskritischen Schriften. Janovice lag im Land seiner Herkunft. In Wien sah er sich außerhalb der Gesellschaft. Janovice bedeutete so etwas wie Heimkehr, Rückkehr zum Ursprung, nach dem Kraus suchte. Der Frage, ob ihm Janovice tatsächlich das sein konnte, was er suchte, wird an anderer Stelle nachgegangen. Kraus widmete die ersten sechs Bände von Worte in Versen Sidonie Nadherny. Die ersten beiden Bände sind ausdrücklich ihr und "dem Park von Janowitz" zugeeignet. Die nächsten vier Bände sind implizite Widmungen . 1 4 5 Das Gedicht "Wiese im Park" ist durch den gleichnamigen Untertitel "Schloß Janowitz" gewidmet. Etliche der in Worte in Versen erschienenen Gedichte und Inschriften, z.B. "Zum Namenstag" und "Drei" formen das Akrostichon "Sidonie" bzw. die Kurzform "Sidi." Die erste und letzte Strophe der zu Die Fackel 400-403 (Sommer 1914): 95. 1 4 5 Die Widmungen der Worte in Versen (WV): WV1, "Sidionie Nadherny zu eigen," veröffentlicht Anfang 1916; WV2 "Dem Park von Janowitz," Juli 1917; WV3 "Der Hörerin," Ende Dezember 1917; WV4 "Dem Tag von Vallorbe," Ende Dezember 1918; WV5 "Den Verlassenen," Anfang 1921; WV6 "Dem Knaben Lenker," 9. Dezember 1922. Die letzten drei Bände von WV enthalten die folgenden Wimdmungen: WV7 "Meiner Schwester Marie," 14. 11. 1923; WV8 "Mary Dobrzensty gewidmet," 24. 8. 1925; WV9 "Helene Kann gewidmet" (11. Oktober 1930). Entnommen Karl Kraus Schriften, Bd. 9, Gedichte 704-07. 88 Lebzeiten von Kraus veröffentlichten Version von "Schäfers Abschied" bilden ebenfalls ein Akrostichon "Sidi." Das Gedicht "Sehnsucht" formt das anagrammatische Akrostichon "Sidonie." Diese Gedichte und einige der persönlichsten Gedichte erschienen nicht in der Fackel, sondern nur in der intimeren Sphäre von Worte in Versen}*6 Hellhörige Leser wie Albert Bloch konnten also durch Anspielungen in der Fackel, Widmungen von Worte in Versen, Untertitel und Akrostichen die persönliche Verbindung zwischen Kraus und Nädherny herstellen. 1 4 7 Der Schriftsteller, Literaturkritiker und langjährige Brieffreund Blochs, Werner Kraft, schrieb zahlreiche Interpretationen zur Lyrik von Kraus . 1 4 8 In seinem Buch Karl Kraus geht er als erster auf Sidonie-Gedichte e in . 1 4 9 Es darf hinzugefugt werden, daß Krafts Aufmerksamkeit auch durch Albert Bloch—Werner Kraft und Michael Lazarus waren die einzigen Brieffreunde Blochs, die von der Korrespondenz mit Nädherny wußten—auf die tschechische Baronesse gelenkt wurde. Kraus' Widmungsgedichte nehmen in der Kraft- Bloch-Korrespondenz zu einer Zeit, da sie nicht wissen konnten, wem die Gedichte 1 4 6 Siehe dazu die Übersicht Seite 86-88. 1 4 7 AB an SN, 8. Oktober 1947: "Nun, da Sie jetzt wissen, wer ich bin, darf auch ich Ihnen etwas verraten: daß ich schon seit vielen Jahren weiß, wer Sie sind; schon lange sogar bevor die Nichte Karl Kraus' oder Dr. Samek in meiner Gegenwart Ihren Namen dann und wann gesprächsweise nannten. Schon seit den ersten Bänden der Worte in Versen habe ich es gewußt—durch Kombination: vom Akrostichon (Zum Namenstag, Sehnsucht und anderen) mit dem Grillparzer Manuskript in der 400. Nummer der Fackel Und habe Sie gleich damals (auch ehe ich noch auf den Namen gekommen war) durch die vielen unvergleichlichen Gedichte—Sie wollen bitte den Freimut des Geständnisses verzeihen—zwar ganz unpersönlich aber sehr aufrichtig liebgewonnen " 1 4 8 Zu Krafts Interpretationen, siehe z.B. "Zur Lyrik von Karl Kraus," Trivium 15-17 (1947): 88-104. "Bange Stunde: Über ein Gedicht von Karl Kraus," Philologica Pragensia 11 (1968): 165-70. "Der Sonntag. Über ein Motiv bei Karl Kraus," in: Der Brenner Jg. 17 (1948): 162-170. "Zu zwei Gedichten von Karl Kraus," in: Der Brenner 15 (1934): 34-47. "Karl Kraus' Gedicht an Annie Kalmar" in: Das Silberboot 5 (1949): 33-46. "Zeit und Sprache: Zu vier Gedichten von Karl Kraus." In: Zeit und Stunde: L. v. Ficker zum 75. Geb. (Salzburg: Müller, 1955) 160-86. 1 4 9 Kraft, Karl Kraus. Beiträge zum Verständnisseines Werks (Salzburg: Otto Müller, 1956). 89 gewidmet waren, eine wesentliche Stellung ein, da für beide die Lyrik von Kraus einer der meist bewunderten Aspekte seines Werkes darstellte. 1 5 0 Ungefähr ein Drittel von Krafts Buch befaßt sich mit Kraus' Gedichten, darunter mehrere Sidonie gewidmeten, wie "Fahrt ins Fextal," "Vallorbe," "Die Verlassenen," "Wiese im Park," "Fernes Licht mit nahem Schein," "Traum," "Landschaft," "Schäfers Abschied," "Sendung," "Zuflucht," "Der Hörerin," "Drei," und "An eine Falte." Viele dieser Gedichte konnte Kraft noch nicht als Sidonie-Gedichte erkennen. Das siebte Kapitel des Buches, "Eros und der Dichter," eine Anspielung auf Kraus' gleichnamiges Gedicht, enthält das Unterkapitel "Sidonie Nadherny." 1 5 1 Kraft erkennt Sidonie Nadherny als die Adressatin der Gedichte "Zum Namenstag," "Drei," "Zuflucht," "Der Hörerin, ""Sendung," "Landschaft," "An eine Falte," "Schäfers Abschied" und "Den Verlassenen." Kraft veröffentlichte auch auszugsweise Sidonie Nädhernys Briefe an Ludwig von Ficker, von ihr nach dem Tod von Karl Kraus an den Herausgeber des Brenner geschrieben. Diese Briefe enthalten auch Abschriften der beiden zu Kraus' Lebzeiten nicht mehr veröffentlichten Sidonie-Gedichte "Immergrün" und "Der Gär tner in ." 1 5 2 1968 erschien Caroline Kohns Buch Karl Kraus als Lyriker, eine Gesamtdarstellung der Lyrik von Karl Kraus . 1 5 3 Kohn betont die "kristallklare Einfachheit" der Krausschen Zu Blochs Korrespondenz mit Werner Kraft, siehe Erika Wimmer [Webhofer], "Der Briefautor Albert Bloch," in Albert Bloch: Artistic and Literary Perspectives, 139f, und "Zur Rezpetion von Karl Kraus, Der Briefwechsel aus dem Nachlaß Albert Bloch" 40-41. 1 5 1 Kraft, Karl Kraus 337-58. 1 5 2 Kraft, Karl Kraus, 344-58. Die beiden Gedichte waren bereits zu vor erschienen in: Forum I, Wien (1954): 21. 1 5 3 Caroline Kohn, Karl Kraus als Lyriker (Paris: Didier, 1968). 90 Lyrik und beschreibt sie als "so etwas wie eine gedrängte und auf höchste und vollendetste Formstufe gebrachte Zusammenfassung alles dessen, was er [Kraus] gelebt und geschrieben ha t . " 1 5 5 Kohn geht auf alle Kraus-Gedichte ein, befaßt sich aber hauptsächlich mit den In die letzten Tage der Menschheit eingeflossenen sozialkritischen Gedichten. Sie geht noch 1968 davon aus, daß Gedichte wie "Aus jungen Tagen," "Abschied und Wiederkehr," "Verlöbnis," und "Phantasie an eine Entrückte" Annie Kalmar gewidmet sind. Kohn erkennt in den Gedichten "Verwandlung," "Wiese im Park," "Zuflucht," "Fahrt ins Fextal," "Landschaft," "Zum Namenstag," "Drei," "Wiedersehn mit Schmetterlingen," "An eine Falte," "Auferstehung," "Sage von Steinen," "Verwandlung" (zweite Version), "Schäfers Abschied," "Als ein Stern fiel," "Vallorbe," und "Verlust" die Adressatin Sidonie Nädherny. Wie Karoline Kohn schreiben andere Kraus-Forscher bis zur Herausgabe von Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nädherny Annie Kalmar viele Sidonie-Gedichte zu. Tatsächlich fließen in etliche Sidonie-Gedichte, wie an anderer Stelle erläutert wird, Erinnerungen an die 1901 verstorbene frühere Geliebte von Karl Kraus mit ein. Sidonie gewidmete Gedichte bilden in den ersten vier Bänden von Worte in Versen den Rahmen der Gedichtsammlungen. Sie beginnen mit den Sidonie-Gedichten "Verwandlung," "Zuflucht," "Vergelt's Gott" und "An eine Falte." Außer dem zweiten Band schließen die ersten vier Bände auch mit den Sidonie-Gedichten ab, und zwar mit "Sendung," "Vallorbe," und "Unter dem Wasserfall." Von den späteren ihr gewidmeten Kohn, Karl Kraus als Lyriker 6. 1 5 5 Kohn gelingt in ihrer Biographie Karl Kraus (Stuttgart: Metzler, 1966) 36-39, ein etwas deutlicheres Bild der Nädherny. Sie erwähnt ihren Einfluß auf Kraus' lyrisches Werk, die große Anziehungskraft, die das Schloß Janowice auf ihn ausübte und Rilkes Intervention gegen Sidonie Nädhernys Verbindung mit Kraus. Kohn ist Sidonie Nädhernys Eheschließung mit Max Thun bekannt und sie weiß um Umfang und Zeitrahmen der Briefe von Karl Kraus an Nädherny. 91 Bänden beginnt auch der sechste mit einem Sidonie-Gedicht: "Eros und der Dichter." Die meisten Sidonie-Gedichte erscheinen am Anfang und Ende der Worte in Versen-Bände. Im zweiten und dritten Band gingen Widmungsgedichte auch in die "Inschriften" ein. Über die Hälfte der Widmungsgedichte entstanden in Wien, "Verwandlung," und "Vor einem Springbrunnen" in Rom. Ungefähr ein Drittel der Widmungsgedichte schrieb Kraus auf Janovice, die meisten Landschaftsgedichte in der Schweiz. Manche Gedichte entstanden als Gruppen in unmittelbarer zeitlicher Nähe. Z.B. entstanden zwischen Anfang November und Anfang Dezember 1915 in Wien "Abschied und Wiederkehr," "Wiese im Park," "Aus jungen Tagen" und "Sendung." In der Krisenzeit des Sommers 1918 schrieb Kraus auf Janovice innerhalb weniger Tage "Sehnsucht, "Huldigung der Künste am Namenstag," "Aus Gewohnheit," "Zum Namenstag," "Schäfers Abschied," "Auferstehung," "Unter dem Wasserfall" und "Slowenischer Leierkasten." Im Januar 1922 verfaßte Kraus "Erlebnis," "Dank," "Dein Fehler" und "Fernes Licht mit nahem Schein." Die meisten Sidonie-Gedichte schrieb Kraus zwischen 1915 und 1918, der intensivsten Zeit ihrer Beziehung. Auch zwischen 1920 und 1925 entstanden noch Sidonie-Gedichte. Danach schrieb Kraus nur noch wenig Lyrik. Seine letzten drei Gedichte "Der Gärtnerin," "Man frage nicht" und "Immergrün," verfaßt 1932 und 1933 auf Janovice und Sidonie gewidmet, entstanden nach langer Unterbrechung der lyrischen Arbeit. Fast alle Sidonie-Gedichte sind in traditionellen lyrischen Formen wie Sonett, Epigramm und zwei- und vierversigen Reimstrophen geschrieben. Dank der Anmerkungen Nädhernys für Bloch und der Briefe von Kraus an Nadherny ist es möglich, den biographischen Hintergrund vieler Gedichte zu rekonstruieren. Die Widmungsgedichte sprengen jedoch, von wenigen 92 Gelegenheitsgedichten abgesehen, den von Nadherny aufgezeichneten rein persönlichen Rahmen. Das 1916 entstandene Gedicht "Der Reim" und der 1927 entstandene gleichnamige Aufsatz bilden den—ungefähr auch zeitlichen—Rahmen, in den Kraus sein Lyrik- Verständnis einbettet. In seinem Aufsatz "Der Reim" definiert Kraus ein Gedicht als "die unmittelbarste Übertragung eines geistigen Inhalts, eines Gefühlten oder Gedachten, Angeschauten oder Reflektierten, in das Leben der Sprache:" 1 5 6 Form und Inhalt sind für ihn unlösbar miteinander verbunden, "denn reimen kann sich nur, was sich reimt; was von innen dazu angetan ist und was wie zum Siegel tieferen Einverständnisses nach jenem Einklang ruft, der sich aus der metaphysischen Notwendigkeit worthaltender Vorstellungen ergeben muß." 1 5 7 Das Abweichen von der traditionellen lyrischen Form ist für Kraus "der Ausweg des Unvermögens." Eine betont komplizierte Form erweckt den Verdacht "einer rein technischen Meisterung auf Kosten des sprachlichen Erlebnisses" und ist für Kraus oft ein Zeichen , daß ein Gedicht gedanklich wenig zu bieten hat. Das traditionelle lyrische Handwerkszeug bildet die Basis, "die wahre Bindung, in der sich ein originaler Inhalt entfaltet." Obwohl "der Rausch vielleicht die Grundstimmung ist, die den Dichter von der Welt unterscheidet," entspringt das Gedicht "dem geistigen Plan" und "dem klarsten Bewußtsein." 1 5 8 Nike Wagner bezeichnet in ihrem Buch Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne den Essay "Der Reim" auch als einen Höhepunkt der erotischen 1 5 6 Kraus, "Der Reim" Karl Kraus Schriften, Bd. 7, Die Sprache 339. 1 5 7 Kraus, "Ein Faust-Zitat" Die Sprache 293. 1 5 8 "Der Reim" 339-40. 93 Ästhetik von Kraus . 1 5 9 Kraus vergleicht z.B. den Anspruch auf einen reinen Reim mit der seiner Ansicht nach vom Spießbürger entwerteten menschlichen Sexualität: . . . Wie der Philister den letzten Lohn der erotischen Natur entehrt und entwertet hat, so hat er auch die Erfüllung des schöpferischen Aktes im Reim zu einem Zeitvertreib gemacht. Wie aber der wahrhaft Liebende immer zum ersten Male liebt, so dichtet der wahrhaft Dichtende immer zum ersten Mal, und reimte er nichts als Liebe und Triebe. Und wie der Philister in der Liebe ästhetischer wertet als der Liebende, so auch in der Dichtung ästhetischer als der Künstler, den er mit seinem Maße mißt und erledigt. Daraus ist die Forderung nach dem reinen Reim entstanden. 1 6 0 In Kraus' Reimtheorie gibt es drei Stufen des Reims. Der einfachste Reim ist derjenige, der den geringsten, der beste Reim derjenige, der den größten Widerstand zu überwinden hat. Die drei Reimstufen, mit denen Kraus arbeitet, sollen an drei Beispielen aus "Abschied und Wiederkehr," einem Widmungsgedicht an Sidonie Nädherny aus dem Jahre 1915, demonstriert werden: Du Echo, das mit einer Nymphe ruft in der Geschlechter unnennbaren Kluft. Durch alle Schöpfung blutet dieser Riß — Echo klagt immer wieder um Narziß. 1 5 9 Nike Wagner, Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1982). 1 6 0 "Der Reim" 328. 94 du Augenblick der Liebestodesangst, der du dich selber zu verlieren bangst — (WV62, 5-6, 11-12, 27-28) Der Reim "ruft" und "Kluft" hat durch die Einsilbigkeit wenig Wiederstand zu überwinden. Der Reim "Riß" und "Narziß" muß durch die Gegenüberstellung von einem einsilbigen und einem zweisilbigen Wort schon eine Stufe mehr überwinden. Das Reimpaar "Liebestodesangst" und "bangst" stellt nach Kraus die Höchstform des Reimes dar, da es mit einer schwer überwindbaren Hemmung versehen ist: Dem einsilbigen Wort "bangst" steht das fiinfsilbige "Liebestodesangst" gegenüber. Auch inhaltlich ergeben die drei Beispiele einen Sinn und erfüllen damit Kraus' Forderung nach einem Zusammenwirken von Form und Inhalt. Die immer nur ins Leere rufende Nymphe Echo kann die "Kluft" zwischen sich und dem sich bespiegelnden Narziß nicht überwinden, ihr " R u f erreicht ihn nicht. "Narziß" ist es durch seine Selbstbezogenheit unmöglich, die "Kluft" oder hier den "Riß" zu überwinden. Die "Liebestodesangst," die das lyrische Ich empfindet, erhält durch das Reimwort "bangst," das in der "Angst" mit enthalten ist, eine dramatische Verstärkung. Kraus hatte seine Ansichten über den Reim 1916, also ziemlich am Anfang seiner lyrischen Phase, auch in dem Gedicht "Der Reim" ausgedrückt: Der Reim ist nur der Sprache Gunst, nicht nebenher noch eine Kunst. Geboren wird er, wo sein Platz, aus einem Satz mit einem Satz. Er ist kein eigenwillig Ding, das in der Form spazieren ging. 95 Er ist ein Inhalt, ist kein Kleid, das heute eng und morgen weit. Er ist nicht Ornament der Leere, des toten Wortes letzte Ehre. Nicht Würze ist er, sondern Nahrung, er ist nicht Reiz, er ist die Paarung. Er ist das Ufer, wo sie landen, sind zwei Gedanken einverstanden. (WV93, 1-14) Wie in seinem Aufsatz "Der Reim" benutzt Kraus in dem Gedicht "Der Reim" die Teminologie des Erotischen: Der Reim ist die Paarung zweier Gedanken. Die "Landung" bzw. "Paarung" kann nur erfolgen, wenn eine vorgegebene Übereinstimmung erzielt wird. Die über zwanzigjährige Beziehung zwischen Karl Kraus und Sidonie Nädherny durchlief mehrere Stadien. Verursacht durch Nädhernys schwankende Gefühle für Kraus, durchlebte das Paar Zeiten der Harmonie, Entfremdung und Versöhnung. Die erste Phase umfaßt den Zeitraum des Kennenlernens im September 1913 bis zur geplanten, aber nicht realisierten Eheschließung Nädhernys mit dem Florentiner Grafen Carl Guicciardini. Die zweite Phase erstreckt sich auf die Überwindung der Krise im April 1915 und die Zeit der gemeinsamen Aufenthalte in der Schweiz 1916 und 1917 sowie die bevorstehende Trennung im Sommer/Herbst 1918. Daran schließen sich die Jahre der Entfremdung zwischen Herbst 1918 und Ende 1920 an, in die auch Nädhernys Eheschließung mit und Trennung von Max Thun und Hohenstein und ihre Rückkehr zu Kraus Ende Dezember 1920 fällt. Anfang 1923 folgen nach einer sich länger anbahnenden Krise weitere Jahre der Entfremdung, denen sich 96 1927 die bis zu Kraus' Lebensende im Juni 1936 andauernde Freundschaft anschließt . Phasen der Beziehung überschneiden sich in groben Zügen mit den Phasen der Widmungsgedichte. Sidonie-Gedichte in Kar l Kraus Vorlesungen Übersicht I 161 Als Bobby starb 109, 117, 140, 150, 177,239, 265, 270,273, 325,328 1917-25 Am Kreuz 341,348, 403 1925-27 Aus jungen Tagen 89,92 1916 Bange Stunde 114,117, 191 1918-21 Dank 240, 244,256,273, 557, 587 1922-31 Dein Fehler 1 6 2 Dialog 224,230,240, 244, 256, 273, 290, 310, 324, 328, 403,437, 455,465, 472, 557, 587, 591, 593, 604, 700 244, 256,310,403 1922-36 1922-27 Die Fundverheimlichung 96 1917 Die Krankenschwestern 83, 89 1915-16 Du bist sie, die ich nie gekannt 203 ,211, 215, 244,286 1921-24 Du seit langem einziges Erlebnis 200,203, 210, 215, 273, 286, 557 1921-30 Eros und der Dichter 188, 191, 194,200 1921-27 Fahrt ins Fextal 89, 92 ,98 , 109, 119,173, 244,265, 273,328, 392,403 1916-27 Fernes Licht mit nahem Schein 240 1922 Leben ohne Eitelkeit 191,194, 200,212,217,235, 240,242, 273,286, 295,310, 325, 327, 366,455, 457,465, 557, 587, 591,600, 604, 700 1921-36 Zusammenstellung exzerpiert aus: Die Fackel: Herausgeber Karl Kraus. Bibliographie und Register, Bd. 2, Hrsg. Wolfgang Hink (München: Saur, 1994) 207-10. 1 6 2 Die fünf am meisten vorgetragenen Widmungsgedichte sind "Dein Fehler," "Leben ohne Eitelkeit," Schnellzug," "Traum," und "Vor einem Springbrunnen. 99 Titel Vorlesungen Zeitspanne Schnellzug 170,176, 182, 185, 188, 192,203, 212,217, 219, 235,244,256,265, 273, 284, 286, 290, 302, 325, 366, 403,434, 437, 442,455,457, 482, 557, 587, 591, 593 1920-31 Sendung 214,217 1921 Slowenischer Leierkasten 140,403 1919-27 Traum 182, 188, 192, 212,217,224, 235, 270, 286, 341, 345, 392, 403,484, 504, 557 1920-30 Unter dem Wasserfall 134,140, 152, 156,159, 161, 172, 177,212, 230,270,295 1919-24 Vallorbe 109, 173, 176, 325,328, 331,410 1917-27 Verlöbnis 114, 156, 159, 161,172,212,214, 235,390 1918-26 Verwandlung 83 1915 Vor einem Springbrunnen 83, 87, 89, 92 ,98, 99, 100, 117, 156, 159, 174, 230, 239,244,270,286, 295, 324, 326,327,366,390, 403, 437, 455, 457,465,472, 587, 600, 604 1915-31 Wiedersehn mit Schmetterl ingenl09,114,117,134,159,182,217, 235,273, 600,604 1917-31 Wiese im Park 84, 239 1915-22 100 Sidonie-Gedichte in Kar l K r a u s ' Vorlesungen Übersicht II Lesung Datum Ort Gedichte 83 10/15 Wien Die Krankenschwestern, Verwandlung, Vor einem Springbrunnen 84 12/15 Wien Wiese im Park 87 5/16 Wien Vor einem Springbrunnen 89 6/16 Wien Aus jungen Tagen, Die Krankenschwestern, Fahrt ins Fextal, Vor einem Springbrunnen 92 10/16 Wien Aus jungen Tagen, Fahrt ins Fextal, Vor einem Springbrunnen 96 1/17 Wien Die Fundverheimlichung 98 1/17 Wien Fahrt ins Fextal, Vor einem Springbrunnen 99 2/17 Berlin Vor einem Springbrunnen 100 2/17 Frankfurt Vor einem Springbrunnen 109 12/17 Wien Als Bobby starb, Fahrt ins Fextal, Vallorbe Wiedersehn mit Schmetterlingen 114 4/18 Wien Bange Stunde, Verlöbnis, Wiedersehn mit Schmetterlingen 117 5/18 Berlin Als Bobby starb, Bange Stunde, Vor einem Springbrunnen Wiedersehn mit Schmetterlingen 119 5/18 Berlin Fahrt ins Fextal 134 1/19 Wien Unter dem Wasserfall, Wiedersehn mit Schmetterlingen 140 150 3/19 12/19 Wien Wien Als Bobby starb, Slowenischer Leierkasten, Unter dem Wasserfall Als Bobby starb 152 12/19 Wien Unter dem Wasserfall 156 1/20 Berlin Unter dem Wasserfall, Verlöbnis, Vor einem Springbrunnen 159 1/20 München Unter dem Wasserfall, Verlöbnis, Vor einem Springbrunnen,Wiedersehen mit Schmetterlingen 101 Lesung Datum Ort Gedichte 161 2/20 Wien Unter dem Wasserfall, Verlöbnis 170 5/20 Berlin Schnellzug 172 5/20 Berlin Unter dem Wasserfall, Verlöbnis 173 6/20 Berlin Fahrt ins Fextal, Vallorbe 174 6/20 Dresden Vor einem Springbrunnen 176 6/20 Prag Schnellzug, Vallorbe 177 6/20 Prag Als Bobby starb, Unter dem Wasserfall 182 11/20 Wien Schnellzug, Traum, Wiedersehn mit Schmetterlingen 185 12/20 Wien Schnellzug 188 1/21 Wien Eros und der Dichter, Schnellzug, Traum 191 1/21 Berlin Bange Stunde, Eros und der Dichter, Leben ohne Eitelkeit 192 1/21 Berlin Schnellzug 194 2/21 Berlin Eros und der Dichter, Leben ohne Eitelkeit 200 5/21 Wien Du seit langem einziges Erlebnis, Eros und der Dichter, Leben ohne Eitelkeit 203 10/21 Wien Du bist sie, die ich nie gekannt, Du seit langem einziges Erlebnis, Schnellzug 210 12/21 Berlin Du seit langem einziges Erlebnis 211 12/21 Berlin Du bist sie, die ich nie gekannt 212 12/21 Berlin Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, Traum, Unter dem Wasserfall, Verlöbnis 214 12/21 Berlin Sendung, Verlöbnis 215 12/21 Prag Du bist sie, die ich nie gekannt, Du seit langem einziges Erlebnis 217 12/21 Prag Leben ohne Eitelkeit, Sendung, Schnellzug, Traum, Wiedersehn mit Schmetterlingen 219 1/22 Wien Schnellzug 224 3/22 Wien Dein Fehler, Traum 102 Lesung Datum Ort Gedichte 230 4/22 Berlin Dein Fehler, Unter dem Wasserfall, Vor einem Springbrunnen 235 5/22 Berlin Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, Traum, Verlöbnis, Wiedersehn mit Schmetterlingen 239 5/22 Prag Als Bobby starb, Vor einem Springbrunnen, Wiese im Park 240 5/22 Prag Dank, Dein Fehler, Fernes Licht mit nahem Schein, Leben ohne Eitelkeit 242 5/22 Wien Leben ohne Eitelkeit 244 256 6/22 12/22 Wien Wien Dank, Dein Fehler, Dialog, Du bist sie, die ich nie gekannt, Fahrt ins Fextal, Schnellzug, Vor einem Springbrunnen Dank, Dein Fehler, Dialog, Schnellzug 265 2/23 Wien Als Bobby starb, Fahrt ins Fextal, Schnellzug 270 5/23 Wien Als Bobby starb, Traum, Unter dem Wasserfall 273 284 10/23 1/24 Wien Wien Vor einem Springbrunnen Als Bobby starb, Dank, Dein Fehler, Du seit langem einziges Erlebnis, Fahrt ins Fextal, Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, Wiedersehn mit Schmetterlingen Schnellzug 286 1/24 Wien Du bist sie, die ich nie gekannt, Du seit langem einziges Erlebnis, Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, Traum, Vor einem Springbrunnen 290 2/24 Berlin Schnellzug, Dein Fehler 295 3/24 Berlin Leben ohne Eitelkeit, Unter dem Wasserfall, Vor einem Springbrunnen 302 5/24 Wien Schnellzug 310 11/24 Wien Dein Fehler, Dialog, Leben ohne Eitelkeit 103 Lesung Datum Ort Gedichte 324 3/25 Paris Dein Fehler, Vor einem Springbrunnen 325 3/25 Paris Als Bobby starb, Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug. Vallorbe 326 3/25 Paris Vor einem Springbrunnen 327 3/25 Zürich Leben ohne Eitelkeit, Vor einem Springbrunnen 328 3/25 Zürich Als B o b b y starb, Dein Fehler, Fahrt ins Fextal, Vallorbe 331 3/25 Berlin Vallorbe 341 5/25 Wien Am Kreuz , Traum 345 5/25 Prag Traum 348 7/25 Wien Am Kreuz 366 1/26 Brünn Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, V o r einem Springbrunnen 390 4/26 Paris Verlöbnis, V o r einem Springbrunnen 392 4/26 Paris Fahrt ins Fextal , Traum 403 1/27 Wien Am Kreuz , Dein Fehler, Dialog, Fahrt ins Fextal , Slowenischer, Leierkasten, Schnellzug, Traum, Vor einem Springbrunnen 410 3/27 Wien Vallorbe 434 3/28 München Schnellzug 437 3/28 Hamburg Dein Fehler, Schnellzug, Vor einem Springbrunnen 455 5/28 Teplitz-Sch. Dein Fehler, Leben ohne Eitelkeit, V o r e inem Springbrunnen, Schnellzug 457 5/28 Karlsbad Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, V o r e inem Springbrunnen 465 10/28 Königsberg Dein Fehler, Leben ohne Eitelkeit, V o r einem Springbrunnen 472 10/28 Neustrelitz Dein Fehler, V o r einem Springbrunnen 482 1/29 Hagen Schnellzug 484 2/29 Wien Traum 104 Lesung Datum Ort Gedichte 504 5/29 Teplitz-Sch. Traum 557 5/30 Wien Dank, Dein Fehler, Du seit langem einziges Erlebnis, Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, Traum 587 3/31 Breslau Dank, Dein Fehler, Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug, Vor einem Springbrunnen 591 4/31 Berlin Dein Fehler, Leben ohne Eitelkeit, Schnellzug 593 4/31 Wien Dein Fehler, Schnellzug 600 11/31 Wien Leben ohne Eitelkeit, Vor einem Springbrunnen, Wiedersehn mit Schmetterlingen 604 12/31 Wien Dein Fehler, Leben ohne Eitelkeit, Vor einem Springbrunnen, Wiedersehn mit Schmetterlingen 700 4/36 Wien Dein Fehler, Leben ohne Eitelkeit 105 Die Widmungsgedichte der Jahre 1914 und 1915 Die Sidonie Nädherny in den Jahren 1914 und 1915 gewidmeten acht Gedichte gingen nicht nur alle in den 1916 erschienenen ersten Band von Worte in Versen ein, sondern waren bereits zuvor in der Fackel erschienen. Wie viele Widmungsgedichte, entstanden die ersten drei aus einem Tiefpunkt in der Beziehung. "Leben ohne Eitelkeit," "Verwandlung" und "Vor einem Springbrunnen" sind ohne die Krise im Herbst 1914 und Frühjahr 1915 sowie deren Überwindung im April 1915 nicht denkbar, wobei "Leben ohne Eitelkeit" Anbahnung "Verwandlung" Höhepunkt und "Vor einem Springbrunnen" Überwindung darstellen. Das Gedicht "Leben ohne Eitelkeit" entsteht Mitte November 1914 in Wien zu einer Zeit, da Kraus leidenschaftlich versucht, Sidonie Nädherny fur sich zu gewinnen. Ungefähr ein Jahr später, im Oktober 1915, veröffentlicht Kraus das Gedicht in der ersten umfangreichen Fackel seit Kriegsausbruch. 1 6 3 Die Ausgabe ließ nicht nur wegen Kraus' Schweigen aus Protest gegen den Krieg, sondern auch wegen seiner Werbung um Sidonie Nädherny so lange auf sich warten. 1 6 4 Ebenfalls in dieser Fackel erschienen die drei anderen bis dahin entstandenen Widmungsgedichte "Verwandlung," "Vor einem Springbrunnen" und "Die Krankenschwestern." "Leben ohne Eitelkeit" steht zwischen gesellschaftskritischen Aphorismen, die keinen direkten Bezug zum Sidonie-Erlebnis aufzeigen, vielleicht ein 163 Fackel 406-412 (Oktober 1915). 1 6 4 Siehe dazu das Kapitel "Wilde, Nietzsche, and the Role of the Artist," in Timms, Apocalyptic Satirist 188-208, bes. 188-92; und Sander L. Gilman "Karl Kraus's Oscar Wilde: Race, Sex, and Difference," in: Vienna 1900: From Altenberg to Wittgenstein, Hrsg. Edward Timms und Ritchie Robertson (Edinburgh: Edinburgh UP, 1990) 12-27. 106 Zeichen, daß sich dieses Gedicht, das zu den von Kraus in seinen Vorlesungen am meisten vorgetragenen Sidonie-Gedichten gehört, schon bald von der Adressatin zu lösen beginnt und eine Allgemeingültigkeit erlangt. Im ersten Band von Worte in Versen erscheint das Gedicht an dritter Stelle nach "Verwandlung" und "Vergleichende Erotik" und kann als Überleitung zu den gesellschaftskritischen Gedichten gesehen werden . 1 6 5 Die Beziehung zwischen Kraus und Nadherny tritt im Oktober 1914 in eine schwierige Phase. Nadherny reist nach den Auseinandersetzungen mit dem Bruder nach Rom, um sich mit Carlos Guicciardini zu treffen. Vor ihrer Rückkehr nach Janovice verbringt sie Anfang November eine Woche mit Kraus in Wien. Ende November ist Kraus in Abwesenheit von Karl Nadherny auf Janovice, Mitte Dezember befindet sich Nadherny wieder ca. zehn Tage in Wien. Es ist schwierig, die Auflagen, denen sich Nadherny zu dieser Zeit unterzieht, zu verstehen, besonders wenn man bedenkt, wie frei sie vor der Begegnung mit Kraus lebte. Eine Erklärung dafür ist, daß es in der heimatlichen Umgebung für sie praktisch und psychisch unmöglich ist, sich zu ihrem unkonventionellen Lebensstil zu bekennen, vor allem da sie seit dem Tod von Johannes befürchten muß, das Zuhause zu verlieren, wenn sie sich den Wünschen des Bruders nicht unterordnet. Eine andere Erklärung ist, daß sie sich tatsächlich zu diesem Zeitpunkt von Kraus, der trotz kritischer Einstellung zur Institution der Ehe vorübergehend eine solche Verbidnung mit ihr anstrebt und beginnt, Kohn, Karl Kraus als Lyriker 68-73, und Roger Bauer, "Karl Kraus: Von der Prosa zum Vers. Bemerkungen zum ersten Band der "Worte in Versen" und zum Gedicht 'Sonnenthal,'" in: Sprachthematik in der Österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts (Wien: Hirt, 1974) 83-98, bes. 84-88. 107 sie mit seinen Forderungen zu erdrücken, zurückziehen möchte, ohne ihn zu verletzen oder als Freund zu verlieren. 1 6 6 Kraus versucht leidenschaftlich, Sidonie auf seine Seite zu ziehen: "Vielleicht finden wir gemeinsam den Muth zu Entscheidungen, die uns der äußeren Folter dieser Zeit und dieser Umgebung entziehen . . . (BSN1, 87). Er möchte sie dazu bewegen, sich mit ihm gegen die Konventionen der Zeit zu stellen und versucht, die Heirat mit Guicciardini zu verhindern: "Sidi Du opferst mehr als Du durch Kompromisse gewinnst. Es ließe sich ein anderer Ausweg finden - außer der Heirath. (Du würdest aber G. [Guicciardini] heiraten, um eben jenen Fesseln zu entgehen. Das wolltest Du ja. Und ein Umweg zu mir - warum nicht der direkte? Verlierst Du dann nicht Janowitz, Ch.[arlie], B.[obby], T.[angy], die Schwäne?)" (BSN1, 103). 1 6 7 Kraus konstatiert bitter: "Bei G.[uicciardini] heißt es heirathen - bei mir "durchgehen"!" (BSN1, 108). Nicht nur Nädhernys Unentschlossenheit und das Festhalten an Konventionen, sondern auch der Krieg erschwert wegen der Reisebeschränkungen die Möglichkeit, sich ungehindert sehen zu können. Schon jetzt schwebt Kraus das Reiseziel Schweiz vor, das in den nächsten Jahren vermehrt zum Refiigium werden soll: "Es gibt nur ein Land übrigens, in das man ohne Schwierigkeiten gelangen könnte: Schweiz. Welche Seligkeit, dort mit Dir allein, ohne Wächter zu sein, auf Man kommt nicht umhin, sich in dieser Situation Rilkes Brief vom Februar 1914 ins Gedächtnis zurückzurufen, in dem er der Freundschaft mit Kraus zustimmte, sich aber gegen eine engere Verbindung aussprach Eine Ehe zwischen dem von Einkünften genauso wie Nädherny unabhängigen, trotz seiner gesellschaftskritischen Einstellung dem Großbürgertum angehörenden Kraus, der 1899 aus der israelitischen Kultusgemeinde austrat und 1911 zum katholischen Glauben konvertierte und der freizügig lebenden katholischen Aristokratin Nädhern^ wäre, ähnlich wie eine Ehe zwischen katholischen und protestantischen Partnern, in einer Zeit der Lockerung der Bräuche und des Rückgangs des Einflusses der Kirchen trotz des Standesunterschiedes weniger außergewöhnlich gewesen als es scheint. 1 6 7 Kraus' Hervorhebungen. Bobby war Nädhernys Neufundländer, Tangy ihr Pferd. 108 Kriegsdauer oder eine Woche oder eine Stunde . . . " (BSNl, 88). Der Titel von "Leben ohne Eitelkeit" ist mehrdeutig. "Eitelkeit" hat im heutigen Sprachgebrauch fast ausschließlich die Bedeutung von "Selbstgefälligkeit," ein Begriff, der auf die standesbewußte Nadherny zutrifft. Im Gedichttitel ist die archaische Bedeutung "Vergeblichkeit" und "Vergänglichkeit" jedoch mit enthalten. Kraus befaßte sich in der Zeit, in der das Gedicht entstand, z.B. mit der Lyrik von Gryphius, in welcher der Vanitas-Begriff eine zentrale Rolle spielt. Kraus schreibt an Nadherny: "Sonst würde Dir unter allen Umständen Dein Leben über Deine Kinderstube gehen, Deine eigene. Dieser Egoismus wäre erst die wahre G ü t e . . . Meiner Maßlosigkeit kann das Leben nicht genügen, und darum auch die Liebe nicht, wenn sie sich mit dem Leben abfinden muß" (BSNl, 101). Die Überwindung der Selbstgefälligkeit, d.h. hier der Standesgrenzen, könnte die Überwindung der "Vanitas," hier der inneren Leere, mit bewirken: "Ich furchte nicht den äußeren Feind, nur den "innern": der Dich verhindert, mit mir "Landes- und Gesellschaftsgrenzen zu überschreiten . . . und Dich durch nichts entschädigt, aber statt Leben Langeweile gibt" (BSNl, 106). LEBEN OHNE EITELKEIT Sieh, mein Außenbild ist fügsam, sieh, mein Haben, so genügsam, achtet wohl des Gleichgewichts. Hat es wenig, dankt für viel es, wahrt des Weges, Maßes, Zielesund Verzichts. Doch mein Innensein verzichtet, eh es sich genügsam richtet, achtet nicht des Gleichgewichts. Immer steig' es oder fall' es, 109 hat es vieles, will es alles oder nichts! (WV,11) Thema von "Leben ohne Eitelkeit" ist die Diskrepanz zwischen "Schein" und "Sein," dem Unterschied zwischen einem ausgeglichen erscheinenden Äußeren und dem nicht nur nicht ausgeglichenen, sondern dem Gleichgewicht ausweichenden Inneren, dem eigentlichen "Sein" des lyrischen Ich. Es spricht einen Partner an, der im Hintergrund bleibt. Das "Sieh," mit dem die ersten beiden Verse beginnen, verweist auf die Gattung des Lehrgedichts. Dieses "Sieh" heißt eigentlich "nimm Dir ein Beispiel an mir." Das Gedicht erhält seine Spannung durch die Antithetik der beiden Strophen zueinander und innerhalb der zweiten Strophe, die in einem mit einem Ausrufungszeichen versehenen "alles oder nichts!" gipfelt. Die erste Strophe ist dem leblos wirkenden "Außenbild" gewidmet, das sich durch eine klassisch zu nennende Beherrschtheit auszeichnet, den Schein wahrt, nicht aufbegehrt und durch Füg- und Genügsamkeit gekennzeichnet ist. In der zweiten Strophe wird die Maske fallengelassen. Das "Innensein," denkt nicht an "Genügsamkeit" und "Maßhalten," es zeichnet sich nicht durch Bescheidenheit aus. Maßhalten und inneres Gleichgewicht werden nicht angestrebt, sondern bewußt umgangen. Das "Sein," von einem ausgeprägten Willen beherrscht, ist in ständiger Bewegung. Obwohl das lyrische Ich durch die Diskrepanz von "Schein" und "Sein" unter einer konstanten Spannung steht, bekommt der Leser nicht den Eindruck eines an der Spannung leidenden "Ichs," im Gegenteil, die Unfähigkeit zum 1 6 8 Nädhernys Anmerkungen zu den Widmungsgedichten für Bloch (im Folgenden zitiert als "SN für AB"): " 1 . Leben ohne Eitelkeit. Wien, 16. November 1914. (Vorgetragen auch in letzter Vorlesung am 2.4. 1936.)." Das Originaltyposkripts der Anmerkungen zu den Widmungsgedichten wurde von Anna Bloch über Michael Lazarus 1971 dem Brenner-Archiv übergeben. Erika Wimmer vom Brenner- Archiv hat mir diese Anmerkungen im Sommer 1995 überlassen. Auf das von Nädherny nach dem Tod von Karl Kraus im Sommer 1936 zum ersten Mal zusammengestellte handschriftliche Manuskript zu den Widmungsgedichten, festgehalten im sog. "Blauen Heft" (im Folgenden B1H), das sich ebenfalls im Brenner-Archiv befindet und aus dem in BSN2 ausführlich zitiert wird, wird, wo es notwendig erscheint, ebenfalls zurückgegriffen. 110 Kompromiß ist eine existentielle Notwendigkeit. Kraus selbst schreibt dazu an Nadherny: "Du hast mein Gedicht "Alles oder nichts" verstanden, Du weisst, dass ich nicht Kompromisse schliessen kann. Nie solche zu Gunsten von Mächten, die Dir weniger geben 169 als ich, da es sich mir nie um mich und immer um Dich handelt"(BSNl, 105). Auch wenn das "Innensein" sich wie ein Perpendikel in dauernder Bewegung befindet ("Immer steig' es oder fall' es"), ist doch seine Begrenztheit nicht zu übersehen, da es letztendlich im "Außenbild" eingeschlossen bleibt, genauso wie das Pendel einer Uhr mit dem Uhrwerk verbunden ist. Solange zwischen "Bild" und "Sein" keine Symbiose erfolgt, bleibt das "Innensein" ein Gefangener des "Außenbildes," und solange die Absoluta "alles oder nichts" nicht überwunden werden, ist auch eine innere Entwicklung unmöglich. In "Leben ohne Eitelkeit" zeichnet sich daher schon das Motiv der "unüberbrückbare Kluft" ab, das in so vielen Sidonie-Gedichten vorkommt. Von dem persönlichen Konflikt, unter dem "Leben ohne Eitelkeit" entstand, ist im Gedicht selbst wenig zu spüren, im Gegensatz zu Kraus' zweitem Widmungsgedicht "Verwandlung," einem der wichtigsten Sidonie-Gedichte. VERWANDLUNG Stimme im Herbst, verzichtend über dem Grab auf deine Welt, du blasse Schwester des Monds, süße Verlobte des klagenden Windes, schwebend unter fliehenden Sternen — raffte der Ruf des Geists dich empor zu dir selbst? nahm ein Wüstensturm dich in dein Leben zurück? Kraus' Hervorhebungen. 111 Siehe so führt ein erstes Menschenpaar wieder ein Gott auf die heilige Insel! Heute ist Frühling. Zitternder Bote des Glücks, kam durch den Winter der Welt der goldene Falter. Oh knieet, segnet, hört, wie die Erde schweigt. Sie allein weiß um Opfer und Thräne. (WV, 9 ) 1 7 0 "Verwandlung" sollte von der Musikerin Dora Pejacsevic vertont und wie Rilkes für diesen Anlaß geschriebene Gedicht "Strophen zu einer Fest-Musik" bei der Trauung Nädhernys und Guicciardinis gesungen werden. Aus den Briefen von Kraus an Nadherny geht im Gegensatz zu den Rilke-Briefen nichts über eine solche Bitte hervor, was darauf schließen läßt, daß sie mündlich erörtert wurde. 1 7 1 Auf der ersten Ebene rekapituliert die Eingangsstrophe Nädhernys und Kraus 5 Begegnung im Herbst 1913, zu einer Zeit als sie um den wenige Monate vorher verstorbenen Bruder trauerte. Die Begegnung mit Kraus wird als eine Art Wiedererweckung dargestellt. Die zweite Strophe greift Nädhernys Reise in die Wüste Tunesiens im Frühjahr 1913 auf, über die Kraus und Nadherny bei ihrer ersten Begegnung 1 SN für AB: "2. Verwandlung Rom, Sonntag, den 14. März 1915. Im Manuskript lautet der Titel: "Zu Sidis Hochzeitstag". Ich hatte ihn um ein Gedicht gebeten, um komponiert und bei meiner Trauung (mit einem Florentiner) gesungen zu werden. (Die Trauung fand nie statt.) Die ersten zwei Strophen sind eine Erinnerung an unsere erste Begegnung am 8. Sept. 1913. Es war kurz nach dem Tod meines geliebten Brunders ("Sendung"). In der Sternennacht fuhren wir durch die Praterallee, ich erzählte ihm von der Wüste, wo ich im Winter gewesen war. Die Insel bezieht sich auf die im Janowitzer Parkteich (wo auch Schwäne waren), die wir nachts öfters im Kahn besucht hatten. Winter der Welt: Krieg." 1 7 1 Rilke schrieb an Nädhern^: "Sie können sich denken, liebste Sidie, wie sehr ich diese neue schöne weite Wendung Ihres Lebens filhle und feiere; gestern war ich im deutlichsten Geiste den ganzen Tag mit Ihnen und gegen den Druck der Zeit geschützt, der sonst auf allen Stellen meines Daseins l i e g t . . . . Auch hab ich gleich nach dem Eintreffen Ihres Briefes die beifolgenden Verse niedergeschrieben . . . Ob ich ihn dann selbst werde singen hören? . . . " Laut Rilke freute sich auch Clara Rilke über die bevorstehende Hochzeit. Rilke, Briefe an S/V, 11. März 1915. 112 sprachen, und thematisiert die Begegnung zwischen Nädherny und Kraus als ein arkadisches Urerlebnis. In der dritten Strophe kommt Kraus' Trauer über Nädhernys bevorstehende Eheschließung mit Guicciardini im Winter der Welt, dem Krieg, zur Sprache. Wie Gerald Stieg feststellte, erinnert das Gedicht an die Lyrik Georg Trakls, der von 172 Kraus gefördert wurde und ihn bewunderte: Nicht nur der Titel, sondern auch eine Reihe von Bildern (Herbst, Grab, blasse Schwester, Mond, fliehende Sterne) scheinen es der Trakl-Welt anzunähern. Ein vom Tod ergriffenes Wesen kehrt zurück - vom Geist gerufen -, um sich in einer seligen Liebe zu erneuern: . . . Die Verwandlung vollzieht sich auf der Erde - es ist, als würde das verlorene Inselparadies des Psalm wiederhergestellt -, das Paradies wird nach dem "Winter der Welt" wieder geschaffen. Die Verwandlung vollzieht 173 sich in den Metaphern des irdischen Jahreskreislaufes,. . . In Briefauszügen der Zeit ruft Kraus sich die Begegnung mit Nädherny in lyrischen Bildern in Erinnerung, die teilweise an die Sprache Trakls erinnert: "Welch ein Triumphzug von Sternen auf einer Fahrt durch eine Allee Welches Fest einer noch nie geschauten Landschaft, die sich aus heiligem Düster zum erstenmal öffnet, um zwei Menschenblicke zu empfangen. Und wieder ein mildes Blühen von Blau und Gelb und Friede, den alle Glockenblumen läuten" (BSN1,121). "Verwandlung" sprengt wie fast alle Sidonie-Gedichte jedoch den rein biographischen Hintergrund und ist mehr als eine "Antwort auf Trakls Zur Beziehung Kraus/Trakl siehe Stieg, Der Brenner und die Fackel: Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Karl Kraus (Salzburg: Müller, 1976) 261-71. Trakl widmete Kraus die Gedichte "Psalm," "Karl Kraus," und die erste Fassung von "Ein Winterabend." Kraus widmete Trakl seinen Aphorismus über Siebenmonatskinder. 1 7 3 Stieg, Der Brenner und die Fackel 271. 113 Psalm." Kraus beschäftigte sich z.B. intensiv mit dem Werk Oskar Wildes. Einige Motive, wie "Mond," "Wüste" und "Schmetterling," finden wir auch am Anfang seiner Tragödie Salome, deren Übersetzung durch Helene Lachmann seit 1903 vorlag. Die wichtigste Parallele zwischen "Verwandlung" und Salome liegt in der Beschreibung der Frauengestalt, die in "Verwandlung" und Salome dem Grab zu entschweben scheint. Der Page der Herodias beschreibt Salome zu Beginn der Tragödie "Wie eine Frau, die aus dem Grab aufsteigt Sie gleitet langsam dahin." 1 7 5 Diese Parallele rückt die weibliche Figur in "Verwandlung" in die Nähe der ungerührt über Männerleichen hinwegschreitenden Salome, einer Verkörperung der Femme fatale der Jahrhundertwende, die vielfach Gegenstand in Literatur, Malerei und Musik der Zeit ist und auch von Kraus verherrlicht wird. Trotzdem empfindet er Nädhernys Verhalten als grausam, was in vielen Briefpassagen, wie z.B. der folgenden, zum Ausdruck kommt: "Meine Braut vor G o t t , . . . Du bist über mein Herz geschritten, Du wolltest mein 176 Gehirn zertreten und damit diese unsere Welt von Herr l ichkei t . . . " (BSN1, 145-46). Die in "Verwandlung" als "Schwester des Monds," "Verlobte des Windes" und im "ersten Menschenpaares" erscheinende weibliche Gestalt, schließt neben Salome andere Frauenbilder, z.B. das der "Schwester" ein. Am Schwesternkult der Jahrhundertwende waren nicht nur die Geschwister Johannes und Sidonie Nädherny selbst beteiligt. Auch Kraus trat z.B. in Thierfehd später öfters als Nädhernys Schwester auf. In dem Gedicht "Sendung" wird Kraus selbst zum Boten aus dem Jenseits für die um den Bruder trauernde Schwester. Die "Verlobte des Windes" rückt die Frauengestalt in die Nähe der "Windsbraut," einer 1 7 4 Timms, Apocalyptic Satirist 188-92. 1 7 5 Zitiert nach Oscar Wilde, Salomi, 15. Aufl., übersetzt von Hedwig Lachmann mit Illustrationen von Aubrey Beardsley (Frankfurt: Insel, 1993) 7. 1 7 6 Kraus' Hervorhebung. 114 mythologischen Hexengestalt, der magische Kräfte innewohnen und die mit dem Dämonischen in Verbindung steht. Kraus deutet dieses Bild selbst in einem Brief an, in welchem er Nädhern^ als c csanfte[n] D ä m o n " bezeichnet, der "an seinem Leben vorübergleitet und es m i t n i m m t . . . " (BSNl , 135). Das durch Mond und Sterne verbreitete fahle Licht, das durch die Blaßheit de r "Schwester des Mondes" noch betont wird, gibt dem Gedicht eine impressionistische Bildhaftigkeit, die durch eine sachte Bewegung implizierende Partizipien wie " schwebend , " "fliehend," "zitternd" intensiviert wird. Wir hören auch den klagenden Wind, der sich zum Sturm entwickelt, ein Motiv, das ebenfalls auf die erste Begegnung verweist: "Einer ha t einmal eine Stimme gehört, d ie wie ein Grabwind war und zum Sturm wurde" (BSN1, 143). Auch das Aufsteigen aus dem Grab und die angedeutete Rückkehr in die Erde impliziert Bewegung. Das Gedicht umfasst mit Erde, Mond und Sternen das ganze Universum und erhält durch die Andeutung des Jahreskreislauf eine Zeitdimension. Das Streben nach dem Ursprung, eines der Hauptmotive in Kraus ' Werk und in den Sidonie-Gedichten, begegnet in "Verwandlung" im "ersten Menschenpaar," das an zent ra ler Stelle des Gedichtes erscheint. Daß es hier symbolisch nicht um das biblische Paar A d a m und Eva geht, sondern daß Kraus weiter zurückgreift, kommt durch "Siehe so führt ein e r s tes Menschenpaar / wieder ein Gott auf die heilige Insel" zum Ausdruck. Es geht um "e in" erstes Menschenpaar, das "ein" Gott auf einer "heiligen Insel" zusammenfuhrt, die hier symbolisch für einen von den Sorgen des Alltags losgelösten Ort der Harmonie steht. D a s Motiv der Wüste und der damit verbundenen Oase, das auch in anderen Gedichten vorkommt—z.B. in dem 1918 entstandenen, das anagrammatische Akrostichon "E inod i s " bildenden Gedicht "Sehnsucht," verweist auf ein vorbiblisches Zeitalter, als die Erde noch I I S "wüst" und "leer" war. Auch Kraus' Vorliebe für Figuren aus der griechischen Mythologie in Gedichten wie "Vor einem Springbrunnen," "Abschied und Wiederkehr" und "Sage von Steinen" lassen diesen Schluß zu. Die Trauer des lyrischen Ichs, das ein Opfer ist und ein Opfer bringt, stellt durch den Verzicht auf die Geliebte eine Selbstentwicklung, aber auch eine Erlösung dar, die in den befreienden 'Thränen' mündet. Daß die weibliche Gestalt in Verwandlung, über die Person Sidonie Nadherny hinausreicht, wird auch durch die Plazierung des Gedichtes "Verwandlung" vor dem Gedicht "Vergleichende Erotik" deutlich, in dem es heißt: "So wird das Wunderbild der Venus fertig: . . . / Es wird Vergangenes mir gegenwärtig / hier klingt ein Ton, der längst im Grab verklungen / Das Venusbild, das meinem Kopf entsprungen" (WV10; 1,4,6, 8). Die einem Grab entstiegene "blasse Schwester des Mondes" vermischt sich hier nicht nur mit einem der reinen Vorstellungskraft entsprungenen Wunschgebilde, sondern auch mit den Zügen und der Stimme einer verstorbenen Geliebten, Annie Kalmar, um die Kraus seit ihrem Tod 1901 trauerte. Sie spielt auch in den Briefen an Nadherny im Zusammenhang mit den Gedichten "Abschied und Wiederkehr" und "Aus jungen Tagen" eine wichtige Rolle und Kraus dediziert ihr dreißig Jahre nach ihrem Tod noch das Gedicht "Annie Kalmar ." 1 7 7 Albert Bloch ist eine einfühlsame Nachdichtung von "Verwandlung" gelungen und hinterließ auch ein Bild "Metamorphosis," das in Anlehnung an Kraus' Gedicht ents tand. 1 7 8 1 7 7 "Annie Kalmar" ist in WV, 593 wiedergegeben. Zu "Abschied und Wiederkehr" und "Aus jungen Tagen" siehe S. 134-43 dieser Arbeit. 1 7 8 Abbildung siehe S. 118 dieser Arbeit. 116 Metamorphosis Voice in the Fall, renouncing over the grave your world, O pallid sister you of the moon, sweetest betrothed of the sorrowing night-wind, hovering poised among fugitive stars — did the cry of the spirit sweep you aloft to yourself? a storm from the waste bring you back to your life? Lo, so guides a God here once again a first mating-pair to the holy island! This is the Spring-day. Quivering presage of joy, through the world's Winter came golden the butterfly dancing. O kneel ye and bless, O hear how the earth is silent 179 She alone knoweth of heartbreak and weeping. Kraus und Nädherny verbringen den Jahreswechsel 1914/1915 in Venedig, bevor Nädherny im Januar nach Rom weiterreist. Kraus befindet sich selbst immer wieder in Rom, versucht Sidonie zu sehen, die in einem Wirbel gesellschaftlicher Verpflichtungen Kraus mehr und mehr aus dem Bewußtsein bannt. In seiner Überreiztheit überschreitet Kraus in seinen Briefen die Grenze des Zumutbaren, droht mit Selbstmord, ein wirksames Mittel, da Nädherny zuvor den Bruder auf diese Weise verloren hat und Kraus seine eigenen Selbstmordgedanken in unmittelbare Beziehung zu diesem Ereignis bringt: " . . . oder soll er schon heute Nacht einen Edlen deszen Freundesleben er vertreten wollte von der holden Schwester grueszen?" (BSN1, 144). Dieser Brief scheint tatsächlich eine Veränderung in Blochs Übersetzung zitiert nach Albert Bloch, German Poetry in War and Peace 51. Kraus' archaische Schreibweise. 117 Sidonies Plänen anzubahnen. Das Paar trifft sich wenige Tage später in Rom. Kurz danach entsteht dort das Gedicht "Verwandlung." Die Briefe vom 13. und 15. März rahmen das am 14. März geschriebene Gedicht ein. Sie sind von einer ruhigeren Stimmung gekennzeichnet. Der Entstehnung von "Vewandlung" scheint ein Sichabfinden mit den Gegebenheiten, ein bewußter Verzicht auf die Geliebte zugrunde zu liegen, der dann auch im Gedicht thematisiert wird. Nädherny hat in einem Brief an Bloch die Geschehnisse in Rom in der Form einer Erzählung geschildert: In dem Roman finden sich Anmerkungen der Angeredeten, während sie versucht, sich in ihren damaligen Zustand zurückzuversetzen. Wie Sie es tun werden, leidet sie bei dem Lesen, und jedes Wort des Schmerzes ist ein Herzstich, trotz des "happy end". Sie sagt, dass sie damals in Rom unglücklich war: zu hause wegen Unverständnisses war sie müde und mutlos nach Rom gekommen, gequält von der Erkenntnis, in diesem Zustand die grosse Liebe nicht in gleichem Masse erwidern zu können, wissend Schmerz zu bereiten und es nicht verhindern zu können. Zudem die vielen Ansprüche, die Freunde an sie stellten und die zu erfüllen sie sich bemühte und eine unselige Verlobung, ein mit dem Schreiber aus complicierten Gründen besprochener Plan, dem sie nicht gewachsen war und der heillose Verwirrung und erschöpfende Wochen zur Folge hatte, bis die Flucht vor Kriegsausbruch sie erlöste und von allen Rücksichten befreite. Sie erzählt, dass es ihr nachträglich unverständlich sei, was sie bewog, sich in ein Höllenleben hineintreiben zu lassen, während frühere Aufenthalte in Rom nur Schönheit, Landschaft und Kunst in tiefer 119 Ehrfurcht gewidmet waren. Ich habe diese Anmerkungen zu besserem Verständnis erwähnt. 1 8 1 Die Hochzeit wird mit der Begründung des bevorstehenden Kriegseintritts Italiens als Gegner der Mittelmächte offiziell verschoben, findet dann nie statt. Nädherny und Kraus 182 treffen sich erneut in Rom, wo das Gedicht "Vor einem Springbrunnen" entsteht. VOR EINEM SPRINGBRUNNEN Villa Torlonia Wie doch die Kraft das Wasser hebt! Es steigt und schwindet, schwillt und schwebt, es steht im Strahl, es kommt und fällt in diese nasse Gotteswelt, die zwecklos wie am ersten Tag bloß ihrer Lust genügen mag und von dem holden Überfluß an keine Pflicht verstatten muß, nur jener einen Macht sich beugt, die sie erschuf — zum Himmel steigt ihr Dank, ein immer früh und spät, unendlich rauschendes Gebet. Das rauscht und raunt, das rinnt und rennt im daseinsseligen Element; 181 SN an AB, Beilage zum Brief vom 29. Februar 1948. 1 8 2 Nike Wagner hat das Gedicht interpretiert in: Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1982) 61-66. 120 das fällt empor und steigt herab — kalt ist die Sonne, heiß das Grab. Und da es lebt, indem es stirbt, das Licht noch um das Wasser wirbt: Der Geist, dem solche Lust gefiel, dankt ihr ein Regenbogenspiel! Ob auch die Schale überfließt, ob Alles sich in nichts ergießt: der Geist, der es besieht, gewinnt, Und ob auch Lust und Zeit verrinnt. Und nichts besteht und Alles bleibt, dem heiligen Geiste einverleibt, der nah dem Ursprung, treu und echt fortlebt dem heiligen Geschlecht. Der Brunnen rauscht, nur ihm vertraut vom Jauchzen bis zum Klagelaut, dem ewigen Ton, der ihm nur sagt, daß hier die Lust die Welt beklagt, die ihre Lust zum Zweck verdarb, bis alles Licht des Lebens starb; die sich die eigene Liebe stahl und sich bestraft mit Scham und Qual. noch fließt ein Quell, noch flammt ein Licht, noch streben beide zum Gedicht, noch steigt die Sehnsucht hoch empor, noch öffnet sich ein Himmelstor — noch war ich auf dem Regenbogen beinah mit dir dort eingezogen, daß nie verrinne Lust und Zeit. O schöne Überflüssigkeit! (WV59-60) 1 8 3 Zwischen der Entstehung von "Verwandlung" und "Vor einem Springbrunnen" liegen sechs Wochen. "Verwandlung" thematisiert den bewußten Verzicht auf die "Braut vor Gott." "Vor einem Springbrunnen" feiert das Wiederaufleben der Beziehung als kosmische Erfahrung. "An einen Springbrunnen" knüpft an zwei bekannte Brunnengedichte an: C.F. Meyers "Der Römische Brunnen" und Rilkes "Römische Fontäne." Kraus' Untertitel "Villa Torlonia" und Rilkes Untertitel "Borghese" läßt ebenfalls den Vergleich mit Rilkes Gedicht zu. In seiner Version geht Kraus jedoch über eine lyrische Betrachtung des Brunnens als Kunstgegenstand hinaus und erfüllt ihn mit Leben. Das Rauschen und die ständig wiederkehrende Bewegung des Wassers kommt in der Alliterationsreihe "steigt," "schwindet," "schwillt," "schwebt," "steht" und "Strahl" zum Ausdruck. Eine Fülle von Fallen und Fließen implizierenden Verben, wie "überfließen," "ergießen," "verrinnen," und antithetische Konstruktionen wie "emporfallen" und "herabsteigen"verstärken den Eindruck eines mit Leben erfüllten Brunnens. Die fast ausschließlich abstrakten Substantive (z.B. 1 8 3 SN für AB: "3. Vor einem Springbrunnen (Frascati, 30. April 1915). Im Manuskript: "Mit dir vor einem Springbrunnen." Erste Fassung: 2. Zeile: Es schwillt und schwindet, steigt und schwebt. 6. X.: statt bloss nur. 8.Z. statt verstatten vergeben. Vorletzte Strophe: statt streben strömen. Vorletzte Z.: Rufzeichen nach Zeit. Inhalt: Mann und Weib. Geist und Geschlecht. Klagelaut der Frauennatur über die Begrenzung des Mannes ("Abschied und Wiederkehr")." Nädhernys Hervorhebungen. B1H: "Rom, 30.4. 1915, Frascati. Im Manuscript für mich heisst das Gedicht: "Mit dir vor einem Springbrunnen. Erstanden in erotischem Glückstaumel. Mann und Weib. Geist u. Geschlecht. Klagelaut des Weibes über die Schwäche des Mannes, den es jedesmal genoss - u. verlieren muss. - Siehe auch BSN2,27. 122 "Strahl," "Gotteswelt," "Lus t , " "Himmel" "Gebet," "Sonne," "Licht," "Geist" "heil iger Geist," "Ursprung," "Licht des Lebens," "Liebe" und "Sehnsucht") verweisen auf e ine geistige Sphäre. Den abstrakten Substantiven stehen nur die beiden konkreten Substantive "Grab" und "Schale" gegenüber, gefäßartige Gegenstände, die das Reich des Todes und der Weiblichkeit symbolisieren, von Kraus in den Sidonie-Gedichten oft verbundene Bereiche. Das Element Wasser, Sinnbild des Lebens und der Lebenskraft, nimmt zwischen den abstrakten und konkreten Substantiven eine Zwischenstellung ein. Das steigende und fallende Wasser des Springbrunnens symbolisiert das Element, das nach dem Weltbild von Kraus Geist (=Mann) und Natur (=Frau) und durch den Regenbogen Himmel und Erde vereint. An dieser Stelle soll noch einmal auf Kraus ' Essay "Der Reim" zurückgegriffen werden. Der Reim ist für Kraus eine Art Wettlauf, bei dem die eine Reimhälfte Hürden überwinden muß, um die andere Reimhälfte zu erreichen: "Welch einen Anlauf hat da die andere [Reimhälfte] zu nehmen, um trotz der Hemmung solcher Vorsetzungen zum Reimkörper selbst zu ge l angen . " 1 8 4 "In einem Springbrunnen" gibt es mehrere Beispiele von Reimen, die an zentraler Stelle Hindernisse zu überwinden haben. Z.B. verdankt der (männliche) Geist, dem die (weibliche Lust) "gefiel," dieser ein "Regenbogenspiel ." D ie Reimwörter "gefiel" und "Regenbogenspie l" haben nicht nur eine Barriere zu überwinden, sondern Form und Inhalt treffen sich im "Regenbogenspiel ," das in einem schöpferischen Akt, der Entstehung eines Gedichtes , gipfelt: "Noch fließt ein Quell, noch flammt ein Licht, / noch streben beide zum Gedicht ." "Vor einem Springbrunnen" ist das erste Gedicht, in dem Nadherny als die Quelle dichterischer Inspiration erscheint. 1 8 4 Kraus, "Der Reim," Die Sprache 325. 123 Nädherny bleibt nach Kraus' Rückkehr nach Wien in der Schweiz, wo sich das Paar Ende Mai wieder trifft, um in Begleitung von Mary Cooney zu einer mehrwöchigen Schweizrundreise aufzubrechen. Vor Reiseantritt erwirbt Nädherny den Führerschein, was fur eine Frau ihrer Zeit höchst außergewöhnlich ist. Sie ist auf künftigen Reisen mit Kraus grundsätzlich die Wagenlenkerin. Erst Anfang Juli 1915 kehrt Nädherny nach monatelanger Abwesenheit, die nur Anfang April für einige Tage unterbrochen war, nach Janovice zurück. Die Tagebucheinträge der Zeit sind von innerer Zwiespältigkeit gekennzeichnet und 185 dokumentieren, daß sich Nädhern^ nach wie vor als Guicciardinis Braut betrachtet. Rilke hatte sein Bedauern über die Verschiebung der Hochzeit Ende Mai zum Ausdruck gebracht . 1 8 6 Sidonie sucht nun seine Gesellschaft, lädt ihn für den Sommer nach Janovice ein, trotz Kraus' Eifersucht auf den Dichterkollegen, die in vielen Briefstellen, wie z.B. der folgenden durchscheint: Als einst mein natürliches Interesse, das wir getrost Eifersucht nennen wollen, dem wochenlangen Zusammensein mit R.[Rilke] eine natürliche Seite absehen wollte, warst Du es, die die erotische Neutralität des Falles fast mitleidig betont und aus der rein weiblich-ästhetischen Einstellung des R. zur Frau erklärt hast — eine Darstellung, die auch dem Eifersüchtigsten einleuchten müßte, der nur ein Zeile von R. gelesen hat (BSN1,164) TBSN, 22. Juli 1915: " . . . my thoughts drifted - I saw past years with Johannes - Johannes & now - I am a bride - alone - Carlo in the war, perhaps dead, & if not, does he love me yet? & K.K. so kind, so good, & I cannot make his life happy - because my thoughts an feelings are in the past." and now I am a bride - alone - Carlo in the war, dead, & if not, does he love me y e t ? . . . " teilweise abgedruckt in BSN2, 33. 1 8 6 Rilke schreibt: "Nun h a t . . . das allgemeine Schicksal auch Sie näher berührt, Liebe, und Ihnen eine Verzögerung ins Leben gelegt, die hoffentlich nicht lange Macht behält." Briefe an SN, Brief vom 30. Mai 1915. 124 Rilke lehnt die Einladung mit Bedauern ab, dafür verbringt Kraus den Äugst 1915 auf dem böhmischen Schloß. Kurz vor seiner Ankunft schreibt Nadhern^ in ihr Tagebuch: " . . . I have changed towards kind, good K.K. [His] coming is quite all the same to me. -1 think if I 'd be Countess Guicciardini, then I have fullfilled my duty towards Papa, Johannes & Charlie, then I could die . . . My life has grown without aim & hope. I shall go away in autumn, alone. I want freedom, solitude or new peop le . . . " Die Möglichkeit einer Ehe mit Guicciardini hat Nadherny drei Monate nach der offiziellen Verschiebung der Hochzeit noch nicht aufgegeben. Ihr Festhalten an vermeintlichen Verpflichtungen der Familie gegenüber scheint in dieser Passage mehr als an anderen Stellen durch. Man muß sich vor Augen halten, wie schwierig sich in dieser Zeit ihr Leben gestaltet. Für eine ledige Frau gibt es in dieser Epoche nur Außenseitertum, keine Normalität. Sie wird von der Gesellschaft automatisch als "alte Jungfer" abgestempelt, die ihrer Familie zur Last fällt, oder als Frau mit fragwürdigem Lebenswandel. Die Chancen der fast dreißigjährigen Nadherny, einen standesgemäßen Ehepartner zu finden, werden von Jahr zu Jahr geringer. Sie muß sich nach wie vor dem Bruder unterordnen, dessen Bevormundung sie sich eigentlich durch eine Heirat entziehen wollte. Ihre Gefühle für Kraus änderten sich, wohl nicht zuletzt wegen des massiven Drucks, den er ausübt. Trotzdem kann sie sich ihm nicht entziehen. Kraus' Aufenthalt auf Janovice im August bewirkt wieder eine bewußte Hinwendung zu Kraus. Nach seiner Abreise von Janovice Anfang September 1915 schreibt Nadherny in ihr Tagebuch: Love, the most sacred, may never know a compromis[e], except for a high purpose: The best, greatest, deepest man that ever lived, the most kind, the most noble loves 1 8 7 TBSN, 1. August 1915. Nädhernys Hervorhebung. Teilweise auch BSN2, 34. 125 me - as man never got loved. And this his great, immense love has m a d e h im write beautiful thoughts and poems. He lives but for me, & and when once 1 wan ted it to be otherwise, all was quenched in his head; he was on the verge of madness . All this surely should make m e proud & happy - but it makes me sad, for even if he deeply touches me & makes m y life so rich . . . my heart remains silent w h y I wanted to marry, was to withdraw myself from him. But this is mean cowardice. And I write it down here, to remember it better, what my life's aim has to be - till I love again : never to disappoint him who has set his life on me For to leave h im . . . would perfectly destroy h im, for he could never more take a pen in his hand . . . w h a t more sacred duty can a woman find, then to make a great man happy, & m o r e than that, to know that nearly all he writes comes to him through me . . . K.K left yes te rday after a month's stay, in which he wrote so busily for the drama & the Fackel & wro te : "Die Krankenschwestern" . . . 1 8 8 Nädherny gesteht sich ein, daß sie die Heirat mit Guicciardini auch in Erwägung zog, um sich von Kraus zurückziehen zu können, ohne ihn zu verletzen. Ihrem Drang nach Unabhängigkeit macht schließlich ein ausgesprochen traditionelles weibliches Selbstverständnis Platz. Sie entschließt sich, vorübergehend ihre eigenen Wünsche zu Gunsten von Kraus zurückzustellen und ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen, da sie erkennt, welche Bedeutung ihr als Inspiration für Kraus ' Werk inzwischen zukommt. Zur selben Zeit entsteht sein viertes Sidonie-Gedicht, "Die Krankenschwestern ," ein Gedicht das in der Fackel e inem polemischen Aufsatz über den Einsatz von Krankenschwestern in den Kriegslazaretten folgt. Kraus verurteilt diese Art der Betä t igung, 188 TBSN, 2. September 1915. Teilweise auch in BSN2, 174. 126 da Frauen in den Lazaretten nach seiner Ansicht eine dem weiblichen Geschlecht unangemessene Arbeit verrichten müssen und es der Genesung Schwerverletzter seiner Ansicht nach abträglich ist, von weiblichen Kräften betreut zu werden. 1 8 9 "Die Krankenschwestern" ist das erste Gedicht, das die Gegenwelt Janovice behandelt. Die in "Die Krankenschwesern" vorkommenden Samariterinnnen stehen im Gegensatz zu den in den Kriegslazaretten die Verwundeten betreuenden Krankenschwestern. DIE KRANKENSCHWESTERN Gott hat sich als ein Hirt des Schäfleins angenommen, der suchts, der fands, der filhrts neu in den Schafstall ein. Auch nur um eine Seel war er auf Erd gekommen: Wie werth muß doch bey Gott die ärmste Seele seyn. Die ärmste Seel bei Gott war eines Schmetterlings, der wie ein grünes Blatt auf weißer Mauer lag. Die Welt war schwarz von Blut. Wer achtete des Dings, das ihrer Nacht entfloh, zu retten seinen Tag. So abgewandt der Zeit, so zwecklos, pflichtvergessen, so Spiel und Farbe wie der grüne Schmetterling, so freuten sich mit ihm die stolzen zwei Komtessen, das ganze Schloß war stolz, daß es den Gast empfing. Doch abends war man bang. Schwer wurden leichte Herzen. Was hat der Not der Welt die beiden zugewandt? Am Himmel brennt ein Stern, im Zimmer brannten Kerzen, dahin zur letzten Lust — der Falter war verbrannt. Noch zuckt das grüne Ding, die ärmste Seele zittert vor ihrem letzten Flug. Die Hinterbliebenen weinen. Der Aufsatz erschien in der Fackel 406-412 (Oktober 1915): 142-46. 127 Die wundenreiche Zeit hat keine so erschüttert, wie solcher Schwestern zwei das Sterben dieses einen. Die Wärterin, sie muß so lang des Menschen warten, muß warten, bis der Tod an ihre Stelle tritt. Weh dieser Mitleidswelt, weh dieser allzu harten, so lang will sie das Leid, dann leidet sie gern mit. Weil wahres Mitleid schnell das Leid sucht zu beenden, so schicken zwei zum Arzt um Äther, aus dem Haus eilt ein beflissner Knecht, in seinen guten Händen bringt er die Wohltat; seht es zuckt, der Kampf ist aus. Der Diener ist schon alt, als hätt' er viele Jahre schon Gott gedient, so sieht er in die fremde Zeit. Zehntausend Juden sind nicht wert dies eine wahre, einfaltige Gesicht voll Dienst und Dankbarkeit. Die Welt trägt ihren Fluch, hier diese Welt ist gnädig; die kämpft um Höllenlohn, die um den Himmel warb. Zwei Krankenschwestern stehn, so aller Pflichten ledig. Die Welt ist todgewohnt; der hier ein Falter starb. Hier findet Gott noch gut, was einstens er erschuf. Hier freut er sich am Spiel, spielt Mensch und Hund und Wind. Hier liegt ein grünes Blatt. Die Seele folgt dem Ruf. Ihr Tag war schön, so schön wie hier die Tage sind. (WV, 55-56) 1 SN für AB: "4. Die Krankenschwestern. Schloss Janowitz, 16./17. August 1915. Im Manuskript "Der Tod eines Schmetterlings" als Titel durchgestrichen. Er war Zeuge der Begebenheit. Die Schwestern sind eine Freundin und ich. Das Bild des Dieners stand eingerahmt in seinem 128 Das Gedicht fällt nur auf den ersten Blick in die Kategorie "Gelegenheitsgedicht." Es beschreibt, wie sich ein Schmetterling ins Schloß verirrt und dort, nach einer Lichtquelle suchend, in den Flammen einer Kerze verbrennt. Die sich im Schloß befindlichen "pflichtvergessenen, stolzen Komtessen" und ein "beflissener Knecht" machen dem Leiden des Schmetterlings aus Mitleid ein Ende, "weil wahres Mitleid schnell das Leid sucht zu beenden." In dem 1918 entstandenen, zu Kraus' Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Entwurf des Gedichtes "Schäfers Abschied" ruft sich das lyrische Ich die Begebenheit in Erinnerung zurück: "Damals war ich Schmetterling, / Ihr zwei Krankenschwestern" (BSN2, 295). Das Ich sieht sich symbolisch als der Schmetterling, der in der Geborgenheit der Parkmauer und des Schlosses auf eine Neuwerdung hofft. Der grausamen Welt des Krieges steht die heile Welt innerhalb der Parkmauern gegenüber. Das Ich versucht, der grausamen Welt des Krieges ("Die Welt war schwarz von Blut") zu entrinnen, um seine Welt zu retten ("das ihrer Nacht entfloh, zu retten seinen Tag"). Der Schlüssel zu dem Gedicht befindet sich in der zentralen fünften Strophe. Obwohl die Schloßbewohnerinnen mit dem Falter leiden, zeigen sie kein echtes Mitgefühl. Sie haben Mitleid mit dem Falter, weil sie Mitleid haben wollen. Dem Ich wird nicht die gleiche Pflege zuteil, obwohl dies die eigentliche Aufgabe der Krankenschwestern oder zumindest einer der Schwestern wäre: "Die Wärterin, sie muß so lang des Menschen warten, / muß warten, bis der Tod an ihre Stelle tritt. / Weh dieser Mitleidswelt, weh dieser allzu harten / so lang will sie das Leid, dann leidet gern sie mit." Das Ich kann der seelsorgerischen Wartung nicht entbehren. Dadurch wird sie der Wärterin bis zum Tod des Menschen zur Pflicht. Diese unabdingbare Pflicht wird durch das Arbeitszimmer bis zu seinem Tod." B1H: " . . . .der Diener war der alte Portier Dvorak,..." (BSN2, 174). 129 zweimalige, doppelsinnige "muß warten" betont. Aber die "pflichtvergessene" Wärterin nimmt diese Aufgabe nicht ernst. Sie leidet nur mit, wenn sie mitleiden möchte. Das wahre Mitleid wäre es, wenn sie dem Ich dieselbe Zuwendung erwiese, wie sie dem Schmetterling durch den einfältig-frommen Diener, der aus einer früheren, besseren Zeit zu stammen scheint, zuteil wird. An die den Diener beschreibende Passage schließen sich die beiden Zeilen "Zehntausend Juden sind nicht wert dies eine, wahre, /einfältige Gesicht voll Dienst und Dankbarkeit" an, die auch Bloch und Kraft in ihrem Briefwechsel diskutierten. Kraft bezog trotz seiner großen Bewunderung für Kraus als von den Nationalsozialisten Verfolgter zu antisemitischen Äußerungen von Kraus, zu denen sich dieser trotz der eigenen jüdischen Herkunft vor allem vor und während des Ersten Weltkriegs hinreißen ließ, eine kritischere Haltung als der in den USA in Sicherheit lebende Bloch. 1 9 1 Bloch schreibt Kraft, er habe die "aufgeführten Worte . . . zu sehr buchstäblich genommen," in dem Gedicht sei kaum ein Wort wörtlich zu verstehen: Warum sollten gerade jene zwei wörtlich aufgefaßt sein? K. konnte unmöglich "Journalisten" oder "Kommis" setzen—und nicht nur aus rhythmischen Erwägungen. Er mußte eben einen Begriff setzen, der jenem, der in seiner Welt und Luft zuhause ist sofort verständlich, selbstverständlich und notwendig erschiene. Ich habe bei hundertmaliger Lektüre dieses allerdings "schwierigen" Gedichts niemals an die gedacht von denen sich der Begriff ableitet. Daß er das t u t . . . liegt schon in der bekannten begreiflichen Gefühlart und Denkweise eines im Grunde religiösen Kraft bezieht sich in seinem Brief vom 14. Mai 1933 auf "Die Krankenschwestern." Kopie Archiv Ana Bloch. 130 Menschen wie K., wie eben ich, als Amerikaner, davon durchdrungen bin, daß die heutige Welt amerikanisch wie auch sonst verseucht i s t . 1 9 2 Bloch kommt mit seiner Interpretation der Krausschen Gedankenwelt sehr nahe. So schreibt Kraus an Nädherny: "Es ist ein entsetzliches Gefühl, zu wissen, daß Wien, Presse, Juden aller Konfessionen mit Schmutz auf einen warten. Aber was vermag es gegen das Gefühl, in solcher Wartezeit ein Gedicht geschrieben zu haben . . . (BSN1, 376)." Wie in diesem Briefauszug, verwendet Kraus den Begriff "Jude" in der von Bloch aufgezeigten Weise. In "Die Krankenschwestern" kann er gleichwohl auch als Ausdruck der Frustration über die eigene Ausgeschlossenheit gelten—Kraus fühlte sich in Janovice öfters entfremdet, besonders in Gegenwart von Karl Nädherny und Dora Pejacsevich. Dieses Nicht- Dazugehören kommt in "Die Krankenschwestern" und später entstandenen Gedichten immer wieder zum Ausdruck. Ein Beispiel dafür ist die im Oktober 1916 in Janovice entstandene Inschrift "Drei," welche die Akrostichen "Sidi," "Dora" und "Karl" bildet. Drei So nehmt zum Abschied dieses Liedes Lohn, Ich schenk' euch gerne ein Akrostichon. Handschriftlicher Briefentwurf Bloch an Kraft, 27. Mai 1933. Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. An Nädhern^ schrieb Bloch in diesem Zusammenhang: Zu den Krankenschwestern fällt mir plötzlich ein, daß sich bei mir vor Jahren ein Hitlerflüchtling aus Paris über die "Ungerechtigkeit" von jener Stelle in diesem Gedicht von den "zehntausend Juden" brieflich beklagte (als ich gelegentlich einiges gegen eine gewisse Sorte von Juden vorbrachte). K.K. hat es seinen Anhängern (und dieser war einer und ist es auch geblieben) gewiß nicht leicht gemacht sich hinter und zwischen seinen Worten zurechtzufinden; aber gerade dieser Mensch, der ein wahrer und feiner Geist ist, hätte es doch können sollen und sofort begreifen müssen, wie jene Stelle gemeint ist, wie sie eben damals gemeint sein mußte. Ob ich in meiner Antwort es unternommen habe, meinen Korrespondenten aufzuklären, weiß ich nicht mehr." 131 Die Namen zweier sind nicht zu verkennen, In Lied und Leben sind sie nicht zu trennen. Doch bitt' ich euch, nehmt mich in euern Bund. Ob Sidis Ohr, ob Doras Liedermund — Ruf ich "Verwandlung" ihnen beiden zu, Antwortet beides, Stimme mir und Ruh' . Kaum glaubt' ich je , ich ahnt' es selber kaum, An eurem Maß blieb' mir noch Reim und Raum. Reicht mir die Hand, so schließen wir die Reih' — Leicht finden sich zusammen alle drei. (WV, 101) 1 9 3 In "Lied und Leben" sind nicht etwa "Sidi" und "Karl" nicht zu trennen, sondern "Sidi" und "Dora." Karl muß darum bitten, in den Bund aufgenommen zu werden und darum, daß man ihm die Hand reiche, um den Kreis zu schließen. Er ist der Außenseiter, dem der Beitritt zum Bund nicht ohne weiteres möglich ist. Selbst der Zugang zum Schlafzimmer der Geliebten wird von Dora, auf die Kraus oft eifersüchtig ist, versperrt: " . . . wenn ich hineinsähe, würde ich zurücktreten, in dem Glauben, D[ora] schlafe auf dem Divan . . . " (BSNl, 221). Zur selben Zeit wie "Drei" entsteht ebenfalls auf Janovice die dreiteilige Inschrift "Gespräche," die im dritten, das Akrostichon "Charlie" formenden Teil Kraus' Gefühl der Isolation wegen seines Judentums deutlich zum Ausdruck bringt: III Christliche Gespräche theilen, wäre gut. Hab' ich einmal das Wort, so hab' ichs nicht; Aus ist's mit dem Gedicht. 1 V 3 SN für AB: "12. Drei (S.38) "Janowitz, 19./20., 20./21 Okt. 16 vor der Abreise." Akrostichon: Sidi, Dora, Karl. 132 Ruft jener eine Frage schnell dazwischen, Zauscht ihm ihr Ohr, es läßt sich nichts entwischen. Ich aber leiste still Verz ich t - Er sagte grad, in alles mische sich der Jud. (BSN2, 246) Nädherny zeichnete für Bloch nur den zweiten bis dahin unveröffentlichten, das Akrostichon "Sidonie" bildenden Teil von "Gespräche" auf. Den hier zitierten dritten Teil erwähnt sie Bloch gegenüber nicht. Sie führte ihn jedoch im "Blauen Heft" auf, ohne die Strophe selbst wiederzugeben, die sie als "Phantasie" abtut . 1 9 4 Das Verschweigen des dritten Teils der Inschrift in den Aufzeichnungen für Bloch ist aufschlußreicher, als die Wiedergabe gewesen wäre, da es doch Nädhernys Schuldgefühe eher verrät als ein Zitieren. Obwohl Nädherny den Nationalsozialismus weder zu Lebzeiten von Kraus noch danach unterstützte und selbst unter der Naziherrschaft litt, kommt ihr Antisemitismus auch zur Zeit des Briefwechsels mit Bloch SN für AB: "13. Gespräche Janowitz, gleiches Datum, [wie "Drei" elc]. Meinem dazwischenfragenden Bruder gab ich schnell eine Antwort, um dann wieder K.K. zuzuhören. Ueber diese Art Gespräche gab es oft lustige Debatten zwischen uns Dreien. In derselben Nacht entstand auch folgendes (undgedruckte[s]) Akrostichon: Gespräche II. Sobald ich zu ihr sprach, Ihr Ohr gehörte jenem Frager dort. Der gab so schnell nicht nach, Oft kam ich gar nicht mehr zu Wort. Nicht Hess er sich durch seinen Vormann stören. Ich war so taktvoll, zuzuhören- Es sprachen nun die beiden fort." B1H: "Wenn mein Bruder dazwischen sprach, antwortete ich ihm schnell, damit ich dem anderen wieder zuhören könne. Im Manuscript längere Fortsetzung, wobei die letzte Zeile Phantasie ist." Zum Hintergrund der Entstehung der Gedichte "Drei" und "Gespräche" siehe auch BSN2,245. Auch der erste in den Inschriften des zweiten Bandes von Worte in Versen veröffentlichte Teil von Gespräche hat einen negativen Unterton: "Die beiden ließen sich durch mein Gespräch nicht stören. / Sie horchte auf, wenn er dazwischen sprach. / Es war so wichtig ihr, mir zuzuhören, / daß sie mich, sagt sie, unterbrach." Dieser Strophe folgt in Worte in Versen die Inschrift "Selbstlose Gesellschaft," in der es heißt: "Mit jenen schlimmen Schwindlern Vorsicht übe, / die sich in deine Sachen mischen./ Sie machen dir das Wasser trübe, / ohne darin zu fischen. // Sie mengen sich in deine Interessen / zu einem ganz selbstlosen Zwecke. / Sie möchten nicht von deinem Tische essen, / nur daß es dir nicht schmecke." Auch diese Inschrift kann durch die Plazierung nach Gespräche als Kritik an Nädhern^ verstanden werden, die sich nach der Auffassung von Kraus zu sehr an der Meinung des Bruders, Dora Pejacevic und Rilkes orientierte, anstatt eine eindeutige Entscheidung zugunsten von Kraus zu treffen. 133 noch zum Vorschein, wie z.B. eine Bemerkung in der Diskussion über ein mögliches deutsches Lesepublikum für die Schriften von Kraus in den USA zeigt: "Es muss doch von deutschen Emigranten wimmeln, die j a vielfach bessere Menschen waren (ich meine die , die nicht aus Furcht, sondern aus freier Wahl die Emigration vorzogen) ." 1 9 5 Dieser Satz ist nicht nur wegen des antisemitischen Untertons befremdlich, sondern auch, weil er aus der Feder einer Frau stammt, die kurze Zeit später ebenfalls aus Furcht vor Verfolgung dazu gezwungen ist, ihr Land zu verlassen. Daß der Garten von Janovice für Kraus hauptsächlich in der Gegenwelt Wiens zum Paradies und seine Bewohnerin zum überirdischen Wesen stilisiert werden, zeigen die nächsten vier Widmungsgedichte "Abschied und Wiederkehr," "Aus jungen Tagen," "Wiese im Park" und "Sendung," die in Wien zwischen Mitte November und Mitte Dezember 1915 entstehen. ABSCHIED UND WIEDERKEHR Offenbarung Löst sich die Lust von ihrem letzten Lohn, so klammert sich ans Herz ein Klageton. O ewiger Abschied ewiger Wiederkehr— wohin entrinnst du und wo kommst du her! Du Echo, das mit einer Nymphe ruft in der Geschlechter unnennbaren Kluft! Du Stimme, die mit einer Nymphe weint, weil die Natur so trennt, was sie vereint — SN an AB, 10./11. Februar 1948. 134 Schmerzvoller Nachhall der Unendlichkeit! Du Angst des Blickes in die Endlichkeit! Durch alle Schöpfung blutet dieser Riß — Echo klagt immer wieder um Narziß. Hat es der Schöpfer denn gewollt, gewußt? Lust so von Lust verkürzt, ergibt Verlust. Lebendige Lust, du klagst am Sarg der Lust, von deren Tod du selber sterben mußt. Du Grabwind, Leid und Lied zum eignen Grab, du willst nicht in den finstern Tag hinab. So leuchtend war die Nacht; der Tag ist grau. Entläßt die Nacht den Tag, so weint sie Thau. Stumm ist die Wonne, der das Wort entspringt. Lust weckt den Geist, der ihr kein Wort entringt. Du letzter Laut, der mir von weit her spricht, mir wird die Sprache, du bist das Gedicht. Du reichstes Glück, das im Gewinn verlor, Du größte Kraft, die an der Glut erfor, Du Augenblick der Liebestodesangst, der du dich selber zu verlieren bangst — verweile Augenblick, du bist so schön! Ich sag's zu ihm. Ich hab das Aug gesehn! Legende Doch ist er fort. Sie hat ihn mitgenommen beim Abschied ihrer selbst. Ich stand beklommen. Wie alles Licht in Rauch und Nebel schwand ein armes Hündchen plötzlich vor mir stand. Sah zu mir auf und hatte ihren Blick. Ließ sie mir ihn als Unterpfand zurück? Und wie es wimmernd immer zu mir schaut, so war 's ihr Schmerz, so war's ihr Klagelaut. Ihr Abschied war 's und war ihr Wiedersehn — die Zeit bleibt stehn, ein Wunder ist geschehn. Dies Auge, diesen Ton hab ich gekannt! Vergehendes ist in die Zeit gebannt! Die lustverlorne Göttin war ein Schall; er rief mich aller Wände aus dem All. Nun ruf ich ihn zurück; ich warte hier — da ruft er mich verwandelt aus dem Tier. Wir kennen uns, ich und die Kreatur — es ist ein Wunder: glaubet, glaubet nur! Die letzte Spur vom Glück ist neues Glück. Das Echo ging, ein Echo blieb zurück. Leid klagt um Lust, ich klage um das Leid; nun ist es da, so ist die Lust nicht weit. Verlorner Lust, verlorne Klage klingt. Ich höre nur, daß jetzt ein Engel singt. Verlorner Lust verlorner Ton ertönt. Ich sehe eine Seele, die sich sehnt und wiederkehrt. Der Abschied ist ein Spiel. Sie ging und suchte, bis sie hin zum Ziel, vorbei der Menschheit, irdisch unerkannt, 196 den Weg durch ein verlornes Hündchen fand. (WV, 62-64) Wie Kraus Nadherny erklärt, möchte er im ersten Teil des Gedichtes "Offenbarung" den "heiligste[n] Augenblick des Frauenlebens" (BSNl, 217)—fur Kraus die Liebesvereinigung, die hier im Klageton der Frau mündet—lyrisch festhalten. Im zweiten Teil soll der Abschied von der Geliebten, der "als Lebensabschied wirkt-er soll es, denn er wird ja immer so erleb f9 197 (BSN 1,217) dichterisch verarbeitet werden. Bei näherer Betrachtung beschreibt das Gedicht bereits im ersten Teil die vom lyrischen Ich als leidvoll empfundene Trennung von 1 9 6 SNft l rAB: "5. Abschied und Wiederkehr. Wien, 6./7. Nov. 1915." B1H: 6./7. Nov. Iglau. Wir verbrachten dort eine Nacht. Dieser Klageton des Weibes zerriss ihm stets das Herz. Dann begleitete er mich zur Bahn, mein Zug brachte mich fort, da stand plötzlich im Restaurant ein kleiner Hund neben ihm u. er hörte ihn wimmern - es war derselbe Klagelaut." 197 Kraus' Hervorhebungen. 137 der Partnerin. Manfred Schneider spricht von einem "lyrisch besiegten Trennungstrauma." Dieses Trauma wird durch den in die Erinnerung gerufenen Klagelaut allmählich überwunden. Der pars pro toto fur die Geliebte stehende Klageton manifestiert sich zunächst im Ruf der Nyphme Echo, die den in sich selbst verliebten Narziß nie erreichen kann. Dieser Ruf geht in eine leise weinende Stimme über, bevor sie nur noch als Grabwind hörbar ist. Bevor der Klageton endgültig zu versiegen droht, wird er im Gedicht verewigt, "Stumm ist die Wonne, der das Wort entspringt. / Lust weckt den Geist, der ihr kein Wort entringt. / Du letzter Laut, der mir von weit her spricht, mir wird die Sprache, du bist das Gedicht." In dem Moment, in dem der Klageton zum Gedicht wird, wird die als "Liebestodesangst" empfundene Trennung "zum reichsten Glück," zum "Augenblick der Liebestodesangst," an dem das Ich festhalten möchte und der zu dem Lebenshöhepunkt wird, zu dem es sagen kann: "Verweile Augenblick, du bist so schön, / Ich sag's zu ihm. Ich hab das Aug 199 gesehn!" Der Augenblick des Liebesglücks wird zu des "Wortglücks Augenblick," von dem Kraus in seinem Gedicht "Der Reim" spricht. 2 0 0 In seinen Briefen an Nädherny diskutiert Kraus ausfuhrlich die Entstehung von "Abschied und Wiederkehr." In dem Gedicht, auch wenn es ausdrücklich Sidonie 1 9 8 Manfred Schneider, Die Angst und das Paradies des Nörglers: Versuch über Karl Kraus (Frankfurt: Syndikat, 1977) 59. Eine ausführliche Diskussion des Gedichtes befindet sich auf S. 59-65 des Buches. 199 Dies ist eine Anspielung auf Fausts Pakt mit Mephisto: "Werd' ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / . . . Dann will ich gern zugrunde gehn!" Zitiert nach Johann Wolfgang Goethe, Faust: Der Tragödie erster Teil und zweiter Teil, Urfaust, Hrsg. Erich Trunz (München: Beck, 1986) 57(1700). 200 _ In dem Gedicht "Der Reim" heißt es am Ende: "Gebundenes tiefer noch zu binden. / Was sich nicht suchen läßt, nur finden, / / was in des Wortglücks Augenblick, / nicht aus Geschick, nur durch Geschick . . . " (WV96, 52-54). 2 0 1 Siehe dazu besonders die Briefe vom 8. und 12. November 1915, BSN1,217-22. 138 gewidmet ist, verarbeitet der Dichter Kraus auch Erinnerungen an seine frühere Geliebte, Annie Kalmar, deren Tod er nur schwer überwinden konnte, die in ihm weiterlebte und deren Grab in Hamburg er bis zu seinem Lebensende pflegte. Sidonie selbst scheint die Verbindung zu Annie Kalmar in "Abschied und Wiederkehr" gespürt zu haben. In der nachstehenden Passage greift Kraus eine Äußerung Nädhernys auf: Das Tod-Abschiedsmotiv ist nicht ausgesprochen, nur, ganz natürlich, so weit spürbar, als der Abschied von der Geliebten, und gienge sie bloß aus dem Zimmer, als Tod erlebt wird (wie j a in der "Offenbarung", ihr Abschied von der Lust). Andrerseits ist die Projicierung auf einen toten Anlaß, die sich den "Vertrauten meines Lebens" - nur diesen- ergibt, kein Umecht an jenem (das sie bei künstlicher Verwendung wohl wäre). Denn ich habe ja damals beten gelernt - durch Dich erst künden. Deine Offenbarung! (BSN1, 222) Aus Anspielungen von Kraus und Nädherny kann man schließen, daß Sidonie Kraus schon zur Zeit der ersten Begegnung an die verstorbene Geliebte erinnerte. Nädherny hielt eine entsprechende Bemerkung von Kraus in ihrem Tagebuch fest: " . . . die Stimme, klagend, hell u. doch kaum vernehmbar, verschollen - seit vielen Jahren hat mich keine Frau so be rühr t . . , " 2 0 2 Im März 1914 schreibt Kraus unter Anspielung an Annie Kalmar an Nädherny: "Me seit damals, nie wieder hat meiner Leidenschaft ein solcher Ton geantwortet" (BSN1,26). Erinnerungen an Annie Kalmar fließen wie schon in "Verwandlung" auch in "Abschied und Wiederkehr"mit ein: "Dies Auge, diesen Ton hab ich gekannt, / Vergehendes ist in die Zeit gebannt." In dem erst 1931 entstandenen Gedicht "Annie Kalmar" heißt es noch: "Mit ihrer süßen Stimme brach ein Stern, / . . . in ihrem Aug 2 0 2 Siehe dazu auch S. 72 dieser Arbeit. 139 war alle Erdenwonne" (WV 593; 2 ,4) . Wie in "Abschied und Wiederkehr" erinnert das lyrische Ich Stimme und Blick einer entfernten Geliebten, sei es durch Tod oder räumliche Entfernung, die ein übersteigertes lyrisches Ich als Tod empfindet. Zumindest der Dichter, wenn nicht die Person Kraus vermischt die beiden Geliebten in "Abschied und Wiederkehr." Auch in dem Gedicht "Der Reim" greift Kraus das Motiv des Schalls und den aus dem Schall resultierenden dichterischen Schöpfungsakt auf: "Dort ist's ein eingemischter Klang, / hier eingeboren in den Drang. // Sei es der Unbedeutung Schall: ein Schöpfer ruft es aus dem All" (WV95, 43-46). In "Abschied und Wiederkehr" heißt es "Die lustverlorne Göttin war ein Schall; er rief mich aller Wände aus dem All," was wohl von überall her oder aus allen Richtungen bedeutet und ein weiterer Hinweis darauf ist daß eine vergangene Erfahrung mit dem Sidonie-Erlebnis verwoben wird. In den Gedichten "Abschied und Wiederkehr" und "Vor einem Springbrunnen" wird das Liebeserlebnis durch die Umsetzung in die Sprache von neuem ausgekostet. Die Quelle in "Vor einem Springbrunnen" ist die Feier einer neuen Vereinigung der Liebenden, in "Abschied und Wiederkehr" ist es die Klage des Abschieds. Beide Gedichte beinhalten eine Bewegung. In "Vor einem Springbrunnen" ist dies die Auf- und Abbewegung der Fontäne, in "Abschied und Wiederkehr" die Hin- und Herbewegung des Abschieds und der Wiederkehr. Durch das Auf und Ab und das Hin und Her entsteht ein Kreislauf, der auf spielerische Weise die Vereinigimg des Geistigen mit dem Sinnlichen darstellt. In "Abschied und Wiederkehr" kann die Trennung zum Schluß als "Spiel" betrachtet werden: "Der Abschied ist ein Spiel." Die Geliebte kehrt in Gestalt eines kleinen Hündchens zurück. Dies wird, obzwar für den Leser schwer nachvollziehbar, als tröstlich empfunden. In "Vor einem 140 Springbrunnen" mündet das "Regenbogenspiel" in die Dichtung "Der Geist dem diese Lust gefiel, / dankt ihr ein RegenbogenspieL" Wenige Wochen nach "Abschied und Wiederkehr" entsteht ebenfalls in Wien, der Sphäre des Getrenntseins, das Gedicht "Aus jungen Tagen," eine Mystifizierung der Geliebten und ihre Enthebung aus der Realität in einen geistig-religiösen Bereich. Sie wird zu einer Art weiblicher Heilsfigur stilisiert: "Du gabst dich zum Geschenk der Welt." AUS JUNGEN TAGEN Nie kann es anders sein. Nun wirft mein Glaube keinen Schatten mehr. Von deinem großen Lichte kam er her, von des Geschlechtes rätselhaftem Schein. Nun bin ich ganz im Licht, das milde überglänzt mein armes Haupt. Ich habe lange nicht an Gott geglaubt. Nun weiß ich um sein letztes Angesicht. Wie es den Zweifel bannt! Wie wirst du Holde klar mir ohne Rest. Wie halt ich dich in deinem Himmel fest! Wie hat die Erde deinen Werth verkannt. Du gabst dich zum Geschenk der Welt, ich hab es fur dich aufbewahrt. Ich habe Gott den größten Schmerz erspart. Geliebte, bleibe deiner eingedenk! 141 Wie glänzt mir deine Pracht. Dein Menschliches umarmt, der beten will. Er heiligt es im Kuß. Wie ist sie still von Sternen, deiner Nächte tiefste Nacht. Nie soll es anders sein. Ob alles Irdische zerbricht und stirbt, nur dein Zerfall ein geistig Glück verdirbt. 203 Vergib dich an die Erde nicht, sei Dein! Obwohl "alles . . . Sidi und nur Sidi " ist, fließt auch in dieses Gedicht die Erinnerung an Annie Kalmar mit ein. "Nicht nur der Titel, alles ist doch Sidi und nur Sidi. Es würde den Titel fuhren: Aus jungen Tagen. Der Leser hat mit solchem Datum, das ihm eben ein Datum ist, die deutliche, unverschiebbare Beziehung zu einem alten Erlebnis, zu dem alten Erlebnis (wenn er mehr von mir weiß). Dies ist wieder, wie bei "Abschied und Wiederkehr" kein Unrecht an diesem. Uns aber ist es kein Datum, sondern das Wort für meinen, unsern Zustand. Denn es ist wirklich in jungen Tagen erschaffen . . . Wiewohl es natürlich schöner wäre, in einer Welt zu leben, deren Augen und Ohren man zu solchem Gedicht den Titel und den Ruf Sidi! vorsetzen könnte. Aber freilich, dann wäre j a das Gedicht nicht entstanden; nicht so entstanden . . . " 2 0 4 (BSN1,255). SN für AB: "7. Aus jungen Tagen. Wien, 3./4. Dez. 15. Im Manuskript ist der Titel: uSidü". In der ersten Fassung: 2. Zeile Jetzt (statt nun), 6. Z. übergiesst (statt überglänzt), 12. Z. dich (statt deinen Werth), 19. Z. Wie wird (statt wie ist)." Kraus' Hervorhebungen. 2 0 4 Kraus' Hervorhebung. 142 "Aus jungen Tagen" ist das einzige Sidonie-Gedicht, in dem die Adressatin als "Geliebte" angesprochen wird. Auch dieses Gedicht drückt aus, daß die Geliebte der geistigen Aufgabe des Dichters dient, daß sie ein Luftgebilde der Phantasie ist, daß das aus der Verbindung resultierende "geistige Glück" nur zerstört werden kann, wenn das "zerfallt:" "Ob alles Irdische zerbricht und stirbt, / nur dein Zerfall ein geistig Glück verdirbt." Daß Nadherny die Einbildungskraft von Kraus oft mehr in ihrer Abwesenheit als in ihrer Anwesenheit anregt, gibt er selbst zu: "Ich kann deine Schrift noch schwerer entbehren als Dich!" (BSNl, 287) . "Wiese im Park" ist das erste Nadherny gewidmete Naturgedicht. Es entstand ebenfalls in Wien, und nicht, wie man vielleicht vermuten würde, während des Sommers im Park von Janovice. WIESE IM PARK (Schloß Janowitz) Wie wird mir zeitlos. Rückwärts hingebannt weiP ich und stehe fest im Wiesenplan, wie in dem grünen Spiegel hier der Schwan. Und dieses war mein Land. Die vielen Glockenblumen! Horch und schau! Wie lange steht er schon auf diesem Stein, der Admiral. Es muß ein Sonntag sein und alles läutet blau. Nicht weiter will ich. Eitler Fuß, mach Halt! Vor diesem Wunder ende deinen Lauf. Ein toter Tag schlägt seine Augen auf. 143 Und alles bleibt so a l t . M Das lyrische Ich versinkt im Traum in eine Sommerlandschaft. Das Grün der Wiese geht fast in das Grün des Teiches über, von dem sich der weiße Schwan abhebt. Wie der Teich das Grün der Wiese spiegelt, spiegeln die Glockenblumen das Blau des Himmels. Der Schwan, Sinnbild der Liebe, und der Schmetterling, Symbol der Seele, runden das paradiesisch anmutende Bild ab, in dem das lyrische Ich einen sicheren Platz einzunehmen scheint. Es ist in einen Zustand der Zeitlosigkeit versunken, aus dem es nicht erwachen möchte. Dieses Festhaltenwollen wird durch statische Verben wie "sein," "stehen," "halt machen" und "bleiben" betont, das In-die-Natur-Versunkensein durch "schauen" und "horchen.." Ein Festhalten am Traum und ein Der-Zeit-Entkommen kann es jedoch nicht geben, und es kommt am Ende der dritten Strophe zu einem Bruch der lyrischen Sonntags- Stimmung: "Ein toter Tag schlägt seine Augen auf / und alles bleibt so alt." Das letzte Widmungsgedicht des Jahres 1915 ist "Sendung," eine Widmung an Sidonie Nädhernys verstorbenen Bruder Johannes. Auch im Zentrum dieses Gedichtes steht wieder eine Verwandlung, ein Motiv, das sich eigentlich durch alle Gedichte dieser Zeit zieht, sei es, daß sich das lyrische Ich in "Leben ohne Eitelkeit" eine Veränderung im Verhalten der Partnerin wünscht, sei es in der von den Toten ins Reich der Lebenden zurückkehrenden Mondschwester in "Verwandlung," sei es die durch den Schmetterling in "Die Krankenschwestern" symbolisierte Neuwerdung des Ichs, sei es die Geliebte, die in "Abschied und Wiederkehr" als eine andere Kreatur erscheint, sei es die Verjüngung, die das SN filr AB: "6. Wiese im Park. Wien, 16. Nov. 1915. B1H. Es ist die Wiese bei dem oberen Parkteich. - Wir hatten Schwäne am Teich. - Nichts liebte er mehr als Glockenblumen und Schmetterlinge u. wie oft sah ich ihn auf der Wiese, sie betrachten, in Glück versunken. Oft waren wir nachts dort." 144 lyrische Ich in "Aus jungen Tagen" erfährt, oder sei es das Eintreten in die Welt des Traumes in "Wiese in Park." In dem Gedicht "Sendung" verwebt sich das lyrische Ich, das hier wie in den anderen Gedichten für den Dichter Kraus steht, mit Nädhernys totem Bruder Johannes. SENDUNG Der tote Bruder schickt mich in dein Leben und läßt dir sagen: Nie verläßt er die Freundin, ihm verloren nur als Schwester. Etwas von ihm blieb hier, sich zu verweben mit einem Teil von dir; sich so zu binden, daß du ihn sollst im Diesseits wiederfinden. Beklagst Verlust du, ist Gewinn daneben. So still er ist, gestillt ist auch sein Sehnen; nur der Erfüllung fließen deine Thränen. Zu klarer Aussicht sollst den Blick du heben! Ganz nah dort, Freundin, auf dem lichten Hügel spielt er und in dem Erdenspiegel, den uns des Lebens Schatten noch umgeben, beschaut er gern sein unverblichnes Bild, und staunt, daß er es sei: so mild vor der Vollkommenheit, sie anzustreben so feurig; und das ganze Herz bereit, zu Gott zu fliehen aus der engen Zeit, der Staub und Blut an Kerkerfenstern kleben. Er will nicht, daß du weinst. Es sprach der Tote: "Geh du zu ihr, sei Ich ihr, sei mein Bote ! 2 0 6 2 0 6 SN für AB: "8. Sendung." Wien, 9./10. Dez. 1915 für Sidi Nadherny im dritten Jahr seiner Freundschaft. Erster Entwurf, 9. Dez. 15: Titel Wiederfinden im Diesseits mit 10 Z.: Der tote Bruder schickt mich in dein Leben und lässt dir sagen: Nie verlässt er die Freundin, ihm entzogen nur als Schwester. 145 Die Verschmelzung mit einem zweiten Ich wird durch die Reimwörter auf "Leben" und "verweben," die sich durch das ganze Gedicht ziehen, symbolisiert. "Sendung" ist eines der wenigen Sidonie-Gedichte, in dem weibliche Reime überwiegen. Dadurch erhält es den weicheren Klang, der den anderen Gedichten, die fast durchweg männliche Reime haben, abgeht. Das Gedicht "Sendung" schließt den ersten Band von Worten in Versen ab und wiederholt Motive der anderen Widmungs-Gedichte dieses Bandes, wie z.B. das der "Schwester" und des "Schwebens" von "Verwandlung." Wie in "Abschied und Widerkehr" das lyrische Ich, bespiegelt sich in "Sendung" der tote Bruder in nazistischer Selbstvergessenheit, und eine eine geliebte Person erscheint in Gestalt eines anderen Lebewesens. Wie in "Aus jungen Tagen" und "Abschied und Wiederkehr" sich die Züge einer verstorbenen mit der gegenwärtigen Geliebten vermischen, geht der Dichter Kraus in "Sendung" eine Symbiose mit dem verstorbenen Johannes ein. Auf diese Weise wird nicht nur die Trauer um den jeweils geliebtesten verstorbenen Menschen des Partners verflochten, es wird auch eine geistige Neuverbindung angestrebt, die fast zwanghaft einen unauflösbaren Bund zwischen den beiden Überlebenden herbeiführen soll. Kraus hoffte, daß die Fackel vom Dezember 1915, die die Gedichte "Abschied und Wiederkehr" und "Wiese im Park" enthielt, in Rilkes Hände gelangen würde . 2 0 7 Dies ist ein Wie still er ist, gestillt ist auch sein Sehnen. Nur der Erfüllung fliessen seine Thränen. Ganz nah dort auf dem Hügel wohnt er und in dem Erdenspiegel beschaut er gem sein unverblichnes Bild und staunt, dass er es sei, so mild vor der Vollkommenheit, so feurig, sie anzustreben. Der zweite Entwurf wie "Sendung", nur mit dem Titel "Johannes". 2 0 7 Siehe BSN2,204. 146 Hinweis darauf, daß Kraus sich nicht nur als Freund Sidonies, sondern auch als Dichter als eine Art Rivale Rilkes betrachtete. Rilke ist einer der wenigen Leser, der die Sidonie- Gedichte entschlüsseln konnte. Rilke bekundet selbst Interesse an der Fackel, bezeichnet sie während des Krieges als eine "Wohltat ." 2 0 8 Die Korrespondenz zwischen Nadherny und Rilke erlebt Anfang Dezember 1915, zu einer Zeit, da Rilke befürchten muß, zum Kriegsdienst herangezogen zu werden, einen neuen Höhepunkt. Rilke bittet Nadherny bei seiner bevorstehenden Einberufung zum Kriegsdienst um Unterstützung, möchte sie in seiner Nähe haben, damit sie ihm in der ungewohnten Situation Beistand leisten kann: . . . habe am 4. Januar nach Tvrnau einzurücken . . . fünfundzwanzig Jahre haben nicht ausgereicht, den Schaden und die Erschöpfung, die die Militärschulzeit in mir angerichtet hat, seelisch sowohl als körperlich, auszugleichen Muß ich wirklich nach Turnau einrücken (zum 4. Januar) so hab ich eine große, große Bitte. Sidie könnten Sie in diesem Fall, aus purer Barmherzigkeit, Ihre Reise nach St. Moritz ein wenig aufschieben, hin nach Turnau kommen, für mich sorgen und mir alles Schwere und Ungewohnte, das mir dort wird zugemuthet werden, ein wenig erleichtern? Bitte thun Sie das, damit wäre mir eine unsägliche Hülfe geboten. Schreiben Sie mir, Gute, besonders darüber ein Wort, ob ich darauf rechnen darf.. . " 2 0 9 Kraus ist von Rilkes Ansinnen entsetzt, sieht Sidonie, die er "immer im Garten" wissen möchte, mit der Welt des Krieges in Verbindung gebracht (BSNl, 376) . 2 1 0 Er versucht, 208 Rilke, Briefe an SN, "Vergessen Sie nicht die neue "Fackel." Ich bin sehr gespannt." Brief vom 17. 9. 1915. "Die Fackel ist eine Wohlthat." Brief vom 31. 10. 1915. 147 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 6. Dezember 1915. Rilkes Hervorhebung. 209 Rilkes Einberufung zu beeinflussen, auch um zu verhindern, daß Nädherny, die geneigt ist, Rilkes Ruf zu folgen, mit dem "Kasernenmilieu" in Berührung kommt. Rilke wird schließlich im Kriegspressequartier untergebracht, muß nicht an die Front. Nädherny fangt zu dieser Zeit an, Rilke finanziell zu unterstützen. Sie übernimmt fur ihn während des Kriegs öfters die Mietkosten seiner Münchner Wohnung und bietet ihm auch später immer wieder finanzielle Hilfe an, die er gem annimmt. Ende des Jahres 1916 veranstaltet Kraus eine Sammlung für notleidende Dichter, deren Erlös er zum Großteil Rilke zukommen läßt, wohl 211 auch um zu verhindern, daß Nädherny ihm aus eigenen Mitteln weiter hilft. Das Jahr 1915 leitet nach einer längeren, durch die Abscheu vor dem Krieg und die inneren Konflikte um Sidonie Nädherny verursachten Zeit der Lähmung die produktivste Zeit in Kraus' Schaffen ein. Wie sehr der Dichter Kraus Sidonie Nädherny in seinem Schaffensprozeß entrealisiert und zum geistigen Instrument macht, wie notwendig fur ihn dabei das Leiden an seiner Liebe zu Sidonie ist und wie sie zu einem Mittel der Sprache selbst wird, zeigt z.B. der folgende Briefauszug: Es ist nur der heiße, oft mein Denken ganz versengende Drang, mir j ede Minute Deines Lebens, die miterlebte und wie erst die nicht miterlebte, zu ersetzen Es ist das Vollkommenheitsfieber, dasselbe, das mich vor einem Wunder der Sprache packt. Ich mache es mit Dir nicht anders als mit dem Gedanken. Immer möchte man sagen: So ist's am schönsten. Aber — war ' s so nicht noch schöner? Nein: so! — Es ist das endlose Martyrium der Liebe. (BSN1, 256) Kraus' Hervorhebung. 2 1 1 Siehe dazu auch Seite 207-12 dieser Arbeit. 148 Die Widmungsgedichte der Jahre 1916 und 1917 1916 entstanden sieben Gedichte, die Sidonie Nadherny in ihren Aufzeichnungen fur Bloch als ihr gewidmet bezeichnete. In die Gruppe der Widmungsgedichte und Inschriften dieses Jahres ("Fahrt ins Fextal," "Zum Namenstag," "Landschaft," "Drei," "Gespräche," "Zuflucht," und "Der Besiegte") gehören zusätzlich "Epigramm aufs Hochgebirge" und "Die Fundverheimlichung," Gedichte, die Nadherny nur in B1H anführt. 2 1 2 Mit Ausnahme von "Zum Namenstag" und "Drei" erschienen die Gedichte vor der Veröffentlichung im zweiten, dem Park von Janovice gewidmeten Band von Worte in Versen, der von dem Gedicht "Zuflucht" eingeleitet wird, in der Fackel. 1916 entstanden auch so programmatische Gedichte wie "Der Reim," "Abenteuer der Arbeit" und "Memoiren," Gedichte, die Kraus selbst über "Springbrunnen" und "Abschied und Wiederkehr" stellte. Vielleicht hatte Albert Bloch recht mit seiner Feststellung, daß Kraus, wie wohl den meisten 213 Künstlern, das gerade in Arbeit befindliche Werk als das wichtigste gilt. Vielleicht ist Das 1916 entstandene für Bloch erfaßte Sidonie-Gedichte "Zum Namenstag" und die Inschrift "Der Besiegte" sowie das in B1H aufgeführte Gedicht "Die Fundverheimlichung" werden in dieser Arbeit nicht behandelt. An dieser Stelle sollen jedoch der Vollständigkeit halber Nädhernys Angaben für Bloch und in B1H aufgeführt werden: SN für AB: "10. Zum Namenstag. Janowitz, 24. / 25. Juni 1916. Im Manuskript 3. u. 4. Zeile: "Dankt meines Geistes Frucht nicht deinem Samen, Ob heute du, ob morgen zu mir strebst?"" SN für AB: "15. Der Besiegte (S. 37). Wien, 26727. Okt. 16." Der Text der Inschrift lautet: Der Besiegte. Streit' ich vergebens gegen allen Schmutz der Gosse, / entschädigt mich die Ohnmacht vor dem Licht. / Das Leben, meistens greller als die Glosse, / ist manchmal schöner doch als ein Gedicht. (WV, 100) B1H: "18. Fundverheimlichung. 1. u. 7. Nov. 16. Der 2. Teil des Gedichtes (S. 52-54) erzählt von meinem Leonbergerhund Bobby, der mich auf die Bahn stets begleitete, wenn ich auf Skitouren fuhr. Alles Erzählte ist wahre Begebenheit." Siehe auch BSN2,252. Zu dem in dieser Zeit ebenfalls enstandenen Gedicht Zuflucht, siehe S. 221 dieser Arbeit. 213 AB an SN, V. Fortsetzung der Anmerkungen: "Abenteuer der Arbeit:" Dieser Passus ist von ganz besonderer Schönheit und tiefbewegter Einsicht. Allein jene, welche die "Abenteuer" über solche Wunder wie "Memoiren," "Springbrunnen," "Abschied und Wiederkehr," stellt, scheint mir keine Einbuße, sondern einfach ein Irrtum zu sein: denn sie sind alle gleich schön, gleich unerreichbar groß, gleich wunderbar. Die "Abenteuer" aber gehören in eine ganz andere Kategorie seines lyrischen 149 Kraus' eigene Bewertung seiner Lyrik doch Bestätigung dafür, daß für ihn "das Werk," das vor allem in "Abenteuer der Arbeit" und "Der Reim" lyrisch verarbeitet wird und für das Sidonie die unentbehrliche Quelle der Inspiration wurde, der ausschlagende Aspekt seines Daseins war. Ende des Jahres 1915 hatte Sidonie Nädherny in ihr Tagebuch geschrieben: "K.K.-is all my happiness ." 2 1 4 Mit dieser Äußerung bestätigt sich der Eindruck, daß sie zu dieser Zeit, innerlich weniger zerrissen, tatsächlich vorübergehend zu Kraus zurückgefunden hatte. 1916 verbrachte das Paar ungewöhnlich viel Zeit zusammen. Kraus hielt sich die ersten beiden Monate mit Nädherny in St. Moritz auf, weilte im Juni und Juli mehrere Wochen als Gast auf Janovice und war den ganzen August mit Sidonie in Thierfehd in der Schweiz. Im Herbst fanden weitere kürzere Besuche auf Janovice statt. Nädherny und Kraus trafen sich auch mehrmals in Wien und Innsbruck. 2 1 5 Die Aufenthalte in der Schweiz ermöglichten es dem Paar, unbehelligt zusammenzusein, was sowohl auf Janovice als auch in Wien fast unmöglich war. Eine Ausreisegenehmigung für die Schweiz war während des Krieges nur Schaffens als jene, und man dürfte die zwei Kategorien gar nicht vergleichen - so wenig wie man ein vollkommenes Exemplar irgendeiner anderen Gattung logisch vergleichen darf: etwa Erdbeeren mit Pfirsichen . . . Allerdings läßt sich leicht begreifen und dem schöpferischen Geiste zugutehalten, daß ihm gerade das, was er jeweils in Arbeit hat als das Schönste und Wichtigste g i l t . . . , " 2 1 4 Zitiert nach BSN2,206. 2 1 5 1916 kam es zu folgenden Begegnungen: 6. Januar - 3. März, Schweiz (siehe BSN2, 206); 2. Mai - 7. Mai, Schweiz (BSN2,223); 3. Juni und 16. Juni Wien (BSN2,233); 22. Juni - 29. Juni u.4. Juli - 21. Juli, Janowitz (BSN2,235); August, Schweiz (BSN2,235); 15. September, Innsbruck (BSN2, 239); 11. - 13. Oktober, Janovice (BSN2, 244); 19.-21. Oktober Janovice (BSN2,245); SN im Oktober zwei Tage in Wien (BSN2,246); SN am 16. Dezember in Wien (BSN2,250). 1917 kam es zu den folgenden längeren Beisammensein: 12.-26 Februar KK bei SN auf Manin sur (BSN2,275). Kraus vom 3. Mai bis 6. August i.d. Schweiz. (BSN2,275). 28. August bis 20. September Kraus auf Janovice. (BSN2,275). Nädherny vom 15. bis 19. Oktober in Wien. (BSN2,279). Nädherny Anfang Dezember in Wien, bevor sie nach St. Moritz weiterreist. Die Angaben in BSN2 decken sich mit den Angaben in Nädhernys Briefabschriften für Bloch. 150 unter größten Schwierigkeiten zu erlangen, was die Länge vieler Aufenthalte dort mit erklärt. 1916 arbeitete Kraus neben der Fackel hauptsächlich an seinem Drama Die letzten Tage der Menschheit.216 In den Zeiten der Trennung schrieb er nach wie vor so gut wie täglich an die ferne Freundin. Die Briefe dieser Zeit sind von einer weniger leidenschaftlichen Stimmung gekennzeichnet als 1915. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß die Beziehung, da zu dieser Zeit weniger spannungsträchtig, zu einer gewissen "Normalität" gefunden hatte. Die Briefe wurden ab Anfang März von Wien aus in die Schweiz geschickt, wo sich Nadherny nach der Abreise von Kraus Anfang März noch bis bis Ende Mai aufhielt. Vor allem ins Ausland gesandte Briefe unterlagen während des Krieges der Postzensur. Daraus lassen sich die vielen Abkürzungen von Namen und der sachlichere Ton der Briefe dieser Zeit mit erklären. Rilke ist in den Briefen vom Frühjahr dieses Jahres regelmäßig Gegenstand der Briefe. Kraus und Rilke verkehrten während Rilkes Dienst im Kriegspressequartier in Wien im Cafe Imperial, begegneten sich dort immer wieder. Es irritierte Kraus, daß Rilke, der es j a Kraus' und Nädhernys Einsatz mit verdankte, daß er nicht an die Front mußte, nicht öfter mit ihm sprach, sich nicht nach Sidonie erkundigte, von der Rilke wußte, daß sie in der Schweiz war. Erst als Rilke zu einer Kraus-Vorlesung im April kam, davon beeindruckt schien und sich auch endlich nach Sidonie erkundigte, war Kraus etwas versöhnlicher gestimmt und nicht mehr so hart in seinem Urteil über Rilke: "Jetzt, da M.[Rilke] endlich ein Wort gefunden hat, sehe ich erst, wie schwach und fein er ist und wie schade es ist, daß man gerade solchen Naturen nicht helfen kann. Fast glaube ich, daß er aus einer gewissen Scham 2 1 6 1916 entstanden sechs Hefte der Fackel, Nr. 431-436 entstand im Juli 1916 auf Janovice (siehe BSN2, 235). 151 darüber sich so zurückhaltend zeigte. Natürlich bin ich persönlich ganz versöhnt, weil er endlich eine Frage gestellt hat: wie es dort geht" (BSN1, 327) . 2 1 7 Sidonie-Gedichte nehmen auch 1916 nur einen Bruchteil des in dieser Zeit entstandenen Werkes von Kraus ein. Die beiden bedeutendsten Sidonie-Gedichte des Jahres sind die in der Schweiz entstandenen Landschaftsgedichte "Fahrt ins Fextal" und "Landschaft ." 2 1 8 Obwohl "Landschaft" und "Fahrt ins Fexthal" nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstanden, kann man sie als eine Einheit betrachten, da manche Motive die beiden Gedichte verbinden. "Landschaft" ist eine Fortsetzung der in "Fahrt ins Fextal" begonnenen Fahrt vom Gipfel ins Tal, von der Gegenwart in eine andere Zeit, vom Diesseits ins Jenseits. FAHRTINS FEXTAL Als deine Sonne meinen Schnee beschien, ein Sonntag wars im blauen Engadin. Der Winter glühte und der Frost war heiß, unendlich sprühten Funken aus dem Eis. Knirschend ergab sich alle Gegenwart, Licht tanzte zur Musik der Schlittenfahrt. Wir fuhren jenseits aller Jahreszeit irgendwohin in die Vergangenheit. Kraus' Hervorhebung. 218 Eme Interpretation des Gedichtes "Fahrt ins Fextal" befindet sich in Werner Kraft, Karl Kraus: Beiträge zum Verständnis seines Werkes (Salzburg: Müller, 1956) 253-56. Eine Interpretation von "Landschaft" befindet sich auf S. 287-89 des Buches. 152 Was rauh begonnen war, verlief uns hold, ein Tag von Silber dankt dem Strahl von Gold. Der Zauber führt in ein versunknes Reich. Wie bettet Kindertraum das Leben weich! Voll alter Spiele ist das weiße Tal; die Berge sammeln wir wie Bergkristall. Trennt heut die Elemente keine Kluft? Ein Feuerfluß verbindet Erd und Luft. Wir leben anders. Wenns so weiter geht, ist dies hier schon der andere Planet! Ins Helle schwebend schwindet aller Raum. So schwerlos gleitet nach dem Tod der Traum. Nicht birgt die Zeit im Vorrat uns ein Weh. Bleicht sich das Haar, so gibt es guten Schnee. Uns wärmt der Winter. Leben ist ein Tag, da Silvaplanas Wind selbst ruhen mag. Nicht Ziel, nur Rast ist's, die das Glück sich gab, hält einmal dieser Schlitten vor dem Grab. (WV, 79-80) SN für AB: "9. Fahrt ins Fextal. St. Moritz, 29. Januar 1916. Erinnerung an eine gemeinsame Schlittenfahrt während eines Aufenthaltes vom 6.1.-3.3.16 bei mir in St. Moritz, wo ich während des Krieges das Chalet Manin sur gemiethet hatte. Allabendlich las er mir [Shakespeares] [gesamte] Werke vor, wobei der Plan seiner späteren öffentlichen Shakespeare-Vorlesungen entstand." Dem Abdruck von "Fahrt ins Fextal" folgt in der Fackel ein Brief Sidonie Nädhernys, die allerdings nicht 153 Dem angesprochenen "Du"gelingt es, die innere Vereisung des lyrischen Ichs aufzutauen ("Als deine Sonne meinen Schnee beschien") und ermöglicht so die Reise in eine versunken erscheinende Welt. Schon 1914 schrieb Kraus an Nädherny "Schütze mich vor Brutalität gegen Nicht-Geliebte, unter der man selbst leidet. Du müßtest meine Unnahbarkeit ständig umgeben" (BSN1,93). "Knirschend," also nur widerwillig weicht das Heute der Welt des Traumes, der Kindheit und der Vorvergangenheit "Knirschend ergab sich alle Gegenwart."Der ganze Kosmos, symbolisiert durch die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde, scheint zu einer Einheit verschmolzen: "Trennt heut die Elemente keine Kluft? / Ein Feuerfluß verbindet Erd und Luft." Die "Kluft," in "Abschied und Wiederkehr" noch als "unnennbar" bezeichnet, scheint, zumindest vorübergehend, überwindbar. Der Eintritt in die Welt der Erinnerung geschieht allmählich und wird durch den Übergang vom Präteritum ins Präsens unterstrichen. Die märchenhaft anmutende Stimmung wird durch schillerende Farben, erzeugt durch das im Schnee reflektierende Licht, noch unterstrichen. Die wunderbare Fahrt ins Tal, vom Himmel auf die Erde, wird vom Überirdischen ins als Absenderin genannt wird, der erneut deutlich macht, wie sehr Nädherny in einer der Realität entfremdeten Welt lebt: . . . Eine entsetzliche Lawine ist von der Richtung Hahnensee niedergegangen. Wir hörten und sahen sie: eine riesengroße Schneewolke und großes Getöse. Sie hat einen breiten Streifen Waldes mitgenommen, glatt abgeschnitten. Unter dem gehäuften Schnee liegen aufgetürmt und vergraben die schönen alten Bäume samt Wurzeln, und jeder Baum zerrissen, zerzaust, zerbrochen, und weiß Gott, wie tief das geht. Der Schnee ist hart zusammengedrückt, man steigt darauf herum. Es sieht zu traurig aus, ein Bild der trostlosen Verwüstung. Dazu ein süßer starker Coniferenduft, denn die Zweige sind frisch gebrochen, und aus den Stämmen fließt das Harz. Wohl das grausamste Blut. SN an AB, 3. Mai 1948: "Noch eines wissen Sie nicht: Der "Frauenbrief' über eine Lawine (Fackel 418-422, April 16, S. 41) war von mir. Dies ist, glaube ich, meine letzte Beichte." Bloch wurde durch "Fahrt ins Fextal" zu dem Gemälde "Sleigh Ride" angeregt. Abbildung des Gemäldes S. 155. 154 Unterirdische fortgesetzt. Sie endet nicht im Tal, sondern unter der Erde, in dem "grünen Grab" von "Landschaft." LANDSCHAFT (Thierfehd am Tödi, 1916) Thierfehd ist hier: das sagt dem Menschsein ab, daß er es werde — wie an der Wand empor zum Himmel reicht die Erde. Was hinter uns, war schwer. Hier ist es leicht. Die Welt verläuft in einem grünen Grab. Ein Stern riß mich aus jenes Daseins Nacht in neue Tage. Fern lebt von blutiger Erinnerung die Sage. Der weltbefreite Geist ist wieder jung, nichts über uns vermag die Menschenmacht. Du Tal des Tödi bist vom Tod der Traum. Hier ist das Ende. Die Berge stehen vor der Ewigkeit wie Wände. Das Leben löst sich von dem Fluch der Zeit 220 und hat nur Raum, nur diesen letzten Raum. (WV, 124) 2 2 0 SN für AB: "11. Landschaft. Thierfehd, 10. August 1916. Im Ms. ist der Titel: "Thierfehd". Eine Wiesenlandschaft, abgeschlossen von einer steilen Bergwand, wo die Strasse von Linkthal bei einem Gasthof endet. Von den Felswänden stürzen Wasserfälle herunter, unter die sich zu stellen seine Seligkeit war. ("Unter dem Wasserfall".) Wir waren 4mal dort, mit unserem kleinen Auto, das ich stets selbst lenkte und das uns jeden Kriegssommer durch die ganze Schweiz führte. Planlos, gekocht und gegessen wurde stets aufwiesen oder Waldesrand, womöglich in Bachesnähe, um darin zu baden. Diesen glücklichen Monaten sind nebst oben genannten Gedichten "Vallorbe" und "Wiedersehen mit Schmetterlingen" zu verdanken. In einem Brief bezeichnet er sie als die "Glanzzeit meines Lebens, wo 156 Das "So schwerlos gleitet nach dem Tod der Traum" von "Fahrt in Fextal" mündet in "Du Tal des Tödi bist vom Tod der Traum." Die Schlittenfahrt im Fextal, die symbolisch für die Lebensfahrt steht, endet im Thal des Tödi, "dem letzten Raum." Die Bergwände, die das Tal umgeben, bilden das Grab, dessen Wände durch Enjambements wie z.B. "wie an der Wand empor zum Himmel reicht / die Erde" und "Die Berge stehen vor der Ewigkeit / wie Wände" fast bildlich erscheinen. "Das Ende" in der letzten Strophe steht für den Tod, was durch die Alliterationsreihe "Tal," "Tödi," "Tod," "Traum" dargestellt wird. Dieser Tod impliziert, ähnlich wie in "Die Krankenschwestern," eine Neuwerdung. Das Gedicht b e g i n n t " . . . sagt mit dem Menschsein ab, daß er es werde" und endet mit "Das Leben löst sich von dem Fluch der Zeit," also einer Ablösung von der Gegenwart. Sidonie wird in vielen Gedichten als Stern oder Licht angesprochen. In "Landschaft" erscheint sie als der Stern, der das lyrische Ich aus des "Daseins Nacht" rettet und zu seiner Verjüngung beiträgt, ihm bei der "Menschwerdung" und bei der Abwendung vom "Fluch der Zeit," dem Krieg, hilft. Im Oktober 1917 entsteht in der Einsamkeit von Wien ein Gedicht, das eine angestrebte Vollkommenheit endgültig zu erreichen scheint. VALLORBE Du himmlisches Geflecht, du Glockenblumenkorb, Ursprung der Orbe, der Welt, du unversehrtes Ziel, du Wonnewort Vallorbe, das in den Mai mir fiel, du Tal der Täler, du traumtiefes Tal der Orbe! ich in Diensten meines Chauffeurs war". Während eines mehrwöch. Aufenthalts in Thierfehd (Juli 1917) arbeitete er dort an de L.T.d.M., am Klavier im Gasthof entstand die Melodie zur Ballade vom Papagei (die ich dann in Noten aufschrieb) u. der Totenkopfhusar. Ein Bild von Thierfehd stand bis zu seinem Tod in seinem Arbeitszimmer." 157 Du Sonntag der Natur, hier seitab war die Ruh. Ursprung der Zeit! So hat, da alles war geglückt, der Schöpfer diesen Kuß der Schöpfung aufgedrückt, hier saß der Gott am Weg zum guten Lac de Joux. Du Gnade, die verweht den niebesiegten Wahn, wie anders war es da, und da entstand die Zeit, dieweil sie staunend still stand vor der Ewigkeit. Wie blau ist doch die Welt vom Schöpfer aufgetan! (WV, 2 0 9 ) 2 2 1 Wie in "Fahrt ins Fextal" das Weiß, die Farbe des Lichts, und in "Landschaft" das Grün, die Farbe des Lebens und der Hoffnung, dominiert, herrscht in "Vallorbe" das Blau, die Farbe des Himmels und der Unendlichkeit, vor. Die Farbe Blau rahmt das Gedicht ein, das mit "Du himmlisches Geflecht, du Glockenblumenkorb" beginnt und mit "Wie blau ist doch die Welt vom Schöpfer aufgetan" endet. Es scheint, als ob hier der Dichter Kraus im Traum den "Ursprung der Welt" und den "Ursprung der Zeit," auf dessen Suche er sich befand, kurze Zeit erreichen kann, als ob er "mit dem sicheren Wissen, das der Traum verleiht," einträte "in jenen Garten, den Gott in Eden gepflanzt hatte" (BSNl, 251 ) . 2 2 2 Das Gedicht "Epigramm aufs Hochgebirge" entstand unmittelbar nach "Landschaft" ebenfalls in der Schweiz. Da der dem Gedicht vorangestellte Ansichtskartentext von Nädherny stammt, darf das Epigramm als eine Belehrung der Gefahrtin verstanden werden, U l SN für AB: "19. Vallorbe. Wien, 12. Oktober 1917. Wegen der Seligkeit eines wundervollen Maitages auf einer unvergleichlichen Wiese, von Wald umgeben, zwischen Orbe-Vallorbe und Lac de Joux blieben diese Namen Heiligtümer." 2 2 2 Bloch wurde durch das Gedicht "Vallorbe" zu einem gleichnamigen Bild, dessen derzeitiger Verbleib unbekannt ist, angeregt. Auch Blochs Bild "Mine Eyes have Seen" erinnert vielleicht an dieses Gedicht." "Vallorbe" siehe S. 159. 158 deren aktiven Lebensstil und unentwegte Begeisterung für Besichtigungen und Rundreisen, für Ski- und Bergtouren Kraus als anstrengend empfand und oft kritisierte. EPIGRAMM AUFS HOCHGEBIRGE Text einer Ansichtskarte: "Wenn diese Berge dem größten Dichter neue Kräfte geben könnten - wieviel schöner wären sie!" Es ist der schönsten Berge Eigenschaft: sie geben nicht dem Geist, sie nehmen Kraft. Der Bürger fühlt sich im Gebirg erhoben; talwärts ist meine Phantasie zerstoben. Am Alpenglühn entflammen keine Lichter. Vor höherm Berg gibts nur geringem Dichter. Die Luft der Alpe schafft des Alpdrucks Qual. Um hoch zu steigen, bleibe ich im Tal. Den Höhenrausch trink' ich nicht von den Höhn. Um Sturm zu haben, brauch' ich nicht den Föhn. Zu andrer Freiheit bin ich aufgerafft; die hier bringt meine Sinne in Verhaft. Den Gletschern dank ich keine Geistesfrische; mir liegt nicht allzusehr das Malerische. Oft wirkt Natur der Leere nur das Kleid. Mich lockte nie die Sehenswürdigkeit. 160 Wo so viel fertige Schönheit gegenwärtig, ist keine Dichtung, nur der Dichter fertig. Und keine Lyrik, Epos oder Drama schenkt sich dem sogenannten Panorama. Umsonst ist 's, daß ich auf den Genius warte. Natur ist häufig eine Ansichtskarte. Der schönste Schnee wird schließlich doch zum Schlamm. Es ist die Landschaft für ein Epigramm! 2 2 3 In seinem Aufsatz "Der Reim" schreibt Kraus: Sollte es wirklich vorkommen, daß ein Lyriker barhaupt in die Natur stürzen muß, um seinen Scheitel ihren Einwirkungen auszusetzen und eigenhändig erst den Falter zu fangen, den er besingen will, so hätte der diesen umgaukelt, er wäre ein Schwindler, und ich würde mich außerdem verpflichten, ihm auch den Trottel in jeder Zeile nachzuweisen, die durch solche Inspiration Zustandekommen i s t ." 2 2 4 Daß ausgerechnet Sidonie Nadherny, von der sich Kraus "gefühlt also mehr als verstanden" wissen wollte, Kraus diese direkte Art der Inspiration zutraut, ist für den Dichter anscheinend enttäuschend. B1H: "12. EpigramfmJ aufs Hochgebirge. St. Moritz, 18. August 1916. Die zitierte Ansichtskarte ist von mir." In den Anmerkungen zum Werk machte Nadherny noch die folgende Angabe für Bloch: "In der ersten Fassung die ersten 7 Strophen, nur dass die 7. an Stelle der 3. ist und mit der 6. abschließt " 2 2 4 Kraus, "Der Reim" in Die Sprache 326. 161 Entstanden 1916 und in der ersten Hälfte 1917 hauptsächlich die mit dem Sidonie- 225 Erlebnis verbundenen Naturgedichte, ändert sich die Thematik ab Herbst 1917 wieder. Eine Gruppe von Gedichten dieser Zeit setzt sich deutlicher als "Vor einem Springbrunnen" und "Abschied und Wiederkehr" mit dem erotischen Erlebnis auseinander. In diese Gedichtgruppe fallen z.B. "Verlöbnis," "Phantasie an eine Entrückte" und "An eine Falte." Auch das im Sommer 1918 entstandene Gedicht "Huldigung der Künste am Namenstag" gehört in diese Gruppe. An dieser Stelle ist es angebracht, noch einmal kurz auf Kraus' Frauenbild einzugehen. Seine Ansichten über die Frau können nicht aus unserer heutigen Sicht be- und verurteilt werden, sondern sollten aus der Zeit, in der sie entstanden, verstanden werden. Die ausfuhrliche Studie von Nike Wagner Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne befaßt sich mit Kraus' Einstellung zur Frau vor dem Ersten Weltkrieg, also vor der Begegnung mit Nädherny . 2 2 6 In dieser Zeit setzen sich in Wien Intellektuelle, Liberale, Konservative, Sigmund Freud und nicht zuletzt die Frauen selbst zum ersten Mal intensiv mit Fragen der weiblichen Sexualität und der Geschlechterbeziehung, zu denen sich Im Folgenden Nädhernys Anmerkungen für Bloch zu 1917 entstandenen und hier nicht behandelten Widmungsgedichten: SN für AB: "17. Wiedersehn mit Schmetterlingen. Thiefehd, 1./2. Juli 1917. Im Ms. 8.Zeile: statt kranke "feuchte". Entstanden während wir vom Mai bis August in meinem kleinen Wagen durch die Schweiz fuhren, von Thal zu Thal, auf Wiesen lagernd, zwischen Blumen und Schmetterlingen, im Bach badend." SN für AB: "16. Als Bobby starb für Sidonie Nädherny, St. Moritz, 22./23. Februar 1917. Geschrieben in der Nacht nach Erhalt der Todesnachricht. Bobby war mein Leonbergerhund und steter Begleiter. Wegen der Reiseschwierigkeiten im Krieg Hess ich ihn öfters in Manin sur zurück, unter Obhut einer Freundin, ("Fundverheimlichung",) zuletzt aber in Janowitz, da er schon krank war. Die Aufnahme von K.K. und Bobby vor Manin sur stand in s. Arbeitszimmer bis zuletzt." B1H: "Er liebte diesen Hund sehr. Er ist mit ihm photographiert " SN für AB: "21. Der Hörerin. Wien, 29. Oktober 1917." SN für AB: 22. Vergelfs Gott. Wien, 1. Nov. 1917." 2 2 6 Nike Wagner, Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1982). 162 auch Kraus in der Fackel und in Aphorismen äußert, auseinander. Kraus verteidigt die Privatsphäre der Sexualität, spricht sich gegen die Einmischung der Öffentlichkeit bzw. der Justiz in das Privatleben und gegen die verlogene Doppelmoral des Bürgertums aus. Diese Verteidigung der sexuellen Freiheit für beide Geschlechter, das Eintreten fur Verhütungsmittel und die Legalisierung der Abtreibung, sein Mitleid mit der ledigen Schwangeren und der in die Illegalität abgedrängten Prostituierten vermitteln auf den ersten Blick den Eindruck einer ausgesprochen progressiven Denkweise. Dem Eintreten für sozial Schwache und die sexuelle Freiheit der Frau steht allerdings Kraus' polemische Bekämpfung der für die Gleichstellung der Frau in allen Lebensbereichen eintretenden Frauenrechtsbewegung der Jahrhundertwende gegenüber. Gleichzeitig verurteilt Kraus die bürgerliche Institution der Ehe, was der Frau ohne Berufsausbildung jegliche soziale Bindung genommen und sie ins Chaos gestürzt hätte. Kraus vermischt in seinen Ansichten liberales, konservatives, intellektuelles und anarchistisches Gedankengut. Es schält sich eine Frauengestalt heraus, die mit der Realität wenig zu tun hat. Dem männlichen Menschen steht kein weiblicher Mensch gegenüber, sondern ein bedürfnisloses der Realität des Alltags enthobenes weibliches Wesen, das sich von dem vom Intellekt dominierten Mann durch seine sexuelle Determiniertheit unterscheidet. Dies bedeutet, daß Kraus genausowenig für die Selbstbestimmung der Frau eintritt wie der Spießbürger, den er angreift. 2 2 7 Wie der Bürger der Frau ein sexuelles Empfinden abspricht, so spricht ihr Kraus, zumindest in der Theorie, wenn nicht ausschließlich, so hauptsächlich diesen Aspekt ihrer Persönlichkeit zu. Bewunderte und unterstützte Kraus eine kreative Frau mit Geist, mußte er sie erst Siehe dazu Alfred Pfabigan, Karl Kraus und der Sozialismus (Wien: Europa, 1976). 163 vermännlichen, wie er es z.B. mit Else Lasker-Schüler machte, die er bewußt "als den bedeutendsten Lyriker der deutschen Gegenwart" bezeichnete und nicht als "die bedeutendste Lyrikerin." In einer in der Fackel veröffentlichten Kritik schrieb Kraus 1916 über die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky, mit der sich kurz danach allerdings eine tiefe Freundschaft anbahnte, die auf gegenseitiger Anerkennung basierte: "Daß die deutsche Botschafterin aus London in solchem Milieu sich sowohl dramatisch wie gesellschaftlich bewegt, ist ein Symbol, das sich einer Dichterin erschließen könnte, wenn sie ein Dichter 229 w ä r e . . . ." Dagegen verweiblicht Kraus den Dichter Rilke, nennt ihn in seinen Briefen an Nädherny aus Verachtung "Maria" oder gar "Armes Mädel" (BSN1, 304) . 2 3 0 Auch mit Nädherny nimmt Kraus gelegentlich diesen Rollentausch vor, z.B. wenn er schreibt: "Leb wohl, Du einziger, ersehnter Partner meines Umgangs, von dessen Zuhören mehr geistige Anregung ausgeht als von den Gesprächen solcher Missmenschheit! Du einzige Frau, die man noch in einem Gespräch über Literatur umarmen möchte, du selten Geliebte, zu der man sprechen kann, als hätte man sie nie umarmt!" (BSNl, 261). Obwohl sich die nachstehenden drei Sidonie-Gedichte mit dem Thema Liebe befassen, ist es schwierig, sie als Liebesgedichte zu klassifizieren. Sie bringen wenig Gefühl zum Ausdruck und stellen die physiologischen Aspekte der körperlichen Liebe in den Mittelpunkt. Die Sexualwissenschaft interessierte sich zu dieser Zeit dafür und auch Künstler Kraus schreibt: "Doch mehr noch als Identität, mehr selbst als der Übereinklang des echten Reimes kann der eingemischte Nichtreim dem dichterischen Wert zustatten kommen. Von allen Schönheiten, die zu dem Wunder vom "Tibetteppich" verwoben sind (welches allein Else Lasker-Schüler als den bedeutendsten Lyriker der deutschen Gegenwart hervortreten ließe), ist die schönste der Schluß siehe "Der Reim," Die Sprache, 355. 229Fackel 418-422 (April 1916): 95. 2 3 0 Zu Lichnowsky siehe auch BSN2, 248 f. 164 wie z.B. Gustav Klimt waren davon besessen, die weibliche Physiognomie zeichnerisch festzuhalten. Kraus versuchte seinerseits, den Geschlechtsakt und nicht nur, was er selbst dabei empfand, in Worte zu fassen, sondern auch zu beschreiben, wie der weibliche Körper reagiert. In seinem Totalitätsanspruch ging Kraus so weit, zu versuchen, die weibliche Sexualität lyrisch festzuhalten. VERLÖBNIS Unendliche, laß dich unsterblich ermessen und es sei mir dein Fühlen bewußt. Meines entschwand mir zu höllischer Lust. Denn der Gedanke bricht ins Vergessen. Wie dein Gefühl auf steilenden Stufen immer verweilend den Himmel erzielt - wissend, hab' ich es nachgefühlt, und ich will es ins Ohr dir rufen! Laß es mich denken, wie einer ermattet an deiner Kraft, in dein schwellendes All begehrte der irdische Einzelfall, der das ewige Licht beschattet. Und die zufriedene Gier läßt die Lüge dort zurück, wo die Lust vertan. Und er sah dein Gesicht nicht an, als sich dir heimlich verklärten die Züge. Ach, den Verlust am liebenden Leben hast du ihm, sehnende Nymphe , vertraut. 165 Aber die Stunde hört nicht den Laut, wenn vom Leid die Äonen beben. Und seine Armut flieht von dem Feste, daß sie nicht an der Fülle vergeh'. Weibsein beruht in Wonne und Weh. Mann zu sein rettet er seine Reste. Fällt auch die heilige Welt zusammen in dem unseligen Unterschied - ich setze fort dein verlassenes Lied! Ich will entstehen aus deinen Flammen! Was immer dir fehle, von dir empfangend, schöpfend aus deinem lebendigen Quell, so wird dem Teufel der Himmel hell, immer doch deine Lust verlangend! Muß sich der Geist in dir versenken, reißt ihn aus der Höh' keine irdische Macht. Verbuhlen wir so diese Lebensnacht! Unsterblich küssen, unendlich denken! (WV, 137-138) PHANTASIE AN EINE ENTRÜCKTE Wie kam's, daß deine Räusche mich berauschen und deine süße Ohnmacht mich belebt, die Kraft sich mir an deiner Schwäche hebt - ich möcht mit keinem deiner Sieger tauschen! 1 SN für AB: "18. Verlöbnis. Janowitz, September 1917." 166 Mit Allen bleibt mir meine Lust verwebt und Aller Liebesschwüren laß mich lauschen, und wie die Brunnen deiner Gnade rauschen, zu deiner Allmacht mein Gedanke strebt. Nie wird die Zeit mir diese Gluten kühlen, an fernen Feuern will ich dir erwarmen, mit dir zu wissen und in dir zu fühlen. Nun bin ich du, und du bist das Erbarmen, und läßt mich in gewesenen Wonnen wühlen. Und Alle halte ich in deinen Armen! (WV, 202) AN EINE FALTE Wie Gottes Atem seine Fluren fächelt, so wird es leicht und licht in diesem klaren Angesicht. Es hat die Erde gern und schwebt ihr fern und liebt und lächelt. Und Gottes Finger bildete den Bug vom Ebenbilde. Es zieht so milde hin über alles Leid, und es verzeiht der edle Zug. SN für AB: "20. Phantasie an eine Entrückte. Wien, 22.723. Okt. 1917." In dich, o unvergeßlich feine Falte, betend versanken meine Gedanken. Daß diese letzte Spur seiner Natur mir Gott erhalte! (WV, 2 1 3 ) 2 3 3 Den Rahmen von "Verlöbnis" bilden "Unendlichkeit" und "Unsterblichkeit," also Ewigkeit symbolisierende Motive. Das Gedicht beginnt mit "Unendliche, laß dich unsterblich ermessen" und endet mit dem Chiasmus "Unsterblich küssen, unendlich denken." Auch in der zentralen Strophe, die den Klagelaut von "Abschied und Wiederkehr" erinnert und in der die sich in Sehnsucht verzehrende Nymphe Echo wieder erscheint, wird das Ewigkeitsmotiv aufgegriffen: "Aber die Stunde hört nicht den Laut, / wenn vom Leid die Äonen beben." Das lyrische Ich ist auf der Suche nach der Ewigkeit und hofft vergeblich, diesen Zustand im Augenblick der Liebesvereinigung festhalten zu können. In "Verlöbnis" verkörpert das lyrische Ich den Geist, die Partnerin das Geschlecht. Ihr ist es aufgrund ihrer Natur möglich, ins Vergessen zu versinken. Dem lyrischen Ich ist dies nicht möglich, da der Gedanke ins Vergessen bricht. Seine Lust ist höllisch, ihre Lust dagegen himmlisch. In "Phantasie an eine Entrückte" wird der offensichtlich untreuen Geliebten ("ich möcht mit keinem deiner Sieger tauschen") die Individualität genommen, sie steht für alle 2 3 3 SN für AB: "23. An eine Falte. St. Moritz, 26727. Dezember 1917." B1H: "26./29. Dezember 1917. Dieses Gedicht vertonte meine Freundin Dora Pejacevic auf seinen Wunsch als Namenstagsüberraschung. Zu diesem Namenstag, 25. 6. 1918, machte er verschiedene Gedichte, die im Manuscript vorliegen; die Anfangsbuchstaben der Zeilen bilden stets Sidi oder Sidonie u. die Verse beziehen sich auf die Falte u. die Musik. Gedruckt wurde von ihnen nur Einodis." Siehe auch BSN2,288. 168 Frauen: "Mit Allen bleibt mir meine Lust verwebt / und Aller Liebesschwüren laß mich l a u s c h e n , . . . / und Alle halte ich in Deinen Armen." In dem Gedicht "An eine Falte" geht Kraus noch einen Schritt weiter. Die bedichtete "Falte" verrutscht vom Gesicht nach unten, entgleitet ins Pornographische. Kraus versucht, in die Sprache zu fassen, was Gustav Klimt in seinen in dieser Zeit entstandenen Aktzeichnungen festhält. Diese Gedichtbeispiele zeigen, wie Kraus die weibliche Sexualität überbewertet. Sidonie fühlt sich von Kraus' Ansprüchen oft überfordert. Am deutlichsten bringt sie dies in einem Tagebucheintrag des Jahres 1921 zum Ausdruck, in dem sie über Gustav Strindberg, den sie bewunderte, schreibt: "Er wollte von seinem Geiste ihrem Geiste geben, statt aus ihrer Natur für seine Gedanken zu schöpfen.. . " 2 3 4 Nadherny fühlt sich durch die Intensität von Kraus' Leidenschaft und seiner Neigung, sie in die ihm vorschwebende Schablone zu pressen, mehr und mehr bedrängt, wie z.B. die folgende Briefpassage vom März 1917, in der Kraus einen Passus aus einem Brief der Gefahrtin wiedergibt, zeigt: "Die Natur sagt: "Wenn man nichts von mir verlangen würde, als was ich von selber geben kann, und nicht immer Auskunft und Versprechen und Antworten haben wollte, mich nehmen wie ich bin, dann wäre alles gut. Ich kann nichts dafür und thue alles dagegegen, aber ich fühle, wie ich erfriere, wenn ich nicht völlig frei handeln kann" So spricht die Natur" (BSNl, 424). So spricht für Kraus nicht ein für Selbständigkeit plädierender Mensch, sondern die nur ihrer Natur lebende Frau. Kraus strebt ein Verhältnis der Unterordnung an, wenn es auch nicht dem gängigen bürgerlichen System entspricht. Unter diesen Voraussetzungen bahnt sich die Trennung des Jahres 1918 an. TBSN, 4. März 1917. 169 Die Widmungsgedichte des Jahres 1918 1918 entstanden zwölf Widmungsgedichte an Sidonie Nädherny, davon acht von Ende Juni bis Anfang September auf Janovice, d.h. kurz vor der von Nädherny eingeleiteten 235 und im Oktober 1918 vollzogenen vorübergehenden Trennung von Kraus. Die aufschlußreichsten Gedichte dieser Zeit sind "Sehnsucht," "Auferstehung," "Schäfers Abschied," "Verwandlung" und "Unter dem Wasserfall." Sie entstanden mit Ausnahme der 236 zweiten Version von "Verwandlung" auf Janovice. Längere Begegnungen zwischen Kraus und Nädherny im Jahre 1918: Feiertage 1917 - 11.3. 1918 St. Moritz (siehe BSN2, 288); Rückkehr SNs über Innsbruck, Wien nach Janovice am 15. 5. 1918 (4 Tage Wien), SN am 30. 5. in Wien (BSN2, 292) 18. Juni bis 8. Juli KK auf Janovice (BSN2, 294). Mehrere gemeinsame Aufenthalte im August, u.a. auf Pottenstein, Sitz der gemeinsamen Freundin Mary Dobrzenski, Janovice und Wien (siehe BSN2, 299-301). Pottenstein, 1. Sept. 1918. KK überreicht SN das dort am 31. Juli entstandene Gedicht "Verwandlung." 2 3 6 In dieser Arbeit nicht besprochene Widmungsgedichte des Jahres 1918: SN für AB: "24. Bange Stunde. Wien, April 1918." SN für AB: "26. Huldigung der Künste am Namenstag. Janowitz, zum 25. Juni 1918. (23. Juni.- Ungedruckt). Er hatte mit Dora eine Namenstagsüberraschung vorbereitet: die von ihr komponierte "An eine Falte" wurde mir vorgespielt und vorgesungen." Dieser Angabe folgt der Abdruck des Gedichts. Siehe WV 671. SN für AB: "27. Aus Gewohnheit. Janowitz, zum 25. Juni 1918. (23. Juni.-ungedruckt.) Sie hat nur einmal Namenstag, Ich habe täglich ihren. Drum ist es mir Gewohnheit schon, Ob's auch im Ohr ihr klingen mag, Nur so zu gratulieren. Ich schick' ihr ein Akrostichon, Es soll den Tag verzieren." SN für AB: "Zum Namenstag" Janowitz, 25. Juni 1918. (Ungedruckt.) Schall und Rauch ist alles Glück, Ihr dürft drauf nicht wetten: Dora spendet die Musik, Ich die Cigaretten." SN für AB: "32. Slowenischer Leierkasten. Janowitz, 25. August 1918." SN für AB: "34. Sage von Steinen. Wien, 8. September 1918." SN für AB: "35. Vor dem Schlaf. Wien, Dezember 1918." Als 1918 entstanden und ihr gewidmet gab Nädherny in B1H zusätzlich an: "34. Wollust. Wien, September 1918." 170 Margarete Mitscherlich-Nielsen schrieb in ihrem Aufsatz "Sittlichkeit und Kriminalität. Psychoanalytische Bemerkungen zu Karl Kraus," in welchem sie unter anderem Kraus' melancholische Grundhaltung nachweist, "Sidonie Nadherny konnte ihn immer wieder von neuem kränken, ablehnen und wegschicken, er kam wieder und flehte sie 237 an, ihn nicht endgültig zu verlassen." Daß Nadherny sich die Trennung nicht so leicht machte, wie es auf den ersten Blick scheint, zeigen Nädhernys Tagebucheinträge dieser Zeit, z.B. ". . . speaking it over with dear, kind Dora [Pejacevic], we concluded, that a separation must be; I can stand him always less & less; the greater his love grows, the less can I return 238 it, & to be free of him, without hurting him too much, is my one most fervent wish." Einen 239 Monat später heißt es: "He [Karl Kraus] is a great load on my life. . . Nadherny fühlt sich von Kraus' Ansprüchen überfordert, sucht nach einer Möglichkeit, sich zurückziehen zu können, ohne Kraus zu sehr zu kränken. Die einzige Lösung, die sie im September sieht, ist, sich in ein kurzlebiges Abenteuer mit ihrem früheren Geliebten, JR, zu stürzen und dies als Vorwand für eine Trennung von Kraus zu benutzen. 2 4 0 Sie schreibt an Kraus: Ich bin s. unglücklich. Ich verliere Dich und mich. Nie kann mir ein Glück werden, das auf Deinem Unglück aufgebaut ist, denn dieses wird mich nie loslassen, auch in jenen kürzesten Augenblicken. - Zugleich aber fühle ich, dass ich nicht anders kann, ich weiss ich kann den Geringeren nicht aus meinen Nerven reissen u. wenn ich auch Der Aufsatz erschien in Karl Kraus, hrsg. Heinz Ludwig Arnold (München: edition text + kritik, 1975) 21-37, hier 33. 2 3 8 TBSN vom 18. 7. 1918, zitiert nach BSN2, 298. 2 3 9 TBSN vom 14. August 1918, zitiert nach BSN2, 299. 2 4 0 Zu Nädhernys Beziehung zu JR, siehe 72 dieser Arbeit. Wie aus einem Tagebucheintrag von Nadherny vom 1. Oktober 1918 hervorgeht, war die Affaire bereits Anfang Oktober beendet. 171 jede Gelegenheit vermeiden werde, so weiss ich doch u. gestehe es zu meiner grossen tiefen Schmach, gegen alles was Edelmuth, Grösse, Vernunft, Dankbarkeit, Freundschaft, Verehrung erwidern mag, dass, freilich nur ihm allein gelingen kann, was er sich wünscht. . . . Deshalb bleibe es beim gestrigen Abschied - solange, bis ungetheilt alles in mir Dich zu fragen wünschen wird, ob Du zurückkehren willst oder mir ewig verloren bist. 2 4 1 Aus dem Brief wird ersichtlich, daß Nadherny die Freundschaft von Kraus auch zu diesem Zeitpunkt nicht verlieren möchte. Daß Kraus als der Verlassene unter der sich anbahnenden Trennung wesentlich mehr litt als Sidonie, geht aus den Gedichten der Zeit hervor. Das Gedicht "Sehnsucht" leitet die Gedichte mit der Abschiedsthematik dieser Zeit ein. SEHNSUCHT Es war einmal. Ich leb' am Tage vom Gedanken, nachts von der Qual; oft träum' ich nur vom Traum. Du gehst dahin und bist dir selbst es kaum. In meinem Wahn jedoch, dem fieberkranken, sind deine Wesen ohne Zahl . 2 4 2 Das ein anagrammatisches Akrostichon "Sidonie" bildende Gedicht war auch Gegenstand des Briefwechsels zwischen Bloch und Nadherny. Bloch brachte sein Bedauern zum Ausdruck, daß es ihm nicht möglich war, das doppelte Akrostichon in der Übersetzung beizubehalten: 2 4 1 Brief Nadherny an Kraus vom 19. September 1918, zitiert nach BSN2, 301-02 2 4 2 SN für AB: "25. Janowitz, 23. Juni 1918. Im Ms. ist der Titel: "Einodis" (wie er mich oft nannte) und der Anfangsbuchstabe jeder Zeile ist gross geschrieben." 172 Wie schade, daß es unmöglich war, für meine Nachbildung das umgekehrte Akrostichon zu retten! Und wie schön ist diese Umbildung des Namens—fast so schön wie der Name selbst! Nur der leise Anklang an "Einöde" beunruhigt ein wenig, was aber, wie ich nachträglich durch eine spätere Briefstelle aufmerksam gemacht wurde, von der Ähnlichkeit mit "Kleinod" aufgehoben wird . . , 2 4 3 Nädherny erklärte Bloch den Hintergrund von "Einodis," ein Name, mit dem Kraus sie anzureden pflegte: "Einöde als Ort der Einsamkeit, wohin hermits sich zurückziehen, als weltferner Begriff ist nicht beunruhigend, sondern auch in seiner Art ein seltenes Kleinod. Einöde - Wüste - die ich über alles liebe. Nie vergesse ich eine Oase bei Tozeur (Tunesien). In Stunden der Trauer zieht es mich dorthin. Dort könnte man glücklich sein. Einöde darf nicht mit öd verwechselt werden." 2 4 4 Die Eingangszeile von "Sehnsucht:" "Es war einmal" verweist einerseits in die Sphäre des Märchens, andrerseits auf ein Erlebnis, das als abgeschlossen betrachtet werden muß. Nur im Traum kann dieses Erlebnis in die Erinnerung zurückgerufen werden. Selbst dort erscheint es als Traum: "Oft träum ich nur vom Traum." In der Zeile "Du gehst dahin und bist dir selbst es kaum" bleibt es offen, ob das lyrische Ich aus dem Traum spricht oder die Angesprochene dafür kritisiert, daß sie nicht so ist, wie er sie sich wünscht. In der letzten Zeile kommt wieder zum Ausdruck, daß das "Du" eigentlich nur in der Vorstellungskraft, "dem Wahn" des lyrischen Ich existiert. 2 4 3 AB an SN, 9. Februar 1948. 2 4 4 SNan AB, Beilage zum Brief vom 18. Februar 1948. 173 In dem Gedicht "Schäfers Abschied" ruft sich der Dichter Kraus die einzelnen Phasen seiner Beziehung zu Sidonie Nädherny ins Gedächtnis zurück. Ursprünglich formten alle Strophen das Akrostichon "Sidi," in der veröffentlichten Fassung nur die erste und letzte Strophe. Das lyrische Ich erinnert sich in "Schäfers Abschied" der Höhepunkte der Verbindung, die in engem Zusammenhang mit den Gedichten "Verwandlung," "Die Krankenschwestern," "Vor einem Springbrunnen" und "Abschied und Wiederkehr" stehen. Nädherny erläuterte für Bloch ausführlich den biographischen Hintergrund von "Schäfers Abschied" (siehe dazu Anmerkung 245) und zeichnete für ihn die damals noch unveröffentlichte Fassung auf. Die Gegenüberstellung der ungekürzten unveröffentlichten Version mit der von Nädherny für Bloch zusammengestellten Version gibt wieder Aufschluß über Nädhernys Schuldgefühle gegenüber Kraus. Sie kommen zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, daß sie in der Abschrift der unveröffentlichten Fassung für Bloch die Strophe "Sie sagt 'Sie ' und c man' zu mir - / Ich kann so nicht lieben. / Du, zu wenig hab' ich dir / In dein Herz geschrieben!" ausließ. Auch drei Strophen, die Hinweise auf Mißstimmungen in der Schweiz geben, verschwieg Nädherny in ihren Aufzeichnungen für Bloch. Diese Strophen sind mit eckiger Klammer gekennzeichnet, sich entsprechende Strophen sind einander direkt gegenübergestellt. [Klagelaute zum 25. Juni 1918] SCHÄFERS ABSCHIED Sind die Wiesenglocken mir Sind die Wiesenglocken mir In den Herbst verklungen, in den Herbst verklungen: Dauert nur der Sommer dir, dauert nur der Sommer dir, Ist ein Lied gesungen. ist ein Lied gesungen. Sehnsucht macht den Dichter stark, Sehnsucht macht den Dichter stark, Irdisches Entsagen. glühendes Entsagen. 174 Darb' ich, so gedeiht dein Park Darb' ich so gedeiht mein Park In den Thränentagen. in den Tränentagen. "Semper idem" war das Pfand, Immer mir gegeben. Dankbar fühlt' ich Frühlingsband In dem Winterleben. "Semper idem": stets bewähr' Ich die Treudevise Durch die Zeit, da ich nicht mehr In dem Paradiese. Seit mir jener Tag verging, Ist es noch wie gestern. Damals war ich Schmetterling, Ihr zwei Krankenschwestern. Sommer war in Janowitz, Ich im reichsten Hoffen. Durch die Pappel hat ein Blitz In mein Herz getroffen. Sorge drückt mir auf die Brust: Irrte so viel Liebe? Deine Schafe, deine Lust - Irgendwo sind Diebe. Seh' wie ehmals Stern an Stern Insel schwand und Schwäne. Zweifel drückt mir auf die Brust: irrte so viel Liebe? Deine Schafe, deine Lust - irgendwo sind Diebe. Steht wie ehmals Stern an Stern - Insel schwand und Schwäne. Dworak bläst noch. Aber fern Ist mir Bobbys Mähne Sommernächte: wie erhellt Ist die Lust vom Lichte Deckung bietet uns das Zelt, Ich mach' dort Gedichte. Sieh, das war die schönste Zeit, Ich vergess sie nimmer. Du trugst nachts ein grünes Kleid In dem blauen Zimmer. Sidis Gartenhaus: da muss Ich selbst heut' nicht fasten. Deiner Gnade Hochgenuss Ist ein Leierkasten. Seh ich dich am Bettelstab, Ich will mit dir gehen! Doch du müsstest bis zum Grab Immer Orgel drehen. [Sie sagt "Sie" und "man" zu mir - Ich kann so nicht lieben. Du, zu wenig hab' ich dir In dein Herz geschrieben!] Sei am Tage weltenweit Ihrem Mönch die Nonne; Sterne sind noch. Einer fern fiel herab als Träne. Sommernächte - wie erhellt war die Lust vom Lichte, Untertan die ganze Welt glänzendem Gesichte! Ach, das war die schönste Zeit, ich vergess' sie nimmer. Du trugst nachts ein grünes Kleid In dem weißen Zimmer. Wie verklärte sich der Pfad unter deinem Scheine! Steine, die dein Fuß betrat, waren Edelsteine. Dringt doch aus dem süßen Leid In der Nacht die Wonne. Springbrunn, himmelhoch und hell, Ist er mir verflossen, Daß dafür ein Thränenquell In die Welt gegossen? Springbrunn, himmelhoch und hell, ist er mir verflossen und dafür ein Tränenquell in die Welt gegossen? Sucht' ich Abschied - Wiederkehr Ist es schon gewesen. Dieser Wechsel gilt nicht mehr, Ist verkehrt zu lesen. Tagwärts in die dunkle Zeit ist dein Bild verronnen. Aber nachts das süße Leid weckt mir deine Wonnen. [Sucht dein Aug' nach fernem Schnee, Ist dein Ohr nicht hörend. Dorten wartet schon Maymay, Ich bin da nur störend.] [Sport war meine Sache nie, Ich laß Berge grüßen. Du gehst leichter auf dem Ski, Ich auf Versesfüßen.] [So bin ich wohl auch nicht faul, Ich gelang' zur Höhe. Du erreichst sie mit Capaul, Ich in deiner Nähe.] Sonne schien in Alp Laret Innerstem Verlangen. Dass mein Herz nicht untergeht, Ist sie aufgegangen. Sonnentrunkner, heissern Blicks Irrt mit blauem Flügel Durch Vallorbe, das Thal des Glücks, Ihre Lust zum Hügel. Selig hat mich aufgethaut Ihr lebendger Wille. Dringt mir noch ihr Klagelaut, Ist der meine stille. Sicher kommt es noch einmal, In den bessern Zeiten. Dorthin sei der Trennung Qual Inneres Geleiten. Segen deinem stolzen Schritt In die fernste Richtung! Du nimmst meine Seele mit, Ich bewahr' die Dichtung. (WV, 671-73) Sonne schien in Alp Laret loderndem Verlangen. Daß mein Herz nicht untergeht, war sie aufgegangen. Sonnentrunkner, heißern Blicks, irrt mit blauem Flügel durch Vallorbe, das Tal des Glücks, helle Lust zum Hügel. Selig hat mich aufgetaut Ein lebendiger Wille. Tönte mir dein Klagelaut, war der meine stille. Ach, geschah' es noch einmal, in den bessern Zeiten! Dahin sei der Trennung Qual inneres Geleiten. Segen deinem stolzen Schritt in die fernste Richtung! Du nahmst meine Seele mit. Ich bewahr' die Dichtung. (WV, 279-80) 2 4 5 SN für AB: "Schäfers Abschied. Janowitz, 23724. Juni 1918. Im Ms.: "Klagelaute zum 25. Juni 1918" mit 20 Strofen.-Zum Verständnis: "Semper idem" ist mein Wappenspruch. Ein Blitz hatte eine alte Pappel im Park zerstört. Der Nachtwächter Dvorak blies nachts auf einem Horn jede Stunde. Im Park stand ein Sommerhaus in Form eines Zeltes. In einem nach mir genannten anderen Gartenhaus 178 Der ursprüngliche Titel "Klagelaute zum 25. Juni 1918" verweist auf das Motiv des Klagelauts aus "Abschied und Wiederkehr" und anderen Gedichten. Diesmal wird der Laut vom verlassenen lyrischen Ich ausgestoßen. Die Rahmenstrophen enthalten selbstlose Wünsche für die Geliebte. In der Anfangsstrophe heißt es "dauert nur der Sommer dir," in der Schlußstrophe "Segen deinem stolzen Schritt." Das Gedicht beginnt und endet mit einer Betonung der Inspiration, die das lyrische Ich der Geliebten verdankt: "Sehnsucht macht den Dichter stark . . . " und "Du nahmst meine Seele mit / Ich bewahr die Dichtung. . , " 2 4 6 Wenn in "Schäfers Abschied" die einzelnen Phasen der Beziehung noch einmal in Erinnerung gerufen werden, so wird in "Auferstehung" noch einmal das Liebeserlebnis als ein die Ewigkeit symbolisierendes Moment beschrieben. Den Mittelpunkt jeder Strophe bildet ein damit im Zusammenhang stehender Begriff, sei es in der ersten Strophe die Minute, in der die "Ewigkeit verweilte" oder in der letzten Strophe das Herz, das die "Vergänglichkeit" einzufangen imstande war. In der zentralen Strophe, die auch das Motiv des ersten Menschenpaares aus der ersten "Verwandlung" wieder aufgreift, hilft "ein Gott" die "Endlichkeit besiegen." Wie "Schäfers Abschied" mit einem Hoffnungsschimmer "Ach, stand ein alter Leierkasten aus Kroatien, dem ich manchmal alte Lieder entlockte. Alp Laret ist oberhalb St. Moritz." B1H: " . . . es sind 24 Strophen u. die Anfangsbuchstaben jeder Strophe bilden "Sidi", im Druck nur bei der ersten u. letzten Strophe. Erinnerung an Sternen- u. Sommernächte, Insel im Parkteich u. Schwäne, Springbrunnen in Rom, Alp Laret in St. Moritz, Vallorbe... . Erinnerung an die Krankenschwestern, an die alte Pappel, die ein Blitz zerstörte, . . . Bobby, mein Hund, . . . Abschied-Widerkehr (Iglau), Schnee, meine Skitouren in St. Moritz, Capaul mein Skifuhrer." 2 4 6 Im Anschluß an die Wiedergabe der Originalfassung schreibt Nadherny in ihren Abschriften für Bloch: "Ich hatte nach langem Zögern, schweren inneren Kämpfen und so tief auch mein Herz litt, dem edelsten Freund einen Schmerz zu bereiten, eine zeitweilige Trennung vorgeschlagen. Es war nicht Untreue. "Alles oder nichts" war die Devise. Meine Natur widersetzte sich, verlangte Freiheit. Erklären kann man das nicht. Natur und Gefühl geriethen in Gegensatz. Letzteres blieb unverändert, wurde aber besiegt. Während der nächsten 2 Monate, in denen gemeinsames Glück und gemeinsamer Schmerz sich abwechselten, entstanden folgende Gedichte . . . 179 geschah es noch einmal" endet, so endet "Auferstehung" mit einem Akt der Selbstfindung: "So bin ich auf dem Weg zu mir!," ein Motiv, das später auch in "Unter dem Wasserfall" erscheint. AUFERSTEHUNG Mein Haupt war Flamme, dem beschwingten Schritt entstieben Funken, als ich von dir eilte. Ich riß mir die Minute mit, wo uns die Ewigkeit verweilte! So ist das alte Wunder wieder wahr. Es half ein Gott die Endlichkeit besiegen. So ist ein müdes Menschenpaar zu jungen Tagen aufgestiegen! Mit beiden Händen trag' ich zitternd mir dein Herz, das die Vergänglichkeit umfangen. So werde ich zu dir gelangen! So bin ich auf dem Weg zu m i r ! 2 4 7 (WV, 215) Die zweite Version des Gedichtes "Verwandlung" hält das durch die Trennung verursachte Trauma und das Gefühl der vollkommenen Verlassenheit am intensivsten fest. VERWANDLUNG Du bist mir nur von weitem noch. Und kaum an meinem Horizont ein Rand mehr, nur ein Saum purpurnen Abschieds. Nur noch eine Spur. Schien mir die Sonne? Nein, sie schien mir nur! Du bist es nicht! Den Brand noch im Gesicht, ruf ich dir nach: Bist du nicht, warst du nicht! SN für AB: "30. Auferstehung. Janowitz, Juli 1918." 180 Warum verglommst du mir? - Doch warst du, doch! Du warst, du bist es: denn ich seh' dich noch. Wohin entsinkst du mir? Zurück bleibt Nacht. Wo lebst du, leuchtest jetzt? Wohin die Pracht? Noch spielt mein Geist mit deinem Licht; im Wähnen um das lebendige, stets nachgezogen, schaff deinem Schimmer ich durch meine Tränen den nie verlöschend letzten Regenbogen. Ich weiß von Wüsten, wo ein Mittag war und nichts als Lust, und alles wurde klar. Aufriß das große Licht mein Menschenauge, daß ihm die dunkle Welt nicht tauge; und aller Ursprung wurde mir bewußt. Und über mir war Mittag, stand die Zeit, und eine Weile war Unendlichkeit, ein Teil von dir. Mit Armen hielt ich sie, da war kein Anfang und das Ende nie! Dein Strahl traf durch mein Haupt und diese Welt brach auf in Flammen, die mein Herz verbrannten. Als alle Sinne dich erkannten, war ihnen gleich der Geist gesellt. Naturhaft jedes Ding um uns; der Mond nannte dich Schwester, und ein weher Wind war Stimme dir, die Stürme übertönt, und Sterne flohen, schwebten wir vorüber. Vorbei du mir! Dies ist der andre Herbst, dem niemals mehr entwandelt die Natur; 181 sie ging ins Grab, woraus ich sie empfing. Und überall ist nichts als Zeit, und nichts als Erde. Und du ließest nichts zurück als die Gewalten, die mich rückwärts rufen, und alles Opfer, das umsonst sich bietet, Herzuntergang in gnadenloser Weite, irres Gebet zu niemand und um nichts, gottloser Altar, Sternenlose Nächte, furchtbare Mächte der Gewesenheit! Ich renne rasend durch die Erdenzeit 248 zurück in dich und finde dich nicht mehr! In dem Gedicht fallt zunächst die an ein klassisches Drama erinnernde monologische, in freie Rhythmen mündende Form auf, die das innere Chaos des lyrischen Ich aufzeigt. Der erste Teil spiegelt in steigendem Maß das Gefühl totaler Einsamkeit wider. Im mittleren Teil ruft sich das lyrische Ich die Zeit mit der Geliebten in Erinnerung zurück, bevor es im letzten Teil in eine boden-, halt- und grenzenlose Finsternis stürzt. Zu Beginn des Gedichtes erscheint die Geliebte dem lyrischen Ich nur noch als ferne Erinnerung. Die Doppeldeutigkeit von Frage und Ausruf: "Schien mir die Sonne? Nein sie schien mir nur!" SN für AB: "33. Verwandlung. Pottenstein, 1. September 1918. Dort überreichte er mir dieses Gedicht. Nach seiner Abreise am nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief, de seinen schönsten Versen gleicht und den ich ungekürzt abschreibe:... Diese "Verwandlung" II. zerriss mein Herz. Trotz des tiefen, vielleicht noch schöneren Glücks, das späterhin folgte (wenn auch noch einmal unterbrochen) und rein, fast verklärt bis zum Lebensabschied anhielt und obzwar wir Beide, unerforschlicher Gewalt uns beugend, wussten, dass ich nicht anders konnte ("ich, als Anwalt der Natur, sage Dir: Du trägst keine Schmach, denn solche hat die Natur nicht und kennt sie nicht"), werden alle jene Gedichte, in denen sein wundes Herz blutet, mir bis zu meinem Tod ein Schmerz bleiben und immer wieder meine Augen mit Thränen füllen. Auch wenn ich weiss, dass er mir tausendmal verziehen hatte und alles Erlittene vergessen und ausgelöscht war, da es sich nicht geirrt hatte. Auch wenn ich mich der Freude erinnere, ihm wieder Glück und das sichere Bewusstsein gegeben zu haben, dass er nicht umsonst für meine Seele und seine Illusion gekämpft und dass er recht behalten hatte: 'Nie gab es tiefere Verwandtschaft zweier Seelen in dem All.'" 182 bringt das Leiden an einer Selbsttäuschung deutlich zum Ausdruck. Das lyrische Ich, das, ähnlich wie in "Die Krankenschwestern," auf Wärme und Neuwerdung gehofft hatte, wurde stattdessen mit Brandwunden geschlagen ("den Brand noch im Gesicht"). Trotzdem kann sich das Ich den Erinnerungen nicht entziehen. Der "nie verlöschend letzten Regenbogen" ist eine direkte Anspielung auf das "Regenbogenspiel" in "Vor einem Springbrunnen." Diese Erinnerung hilft dem lyrischen Ich, vorübergehend eine ruhigere Stimmung zu finden und leitet zum zweiten Teil des Gedichtes über, in dem hauptsächlich Motive der ersten Version von "Verwandlung" aufgegriffen werden. 2 4 9 "Ich weiß von Wüsten, wo ein Mittag war" bezieht sich, wie schon in der ersten "Verwandlung," auf Kraus' erste Begegnung mit Sidonie Nädherny, bei der sie über ihre Reise in die Wüste Tunesiens gesprochen hatte. Auf dieses Erlebnis geht auch das in "Sehnsucht" gebildete Akrostichon "Einodis" zurück. Das Motiv des Mittags erinnert an das Trugbild einer Fata Morgana in der Wüste, die am wahrscheinlichsten ist, wenn die Sonne am Mittag am höchsten steht. Illusion und Trugbild werden in der Rückschau für den Dichter Kraus schon Teil der ersten Begegnung. Das lyrische Ich hatte bei der Geliebten zum Ursprung gefunden, die Zeit stand beim Zusammensein mit ihr still, für kurze Zeit schien die Unendlichkeit, der Anfang eingefangen. Andere Motive, die aus der ersten Version von "Verwandlung" übernommen wurden, sind der Mond, die Schwester, der sich zum Sturm entwickelnde Wind, die Sterne und der Zustand des Schwebens. Erinnerung an das "Vorüberschweben" versetzt das lyrische Ich wieder in die Gegenwart. "Vorüber" ist die Überleitung zu "Vorbei du mir," das den dritten Teil von "Verwandlung" einleitet. "Dies ist der andere Herbst" ist noch einmal eine Erinnerung an Kraus' Begegnung mit Nädherny, die im Herbst 1913 stattfand. Jetzt ist der 2 4 9 Siehe dazu S. 111-17 dieser Arbeit. 183 dem Tod vorausgehende Lebensherbst gemeint. Die Geliebte stirbt symbolisch: "sie ging ins Grab, woraus ich sie empfing." Der daraus resultierende "Herzuntergang" des lyrischen Ich findet in "gnadenloser Weite" statt. Der Dichter Kraus hat in der Lyrik oft die Geborgenheit des kleinen Raumes gesucht, sei es im "grünen Grab" von Landschaft, sei es in dem von Bergen eingeschlossenen Tal von "Vallorbe." In "Verwandlung" gibt es diesen Raum der Geborgenheit und des Aufgehobenseins nicht mehr. Die Einsamkeit wird durch Verwendung von Adjektiven wie "gnadenlos," "irr," "gottlos," "sternenlos" und "furchtbar" betont. Die Häufung von Adjektiven, die Kraus sonst bewußt vermeidet., fällt an dieser Stelle auf. Gelingt es dem lyrischen Ich zu Beginn noch, seine Gefühle in einen Reim zu fassen, so endet das Gedicht ohne den ordnenden Reim, der sonst für Kraus in der Lyrik so wichtig ist. Das Gedicht ist eine einzige Klage um den Verlust der Geliebten. Sie endet in einer hoffnungs- und sinnlosen Finsternis, der das lyrische Ich vergeblich zu entkommen sucht: "Ich renne rasend durch die Erdenzeit zurück in dich und finde dich nicht mehr." In "Unter dem Wasserfall" findet das lyrische Ich aus dem Chaos zurück in eine geordnete Welt. Der Sturz ins Bodenlose in "Verwandlung" geht einem Heilungsprozeß voraus, der in "Unter dem Wasserfall" vollzogen wird. Schon die Regelmäßigkeit der Strophen signalisiert eine Überwindung der Krise. Das Baden unter dem Wasserfall dient der Reinwaschung und der Selbstfindung. Wie in anderen Gedichten von Kraus befindet sich der Schlüssel fur die Interpretation an zentraler Stelle. "Das zurück in dich und finde dich nicht mehr!" der "Verwandlung" mündet in "Was ich mir selbst schuf nahm mich selbst nicht auf. . . / Zurück in mich lief meiner Welten Lauf." 184 UNTER DEM WASSERFALL Wer vor mir ließ von diesem Wasserfall, von dieser Sonne sich begnaden! Wer vor mir stand, das Haupt im All, stolz an der Ewigkeit Gestaden! Von Gott bin ich hier eingeladen, so hoch in Gunst wie jedes Tier, und hier ist niemand außer mir, hier will ich frei von mir mich baden! Was ich mir selbst schuf, nahm mich selbst nicht auf, und Wort und Weib, sie wiesen nach den Schatten und alles Leben wurde ein Ermatten, zurück in mich lief meiner Welten Lauf. Nun bin ich zu den Wundern heimgegangen und auf der Gotteswelt allein. Hier dieser Sonnenstrahl ist mein. Wie hat die Schöpfung festlich mich empfangen! Lust ohne Leiden, Liebe ohne Last, Naturdrang ohne Scham und Schranken - ich bin an Gottes goldnem Tisch zu Gast und hab' mir nichts mehr zu verdanken! Weit hinter mir ist alles Weh und Wanken. Wie hat der Wasserfall Bestand! Wie segnet dieses Sonnenland SN für AB: "31. Unter dem Wasserfall Janowitz, 23. August 1918.'" 186 vor meiner Nacht mir die Gedanken! Der vierte "dem Tag von Vallorbe" gewidmete Band von Worte in Versen schließt mit "Unter dem Wasserfall," plaziert nach der zweiten Version von "Verwandlung," ab und beendet zunächst den Zyklus der Widmungsgedichte an Sidonie Nädherny. Aus der Plazierung von "Unter dem Wasserfall" nach "Verwandlung" kann die Überwindung der in "Verwandlung" durchlebten Krise geschlossen werden. Ähnlich wie die beiden frühen Sidonie-Gedichte, d.h. die erste Version der "Verwandlung" und "Vor einem Springbrunnen" zusammengehören, verkörpern die zweite Version von "Verwandlung" und "Unter dem Wasserfall" eine Einheit. Diese vier Gedichte bilden den Rahmen der ersten vier Bände von Worte in Versen, ein Forum, das die bedeutendsten Sidonie-Gedichte beinhaltet, die in der intensivsten Zeit der Beziehung von Karl Kraus und Sidonie Nädherny zwischen 1914 und 1918 entstanden. Der Zyklus der bedeutendsten Sidonie-Gedichte ist mit dem vierten Band von Worte in Versen abgeschlossen. 250 Die W i d m u n g s g e d i c h t e nach 1918 Nach 1918 schrieb Kraus nur noch wenige Widmungsgedichte für Sidonie Nadherny. Zwölf der achtzehn Gedichte entstanden zwischen 1919 und 1922, drei 1925 und drei 1932/33 nach langjähriger Pause . 2 5 1 Der Ton der Sidonie-Gedichte, aber auch der Briefe, ändert sich nach der Trennung von 1918. Sie enthalten immer wieder einen doppeldeutig satirisch-kritischen Unterton. Der Kontakt zwischen Kraus und Nadherny riß nach der Trennung von 1918 nicht ganz ab. Nadherny bemühte sich um die Freundschaft von Kraus, der ihren Annährungsversuchen auswich. Eine Freundschaft, wie Nadherny sie anstrebte, war Kraus zu dieser Zeit unmöglich. In einem Brief vom November 1919 schreibt er: "Freundschaft: das kann nur vor der Liebe kommen, nicht nach ihr. Wenigstens nicht als das Element, das Licht und Wärme gibt. Wie könnte ich zur Grundlage machen, daß etwas vorbei sei, dem ich 252 mein Höchstes verdanke? (BSNl, 479). Zur selben Zeit wie der zitierte Briefausschnitt dürfte das Gedicht "Die Verlassenen" entstanden sein, dessen Datierung Nadherny Schwierigkeiten bereitete. Es erschien in der Fackel 544-545 vom Januar 1920. Nadherny 2 5 1 In dieser Arbeit nicht besprochene Widmungsgedichte dieser Zeit sind: SN für AB: 36. Traum. Wien, 677., 7./8. März 1919." SN für AB: "39. Eros und der Dichter Wien, 29. Dezember 1920. Das erste Gedicht seit meiner Rückkehr in meiner Gegenwart niedergeschrieben, da ich mit Korrekturen half. . . ." SN für AB: "43. Erlebnis. Wien, 24.1. 1922." SN für AB: "46. Fernes Licht mit nahem Schein. Wien, 1.11.1922." SN für AB: "48. Sturm und Stille. Janowitz, 2./3. August 1922. Im Ms ist der Titel: "An die Unbekannte" und der Urtext lautet: Weh mir, dass deine Stimme mir versagte, als ich in meinem Sturm zu dir mich wagte. Allgegenwärtig war, was micht verückte! Und nie im Leben traf ich die, Entrückte. Weh mir, dass ich das Beste, was ich wusste, dich selber, selbst vor dir verbergen musste. An dir empor-welch grenzenloses Wagen! Erlangt, erlebt-und könnt' es dir nicht sagen. 2 5 2 Kraus' Hervorhebungen. 187 datierte es in ihren Aufzeichnungen für Bloch mit dem 20. Februar 1920, also später als das 253 Datum der Ersterscheinung. "Den Verlassenen" widmete Kraus auch den fünften, Anfang 1921 erschienenen Band von Worte in Versen, der erste der Reihe, der weder mit einem Sidonie-Gedicht eingeleitet noch abgeschlossen wird und außer "Die Verlassenen" nur noch ein von Nädherny in ihren Aufzeichnungen für Bloch aufgeführtes Widmungsgedicht, "Als ein Stern fiel," das sich ebenfalls mit der Abschiedsthematik befaßt, enthält . 2 5 4 DIE VERLASSENEN Berückend gar, aus deinem Zauberkreise gezogen sein! Nun zieht nach unerhörter Weise die Lust auf ihre letzte Reise allein. Und nie ersattend findet sie die Nahrung, vertraut dem Urbild einer Menschenpaarung und einer Flamme Offenbarung, die sie geschaut. Wie mag es sein, aus meinem Feuerkreise geflohen sein! Nun zieht nach ungewohnter Weise die Seele auf die lange Reise allein. 2 5 5 (WV, 297) 2 5 3 Siehe dazu BSN2, 308. Die genaue Datierung des Gedichtes wurde für diese Arbeit nicht festgestellt. 2 5 4 Band V von Worte in Versen enthält auch das Gedicht "Schnellzug," das Nädherny in B1H als ihr gewidmet aufführt. 2 5 5 SN für AB: "37. Die Verlassenen Wien, 20. Februar 1920." 188 Die "Seele," eine Personifikation der Geliebten, wandte sich vom lyrischen Ich ab. Durch den Zauber der Erinnerung bleibt sie ihm jedoch auf einer geistigen Ebene auf eine Weise lebendig, die die Trennung nicht, wie zu erwarten wäre, als "bedrückend," sondern als "berückend," also faszinierend und bezaubernd zu verarbeiten sucht. Das Dichter-Ich bezieht aus der Erinnerung weiterhin seine schöpferische Inspiration. Nädherny stand seit 1919 wieder in Kontakt mit ihrem psychisch kranken entfernten Cousin Max Thun und Hohenstein, den sie selbst in einem Brief an Kraus als "kranken Schuft" bezeichnete und der bereits in Kraus' frühen Briefen an Nädherny stets nur negativ 256 dargestellt ist. Am 12. April 1920 heiratete Nädherny im Alter von vierunddreißig Jahren den um zwei Jahre jüngeren Max Thun. Die Trauung erfolgte ohne Zustimmung und Anwesenheit von Charles Nädherny und den Angehörigen Thuns im Stift Heiligenkreuz bei 257 Baden in der Nähe Wiens. Trauzeugen waren der Mesner und der Pförtner des Stifts. Nach wenigen Monaten des Zusammenlebens in Wien und Prag verließ Nädherny Max Thun wegen seines labilen Geisteszustandes. Sie strebte erst 1932 kurz nach dem Tod ihres Zwillingsbruders endgültig die Scheidung an. Vielleicht wollte sie als verheiratete Frau ihre Unabhängigkeit von Karl Nädherny wahren. Vielleicht erschien es ihr gesellschaftlich weniger fragwürdig vom Ehemann getrennt zu leben als geschieden zu sein. Auch die Frage, warum sie die Ehe nicht annulieren ließ, läßt sich stellen. Kraus hatte von Nädhernys Eheschließung über Bekannte erfahren und fühlte sich, wie Nädherny Bloch mitteilte, für ihre Fehlentscheidung später mit verantwortlich, da er ihr 2 5 6 Kraus zitiert Nädherny in seinem Brief vom 11. Dezember 1915, siehe BSN1, 281. 2 5 7 Siehe dazu BSN2, 308. 189 nach der Trennung von 1918 seine Freundschaft entzogen hatte. Kraus' Antwort auf die Heirat war das Gedicht "Als ein Stern fiel." ALS EIN STERN FIEL Was ich je empor gesprochen, mündet es in mich zurück? Heute ist ein Stern zerbrochen und es bleibt ein Erdenstück. Was da einem Himmelskreise sich in meiner Nacht entwand und sich jäh entschloß zur Reise in ein allzu irdisch Land - ach, es strahlt in eine Richtung, die mir tief das Herz verstört. Und es hat die eigne Dichtung mir nicht, mich nicht angehört! Weh, wie über alle Grenzen riß ich die Natur ins All! Welch ein trügerisches Glänzen ach, begleitet diesen Fall! Welch ein Aufruhr unter Sternen, der die Ewigkeit zerreißt! Alle Höhen, alle Fernen, alle Herzen sind verwaist. Anmerkung in BAB zu Kraus' Brief vom 15./16. November 1919: "Als ich zwei Monate später mich zu einer Heirat verleiten ließ, quälte er sich nachher mit Vorwürfen, dass die Veranlassung dieser Brief gewesen sei: weil ich mich von ihm verlassen fühlen musste." 190 Und sie stöhnen ob der Stunde, wo mit unumwundner Hast nun aus der verklärten Runde eilt ein gottgeliebter Gast. Eingedenk des großen Gestern, lichtbefangen, wertbewußt, klagen wir verlorner Schwestern unerforsch liehen Verlust. Und wir blicken ihrer Bahnen noch die letzte lichte Spur. Welch ein Abschied! Welch ein Mahnen an die sterbliche Natur! Welch ein Absturz in das Wilde, der ihr so die Heimkehr weist! Einst erschuf ein Luftgebilde seiner Schöpferlust der Geist. Dunkel wirds. Dem Aug verloren ist das glühend Meteor. Zu den unverrückten Hören 259 schau' ich in die Nacht empor. (WV, 356) Die Versöhnung mit und Rückkehr zu Karl Kaus fand an Weihnachten 1920 statt. Nadherny hatte durch Leopold Liegler, dem ersten Kraus-Biographen, der so zum Mitwisser der 2 5 9 SN für AB: "38. Als ein Stern fiel Wien, 4. April 1920. Nach Erhalt der Mittheilung (durch Bekannte), dass ich mich verheiratet hatte. Es war meinerseits eine Sinnesverwirrung." 191 Kraus/Nädherny-Beziehung wurde, ein Treffen in einem Wiener Cafe arrangiert. Nädherys Beschreibung in ihrem Tagebuch läßt die Plattheit dieses Wiedersehens 261 erkennen. Noch bei einer späteren Wiederannährung im Jahr 1927 bezieht sich Kraus auf die Begegnung Ende 1920 als das "kärgliche weihnachtliche Wiedersehen von damals" (BSN1, 588). Nädherny blieb im Januar 1921 bei Kraus in Wien und half bei den Korrekturen des Dramas Die letzten Tage der Menschheit. Kraus erlebte nach der Wiederaufnahme der Beziehung erneut einen Aufschwung in seiner Arbeit: "Alle, Arbeit, die ich je gethan habe, war Faulenzen gegen das was . . .jetzt sich am Schreibtisch abgespielt hat"(BSNl, 490). In dieser Zeit schreibt Nädherny auf die Bitte von Kraus auch 262 dessen Briefe an sie ab, eine Arbeit, die sie im Februar 1921 beendet. Im Zusammenhang mit den Briefabschriften fur Albert Bloch erläutert Nädherny, sie habe die Briefe kopiert, da Kraus' Schrift schwer zu entziffern sei. Schon damals habe Kraus die Möglichkeit einer 263 postumen Veröffentlichung seiner Briefe an sie erwogen. Im Sommer 1921 entstanden erste Vorarbeiten zu einer "Sprachlehre," ein Werk, das Kraus Anfang der dreißiger Jahre in enger Zusammenarbeit mit Nädherny fertigstellte. 1922 schreibt er über die geplante 2 6 0 Leopold Liegler, Karl Kraus und sein Werk (Wien: Länyi, 1920). Albert Bloch erwarb dieses Buch noch während seiner Münchner Zeit gleich nach Erscheinen 1920. 2 6 1 TBSN vom 1. Januar 1921: " . . . In the evening at 7 K.K. [Karl Kraus] came (his coming without telling him to whom, I arranged with Liegler) . . . Gave him a spitzl, he me his poembook V." Siehe dazu BSN2, 311/12. 1921 kam es u.a. zu folgenden längeren Begegnungen zwischen Kraus und Nädherny: Nädherny Januar 1921 in Wien. Nädherny im Mai in Wien. Juli Begegnung in Dresden. Kraus den ganzen August auf Janovice. Kraus im September zweimal auf Janovice. Ebenfalls im September einwöchige Autotour mit Nädherny in Böhmen. Kraus über Weihnachtstage und Jahreswechsel auf Janovice. 262 ygg^j v o m |2 . Februar 1921: "Yesterday I at last finished my great work: copying and numbering all my letters, telegram[m]s & cards from K.K., all in all more than 700." Siehe auch BSN2, 313. 2 6 3 SN an AB, 5. Dezember 1947. 192 Widmung dieses Buches an Nadherny: "Das Buch "Zur Sprachlehre'". Es soll Dir allein gewidmet sein . . . Es gehört ja zu "Worte in Versen" und die Widerholung der Widmung . . . wird die würdigste Widmung sein (BSNl, 570) ." 2 6 4 Auch zehn Jahre später, 1932, bezieht sich Kraus noch auf das Werk als Sidonies "Sprachlehre" ("Deine Sprachlehre," BSNl, 637). Die Sammlung von Aufsätzen über die Sprache erschien erst nach Kraus' Tod ohne die 265 vorgesehene Widmung. Die Probleme Sidonies mit ihrem Bruder scheinen sich nach der Versöhnung 1921 ähnlich wie 1914/1915 zu gestalten. Daß es sich bei der Kraus/Nädherny-Beziehung um eine Liebesbeziehung handelte, soll nach wie vor verschwiegen werden. Kraus schreibt im Februar 1921: "Aber weiß denn Ch. [Karl Nadherny] nicht ohnedies, daß Du meine Freundin bist?" (BSNl, 489). Bei Aufenhalten auf Janovice wird nach außen hin nach wie vor die 267 Konvention gewahrt. Die Kraus/Nädherny-Beziehung erreicht nur kurz die Intensität der früheren Jahre. Im August 1921 entsteht auf Janovice das Gedicht "Du bist sie, die ich nie gekannt." "Sie, die" ist dabei eine Anspielung auf die Kurzform des Namens Sidonie. DU BIST SIE, DIE ICH NIE GEKANNT Du bist sie, die ich nie gekannt, die ich nicht nahm, die ich nicht hatte. Du keine Gattin, ich dein Gatte in einem andern Eheband. Kraus' Hervorhebung. 265 Die Sprache, Hrsg. Dr. Philip Berger (Wien: Fackel, 1937). Siehe auch Anmerkung 14. 2 6 6 Kraus' Hervorhebung. 2 6 7 Während eines Aufenthaltes auf Janovice schreibt Kraus: "Als gestern nachts hinunterkam, im Gang ein Licht gesehn. Somit weiß M. [Mechtilde Lichnowsky] oder N., daß ich oben war. Vielleicht also gut, M. zu sagen, daß wir drei gestern noch einige Zeit zusammen waren (da vielleicht auch Stimmen gehört wurden;...)" (BSNl, 512). 193 Du bist ein Wahn und bist ein Wille, ein himmlisch Wesen, Erdenwurm. Du rufst, und ringst um dich ist Stille. Du schweigst, und rings um dich ist Sturm. Du bist der Baum in seiner Blüte. Du bist das Tier in seiner Kraft. Du bist die reine Gottesgüte. Du bist die dunkle Leidenschaft. Du bist mir da und bist mir dorten, ein tiefer Ton, ein weiter Schall. Du bist Musik zu meinen Worten, ein Nirgends und ein Überall. Des Tags bist du ein Traumgebilde; in jedem Traum bist du mir nah. Zuständig bist du dem Gefilde, das ich mir vor der Zeit ersah. Bei Tag und Nacht streift eine Wonne vorüber meinem Horizont; und sinkst mir unter du als Sonne, so steigst du wieder auf als Mond. Du lebst in Tiefen, webst in Höhen, du schwebst und fällst in Lust und Qual. Um dein heroisch Auferstehen sieht man dich manchesmal banal. Nie bleibst du an der Erde haften, du stehst in einem höhern Plan; vereinigst alle Eigenschaften und bist doch keiner Untertan. Lebst ohne Ruh und ohne Reue es schwindelt mir auf deiner Spur, und immer nur hältst du die Treue dir und der liebenden Natur. Hab ich gewonnen die Verlorne, bestreitet sie mir den Gewinn. Entschwand sie mir, erstand dem Sinn 268 die nie gekannte Schaumgeborne. (WV, 393) Die zahlreichen Beschreibungen des "Du" verweisen in eine tierische, überirdische oder geistige Sphäre, die in der "Schaumgeborenen" gipfeln, einer Metapher, die an die von Zeus gezeugte schaumgeborene Venus erinnert und auch an Helena in Goethes Faust II, wo es heißt "Die Wohlgestalt, die mich voreinst entzückte, / In Zauberspiegelung beglückte, / War 269 nur ein Schaumbild solcher Schöne!" Daß Sidonie immer wieder zur Phantasiegestalt wird, kommt auch in der Widmung des sechsten Bandes von Worte in Versen zum Ausdruck, das "Dem Knaben Lenker" gewidmet ist, einerseits eine Anspielung darauf, daß Nadherny SN ftir AB: "40. Du bist sie, die ich nie gekannt Janowitz, 27. August 1921. Im Ms.: "Du bist Sie die ich nie gekannt Ihr gewidmet von K." 269 Zitiert nach Johann Wolfgang Goethe, Faust: Der Tragödie erster Teil und zweiter Teil, Urfaust, hrsg. Erich Trunz (München: Beck, 1986) 199 (6495-97). 195 bei den gemeinsamen Reisen immer die Wagenlenkerin war, andererseits eine Bezugnahme auf die Gestalt Euphorions in Faust II, der künstlich aus der Retorte entstand. Das "Du" ist ein Phantom, das die gegensätzlichsten Eigenschaften in sich vereinigt und sich jeder Faßbarkeit entwindet. Es wäre falsch anzunehmen, daß Kraus keinen Ausgleich zu dem sich schwierig gestaltenden Sidonie-Verhältnis gefunden hätte. Für Kraus bildete schon in der Zeit der Trennung die Freundschaft mit Mechtilde Lichnowsky einen Ersatz für den Verlust von Nadherny. Diese Freundschaft gestaltete sich nach der Kraus-Nädherny-Versöhnung weiterhin sehr eng. Aus Kraus 5 Briefen an Nadherny aus dem Jahr 1921 wird die 270 gefühlsmäßige Bindung von Kraus an Lichnowsky ersichtlich. Bestes Zeugnis dafür sind jedoch drei Gedichte, die Kraus der Lichnowsky 1921 und 1922, also nach der r 271 Wiederaufnahme der Beziehung zwischen Kraus und Nadherny, widmete. Das Gedicht, "Du seit langem einziges Erlebnis," das als Gegengedicht zu "Du bist sie, die ich nie gekannt" angesehen werden kann, ist Lichnowsky, und nicht, wie Sidonie Nadherny selbst noch zur Zeit ihres Briefwechsels mit Bloch annahm, ihr selbst zugeeignet. Sie schloß dieses Gedicht sowohl in ihren Anmerkungen für Bloch als auch in B1H irrtümlicherweise als ihr zugeeignet mit ein. Allerdings war Nadherny bei der Datierung des Gedichtes verunsichert. An Bloch schreibt sie: "Ich habe mich nachträglich überzeugt, dass Du seit langem einziges 2 In einem Brief an Nadherny vom 30./1. Dez. [1921] schreibt Kraus: " . . . ; ich kann nicht mehr weiter mit mir. Was mich noch hält, ist daß ich Dir und ihr [Mechtilde Lichnowsky] helfen möchte. Könntet ihr mir desgleichen tun! M. will es. Und Du auch, auf Deine große, seltene Art, die ich immer zu spät erkenne" (BSNl, 520). 2 7 1 Das Gedicht mit der Widmung an Mechtilde Lichnowsky ist wiedergegeben in Marbacher Magazin 64/1993: Mechtilde Lichnowsky: 1879-1958, hrsg. Ulrich Ott, Redaktion: Friedrich Pfäfflin (Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 1993), 4L Auch die Gedichte "Auf die wunderbare Rettung der Wunderbaren" und "An eine Heilige" sind Lichnowsky gewidmet. 196 Erlebnis am 23. 1. 1927 und nicht 22 entstanden ist, kurz nach meiner Rückkehr zu ihm, hat also keine direkte Beziehung zu dem zitierten Brief vom 21.-23.1. 22 und muss also dieses und nach '(Gemeint sind)' gestrichen werden. Der Irrtum entstand durch das unklar geschriebene T . " 2 7 2 DU SEIT LANGEM EINZIGES ERLEBNIS Du seit langem einziges Erlebnis außer dem was ich mir selbst ersonnen, unerfaßlich nahes Neubegebnis, das von altersher zu Schlaf geronnen - Wie du bang erwartet an mich blitzest, lieblich spielst du am Bewußtseinsrande, bannst mich, ehe du mich ganz besitzest, bald erkannt in jeglichem Gewände. Eben noch von nie geschauter Schöne, zwingst als Monstrum dich zu lieben und erlaubst, daß ich mich leicht gewöhne an den Anblick einer bösen Sieben. Nun erscheint mit eines Räubers Augen ganz aus Unheil eine alte Eule, Aber gleich wirst du mir anders taugen, denn schon tanzt ein Bär um eine Säule. SN an AB, 18. Februar 1948. Der Frage, ob Nädherny von Kraus ebenfalls ein Widmungsexemplar erhielt, konnte in dieser Arbeit nicht nachgegangen werden, auszuschließen ist es nicht, da Kraus z.B. seinen Einakter Traumstück ursprünglich auch Nädherny und Lichnowsky zusammen widmen wollte. 197 Was bedeuten alle diese Leute, die ich nie gesehn und die da staunen, daß wir uns begegnen hier und heute, jeder mit so ganz verschiednen Launen. Nichts in mir besinnt sich, was verschulde dies Getriebe zwischen Tag und Traume. Wenn ich mich ein Weilchen noch gedulde, nimmt es mich nach einem neuen Räume. Schon verschieben sich die trüben Sinne und ich spüre andre Dimensionen. Und ich weiß nur noch, daß ich beginne 273 besser bald als irgendwo zu wohnen. (WV, 379) Daß "Du bist sie, die ich nie gekannt" einen Vergleich mit "Du seit langem einziges Erlebnis" darstellt, ist aus der Parallelität der Eingangszeilen ersichtlich, die bei beiden Gedichten mit dem Titel identisch sind. "Du seit langem einziges Erlebnis" enthält außerdem ganz andere Metaphern als die Sidonie gewidmeten Gedichte. Die in Sidonie-Gedichten immer wieder erscheinenden "Luftgebilde" fehlen in dem Lichnowsky-Gedicht. Die Angeredete erscheint als "tanzender Bär," also als Tier das Grazie und Stärke in sich vereint, und als "alte Eule," die zwar als Hexenvogel gilt, aber auch Sinnbild der Weisheit ist. Mit einer "bösen Sieben" wird eine zanksüchtige Frau bezeichnet. Hier wird sie nicht als Bedrohung empfunden. Im Gegenteil, sie ist im Stande, das lyrische Ich an sich zu binden. SN für AB: "42. Du seit langem einziges Erlebnis. Wien, 23.1. [1921]." Die in der unter Anmerkung 265 angegebene Version trägt das Datum 23724. April 1921. In B1H macht Nädherny die Angabe: "Ende Jänner 1922." 198 Das Gedicht drückt Anerkennung für die Angeredete aus, die insgesamt ein positiveres Werturteil erthält als das "Du" in "Du bist sie, die ich nie gekannt." Auch die Eingangszeilen "Du seit langem einziges Erlebnis, / außer dem was ich mir selbst ersonnen," enthalten einen Vergleich, und zwar mit keiner realen, sondern mit einer "selbst ersonnenen" Person. Wie sehr Kraus Lichnowsky schätzt, kommt deutlich in den abschließenden beiden Versen zum Ausdruck: "Und ich weiß nur noch, daß ich beginne, / besser bald als irgendwo zu wohnen." Auch im Gedichtsabschluß erscheint indirekt wieder die schon im Anfangsvers erscheinende andere Person. Das lyrische Ich scheint "besser als irgendwo zu wohnen," also besser, als es zuvor bei Nädherny gewohnt hat. Daß dieses Gedicht kurz nach der Versöhnung mit Nädherny entstand, ist ein Zeichen dafür, daß die von Nädherny eingeleitete Wiederannäherung an Kraus von diesem mit mehr Reserviertheit aufgenommen wurde als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Aus seinen Briefen der Zeit geht hervor, daß Sidonie die geistige Nähe zwischen Kraus und Lichnowsky durchaus spürte, und sich selbst auf ihre Körperlichkeit reduziert fühlte. Kraus versucht, ihre Bedenken zu zerstreuen, wenn er sich zu rechtfertigen sucht: Ich würde mit keinem lieber als mit Dir - die herrliche M. [Mechtilde Lichnowsky] ist ja selbst ich - alles was in meiner Welt liegt, betrachten, tragen, erleben, besprechen wollen. Ich kann es nicht, wenn ich nur ein winziges Zeit- und Raumteilchen von Dir abbekomme, und da, dann erwacht aus dieser Entziehung, in der sich alles Wesentliche verkürzt sieht, die Lust, der Du nicht gewachsen bist. (BSN1,518) Daß sich Kraus' Einstellung zur Frau seit der Begegnung mit Sidonie nicht wesentlich änderte, zeigt zum Beispiel das im Januar 1922 entstandene Sidonie-Gedicht "Dank," in dem 199 Kraus seine Ambivalenz zum weiblichen Geschlecht darlegt. "Was weiß die Welt, wie Weiber sich erwärmen! / Mit seinem Maß nur mag der Mann sie messen, / was drüber ist, 2 / 4 SN für AB: "44. Dank. Wien, 25.1. 1922." 2 7 5 Der Aufsatz erschien in Vienna 1900: From Altenberg to Wittgenstein, hrsg. Edward Timms und Ritchie Robertson (Edinburgh: Edinburgh UP, 1990) 87-107. Timms geht neben Sidonie Nadherny auf Kraus' Beziehungen zu Irma Karczewska, "the child-woman," der Schauspielerin Berta Maria Denk, Gina Kaus, Elisabeth Reitler und deren Schwester, Helene Kann ein. Timms schreibt: "There were also periods of estrangement from Sidonie Nadherny - in 1918-20 and again 1923-7. But, on the whole, Kraus seems to have succeeded in ensuring that his enduring attachment to 'the Baroness' was kept separate from his entanglements in Vienna. Vienna and Janowitz formed different worlds. Thus, Irma is never mentioned in Kraus's letters to Sidonie. From Kete Parsenow's letters we may infer that for a number of years Helene Kann remained on amicable terms with Irma. Each woman seems to have been assigned a clearly defined role in Kraus's unorthodox domestic arrangements. Helene, who had initially herself been a celebrated courtesan, evidently came to play a more motherly role, ensuring that Kraus was never short of feminine company: it was she who later introduced Kraus to Gina Kaus. Irma's position was more like that of a dependent child. A card which Kete Parsenow sent to Kraus in January 1924 sums the situation up suggestively: 'How are things going with you and your family? You know who I mean."' 93. 200 verachten und vergessen, / und was drunter, minniglich umschwärmen.. . "(WV396, 1-4). Eine geistig gleichstehende oder gar höher stehende Frau betrachtet Kraus als unweiblich und daher verachtungswürdig. Er hält damit ein typisches Zeitklischee aufrecht. Edward Timms geht in seiner Abhandlung The 'Child-Woman V Kraus, Freud, Wittels und Irma Karczewska den Beziehungen von Kraus zu verschiedenen Frauen nach. Timms weist auch daraufhin, daß Kraus seine Beziehung zu Sidonie Nadherny stets von denen zu anderen Frauen getrennt hielt, und sie auch in der intensiven Phase zwischen 1913 und 1918 nicht die "Einzige" w a r . 2 7 5 Es gelingt erst der Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky, die sich seit 1914 um die Anerkennung von Kraus bemüht hatte, einen ebenbürtigen Platz einzunehmen. Kraus ist ab 1920 immer wieder, oft in Begleitung von Sidonie Nadherny, Gast auf den Lichnowsky-Schlössern Grätz und Kuchelna. Für Sidonie Nadherny bleibt die Rolle der "Hörerin" und "Helferin:" 274 An Dir, dem Ausnahmefall meines Lebens, verehre ich Züge und Fähigkeiten als natürlich, die mir an und für sich fremd und unvereinbar mit Geliebtwerden erschienen wären. Ich glaube, du könntest eine Künstlerin sein. Oft denke ich, daß Du einmal ein Buch schreiben wirst. Und doch bliebest Du fähig, mich zu einem zu begeistern! . . . Das Mittelstadium: daß Du an dessen Korrekturen hilfst.. . . (BSNl, 536) Mechtilde Lichnowsky, selbst verheiratet und Mutter von drei Kindern, versuchte zwischen Kraus und Nädherny zu vermitteln und wollte sie zu einer Heirat bewegen. Diesen Vorschlag machte sie nicht allein im Interesse von Kraus, sondern wohl auch aus praktischen Erwägungen im Interesse von Sidonie Nädherny. Kraus zitiert Lichnowsky in dieser Hinsicht: "Sie [Mechtilde Lichnowsky] hatte einmal geschrieben, wie wichtig die Heirat wäre. Da ich dieser ja nicht widerstrebe, schrieb ich ihr, sie hätte alles das Dir sagen sollen, 276 denn ich wisse es nur zu gut" (BSNl, 533). Lichnowsky, die wohl wie wenig andere Einblick in die Kraus/Nädherny-Verbindung hatte, rekapituliert in ihrer Erzählung "Der Zeichner" das Kraus/Nädherny-Verhältnis aus ihrer Sicht: Sylvia [Sidonie Nädherny] dachte an frührere Zeiten, an das herrliche Einst. . . , in welchem sie, wie sie glaubte, im Mittelpunkt alles Geschehens stand. Eine innere Stimme sagte ihr das . . . Du warst jung, du warst schön, du besassest was zu besitzen das Leben bezaubernd macht und kostbar. Und sie gedachte der Freundschaft mit Demeter [Karl Kraus], dessen Tod vor vierzehn Jahren so jäh das Glück vernichtete, das den Inhalt ihres Lebens darstellte, nicht ununterbrochen, aber Siehe dazu auch BSN2, 330/31 und Marbacher Magazin 64/1993: Mechtilde Lichnowsky: 1879- 1958, 42. 201 immerwährend. Ihre Schönheit war seinem Geist gewachsen und wusste sich ihm in jeglicher Weise anzupassen, umso leichter, als er bei ihr schöpferische Kraft nicht erwartete, nur ein Mitdenken, Mitgehen, ein Stillhalten, wenn die seine am Werk war. Die Dinge sind selten genau so, wie man sie sich in seiner Abenteuerlust ausdenkt und vorstellt. So war er, wie sie annahm, vom Gedanken beglückt, dass sie seinem Geist mühelos zu folgen imstande war; in Wirklichkeit fand solch ein Zusammenklang nicht statt; doch konnte sie seine Gesinnung und Einstellung bestimmten Welten gegenüber in ihr Gefühlsleben aufnehmen und weit genug verstehen, besonders wenn eine seiner Welten Natur hiess, Bäume, Landschaft und Tierleben. Was Menschen betraf oder Abstrakta, so mussten sie angelernt werden. Wie dem auch sei, war ich nicht schön und anziehend und treu und zuverlässig? 277 sagte die innere Stimme. Das zu Sidonie Nädhernys sechsunddreißigstem Geburtstag in Wien am 1. Dezember 1921 entstandene Gedicht "Verlust" thematisiert erneut die körperliche Abwendung der Geliebten vom Dichter-Ich. VERLUST Welche Armut soll erwählt sein! Welch ein trauriger Verzicht! Meinem nächtlichen Gequältsein abgewendet dein Gesicht! 2 7 7 Lichnowskys "Der Zeichner" entstand kurz nach Sidonie Nädhernys Tod im September 1950 in London. Nach Nädhernys Flucht aus der Tschechoslowakei im September 1949 nahmen Lichnowsky und Nädhern^ ihre Freundschaft im Exil in London wieder auf. Kopie des Typoskripts "Der Zeichner" Archiv Anna Bloch, Lawrence, Kansas. "Der Zeichner" erschien in Zum Schauen bestellt (Eßlingen: Bechtle, 1953) 105-111. Die Erzählung beschreibt Aspekte der letzten Lebensmonate der Nadherny sowie des Kraus/Nädhemy/Lichnowsky-Verhältnis. Siehe auch Anmerkung 64. 202 Zum Verlust war ich erkoren, weil du so dich mir verlorst. Doch du selbst warst dir verloren, als du dich dir selbst erkorst. Was kann uns denn uns ersetzen? Du auch darbst, weil ich entfernt. Wie sich deine Augen netzen, seit mein Himmel unbesternt! Nie war tiefere Verwandtschaft zweier Seelen in dem All. Wie betrübt ist alle Landschaft, wie versiegt der Wasserfall. Nie mehr wird die Wiese grünen, niemals mehr ein Himmel blaut. Ach wie schmerzlich muß ich sühnen, daß ich die zu groß geschaut! Aber ist's nicht größre Sünde, was Natur an mir verbrach? Denn es stürzen alle Gründe und ich stürze ihnen nach . 2 7 8 (WV, 392) Die als einzigartig empfundene Verbindung kommt besonders deutlich in den Zeilen "Nie war tiefere Verwandtschaft / zweier Seelen in dem AH" zum Ausdruck, denen sich eine SN für AB: "41. Verlust. Wien, 1. Dezember 1921." 203 Rekapitulation der frühen Phase der Beziehung anschließt. Das Gedicht enthält Hinweise auf "Landschaft"und "Unter dem Wasserfall'^ "Wie betrübt ist alle Landschaft, / wie versiegt der Wasserfall."), "Wiese im Park" ("Nie mehr wird die Wiese grünen") und "Vallorbe" ("niemals mehr ein Himmel blaut"). Das Gedicht endet ähnlich wie die zweite Version von "Verwandlung" mit einem Absturz ins Grund- und Haltlose: "Denn es stürzen alle Gründe / und ich stürze ihnen nach." Sidonie zieht sich in dieser Zeit mehr und mehr in sich selbst zurück. Die ehedem lebenslustige, durch nichts einzuengende Frau versinkt in eine depressive Stimmung, aus der sie meint, nur durch weite Reisen herauszufinden. Sie schreibt zu dieser Zeit in ihr Tagebuch: "K.K. [Karl Kraus] sends me lovely loveletters - but I - cannot love any more. I have only one wish, one longing & I think of nothing else: to travel into foreign lands, to remain a few years away. But where get the money? It is the only sense & aim that I can still get out of l i fe." 2 7 9 Diese Reisesucht gipfelt im Jahr 1922 in dem Plan, zusammen mit Kraus, der sich diesem Vorhaben zunächst anzuschließen scheint, nach China zu reisen. In dem Gedicht "Dank" heißt es "Ich stürze mich in Deine Abenteuer." Die für ein Jahr geplante Reise kommt schließlich nicht zustande. Nädherny entschließt sich daher zu einer ausgedehnten Reise nach Ägypten, Palästina, Syrien und Griechenland, in deren Durchfuhrung sie von Rilke ermutigt wird. Diese Reise, die Nädherny Ende Januar 1923 antritt, ist der Beginn der erneuten Entfremdung zwischen Nädherny und Kraus. Das Paar sieht sich nach Nädhernys Rückkehr im Mai 1923 anscheinend nur kurz. Nädherny schreibt in ihr Tagebuch: "With K.K. I broke, I found out, that even he has a small bad character . . . " (BSN2, 349). Was vorgefallen war, bleibt unerwähnt. Kraus seinerseits läßt in einem Brief TBSN 30. Januar 1922. Siehe auch BSN2, 329. 204 vom Mai 1924 seine Enttäuschung erkennen, daß Nadherny seinen 50. Geburtstag ignorierte. In dem Brief, den Kraus erst im Oktober 1925 an Nadherny absendet, heißt es: Wie wäre das nur möglich, daß zehn Jahre ausgeschnitten sein sollen und nichts mehr vorhanden! So nichts mehr, daß sie, gerade sie, an einem Tag meiner nicht gedacht hat, wo es so vielen gelang, die doch nur die allgemein Gabe empfangen haben, welche sie, gerade sie, immer so hoch geachtet hat neben der besondersten, die nur ihr galt Wie fremd waren wir, als wir uns zum letzten Mal begegneten, nun ists fast ein Jahr, fremder als später als wir uns nicht begegneten. Wir konnten uns hundertmal vergessen wollen, das Bleibende ist doch stärker als das, was uns in die Flucht t r i e b . . . . (BSNl, 579-80) Die beiden negativsten Sidonie-Gedichte "Dein Fehler" und "Dialog," die beide 1922 in der Zeit entstanden, in der sich Sidonie von Kraus abwandte, sollten aus Kraus' Enttäuschung über das Scheitern der Beziehung heraus verstanden werden. DEIN FEHLER Dein Fehler, Liebste, ach ich liebe ihn, weil du ihn hast, und er ist eine deiner liebsten Gaben. Seh' ich an andern ihn, so seh' ich fast dich selbst und sehe nach dem Fehler hin, und alle will ich lieben, die ihn haben! Fehlst du mir einst und fehlt dein Fehler mir, weil du dahin, wie wollt' ich, Liebste, lieber dich ergänzen als durch den Fehler? Ach ich liebe ihn, 205 und seh' ich ihn schon längst nicht mehr an dir, die Häßlichste wird mir durch ihn erglänzen! Doch träte selbst die Schönste vor mich hin, und fehlerlos, ich wäre meines Drangs zu dir kein Hehler. Ihr, die so vieles hat, fehlt eines bloß und alles drum - ach wie vermiss' ich ihn - ihr fehlt doch, Liebste, was mir fehlt: dein Fehler! 2 8 0 (WV, 391) Es bleibt offen, worin der Fehler der Angeredeten besteht, und der sarkastische Unterton läßt sich nicht überhören. Kraus schreibt im Juli 1921 an Nadherny: "Dein größter Fehler ist, daß man Dich so selten hat" (BSNl, 509). Vielleicht ist das Gedicht ein weiterer Hinweis darauf, daß Kraus Nadherny oft in der Ferne mehr zu schätzen wußte als in der Nähe. Im Zentrum von "Dialog" steht der Ewigkeitsbegriff, den die stereotypisch dargestellte ohne Unterlaß und Sinn redende Partnerin nicht ernst n immt . 2 8 1 Kraus hatte bei einem seiner ersten Besuche auf Janovice in das Gästebuch eingetragen: "Es ist alles gut, in Ewigkeit," ein Anspruch, auf den sich das Dichter-Ich in "Dialog" zu beziehen scheint und dem die Angeredete nicht gerecht werden kann. In dem Ende 1922 entstandenen Einakter Traumstück, den Kraus ursprünglich Nadherny und Mechtilde Lichnowsky zusammen widmen wollte, verkörpert Sidonie die "Imago. Es scheint, als ob der Dichter Kraus in diesem Stück den Abschied von der 2 8 0 SN filr AB: "45. Dein Fehler. Wien, 26.1.1922. Besonders oft vorgetragen, auch in der letzten Vorlesung am 2.4.36." 2 8 1 SN für AB: "47. Dialog. Wien, Juni 1922." 206 "Imago" Sidonie vollzieht, die am Ende des Dramas "erlischt." Nachdem die lebende Geliebte Kraus so oft enttäuschte, wendet sich Kraus in dieser Zeit wieder einer anderen, bereits verstorbenen "Imago" zu, Annie Kalmar. Ihr widmet er 1923 den analogen Einakter zu Traumstück mit dem Titel Traumtheater. Noch 1931 entsteht das Gedicht "Annie Kalmar." 1925 entstehen die Sidonie-Gedichte "Am Kreuz," "Der Strom" und "Das Wunder," in denen sich das Dichter-Ich einerseits als Opfer darstellt, andrerseits die Inspiration durch die Geliebte noch einmal betont . 2 8 4 Es ist angebracht, an dieser Stelle noch einmal kurz auf Nädhernys Verhältnis zu Rainer Maria Rilke einzugehen. Die Beziehung zwischen Rilke und Nädherny gestaltete sich nach der Kraus/Nädhern^-Begegnung im September 1913 weniger eng, was nicht zuletzt auf das gespannte Rilke/Kraus-Verhältnis zurückzufuhren ist, dem eine persönliche und vielleicht auch dichterische Rivalität zugrunde lag. Trotzdem standen Rilke und Nädherny weiter in regelmäßigem Kontakt. Kraus seinerseits lag daran, daß Rilke seine Gedichte sah . 2 8 5 Kraus brachte Rilke auch ins Spiel, als sich Nädherny 1919 um Kraus' Freundschaft bemühte: Traumstück siehe Karl Kraus, Schriften, Bd. 11, Dramen, hrsg. Christian Wagenknecht (Frankfurt: Suhrkamp, 1989) 87-105, zur "Imago" 102-03. 283 Traumtheater siehe Kraus, Dramen 207-19. 2 g 4 SN für AB: "An mich gerichtet sind im J. 1925: 49. Am Kreuz (Mai 25). 50. Der Strom (August 25). 51. Day Wunder ([Juni] 25). In B1H findet sich der Eintrag: B1H: "Am Kreuz. Mai 1925. Als ich, falsch [berichtet] ihm Unrecht tat" 285 Am 14. Dezember 1916 schrieb Kraus an Nädherny: "Ich hatte geglaubt, man wolle 1 an R. [Rilke] schicken - aber das geht wohl jetzt nicht" (BSNl, 292). Diese Passage bezieht sich auf die Fackel vom Dezember 1915, die die Gedichte "Abschied und Wiederkehr" und "Wiese im Park" enthielt. 207 . . . Ich habe alle Achtung vor der Konstruktion, deren Schönheit du nachhängst, und sie ist wohl schön. Doch ist es eine Konstruktion, entstanden aus dem Bedürfnis einer feinen Seele, sich ästhetischen Ersatz für Naturwerte zu schaffen. Wäre ich einer ähnlichen Lebensanordnung fähig - und ich will es für eine Gabe und keinen Mangel halten-, so gäb's freilich einen schönen Einklang, verwandt jenem, der j a im Verkehr mit einem andern Dichter Deine Wunschlosigkeit befriedigt (BSNl, 477) Rilke nahm seinerseits zu Nädhenrys Entfremdungen von Kraus 1918 und 1922/1923, wenn auch sehr subtil, Stellung. Es ist auffällig, wie früh Nadherny Rilke über die Einbrüche in ihrer Beziehung zu Kraus informiert haben muß, welche Vertrauensstellung Rilke also weiterhin einnahm. 2 8 6 Bereits im September 1918, also zu einer Zeit, zu der die vorübergehende Trennung von Nadherny und Kraus noch nicht endgültig vollzogen ist, schreibt Rilke: . . . Wenn nicht alles täuscht, so werde ich diesen Winter ein paar Wochen in Manin Sur sein können. Ich freue mich darauf, als auf eine Stelle, an der Alles das recht hat, was uns von Anfang an verbunden hat, alles Bewundernde und zur 287 reinsten untrüglichsten Freude Entschlossene. Ich freue mich. Rilke hätte kaum einen Aufenthalt auf Manin Sur erwogen, wenn er befürchtet hätte, Kraus dort zu begegnen. Sein "Ich freue mich" scheint sich auf die Trennung von Kraus und Nädhern^ zu beziehen. Rilke hat trotzdem seine Meinung über das Kraus/Nädherny- Dieser Interpretation liegen nur Rilkes Briefe an Sidonie Nädhern^ zugrunde. Siehe auch Anmerkung 95. 2 8 7 Rilke, Briefe an Sidonie Nadherny, Brief vom 24. September 1918. Rilkes Hervorhebung. 208 Verhältnis bei einer Begegnung mit Sidonie Nädherny in der Schweiz im Frühjahr 1919 (die auf Nädhernys Veranlassung auch Rilkes Umsiedlung in die Schweiz einleitete) T O O vorübergehend zu Gunsten von Kraus revidiert. Bei dem Wiedersehen auf dem Landsitz der Kraus/Nädhern^-Freundin Dobrzensky, der Kraus den achten Band von Worte in Versen widmete, scheint Rilke von der Begegnung mit Nädherny enttäuscht gewesen zu sein. Gleichzeitig gesteht er eine Schuld ihr gegenüber ein: . . . So gingen diese paar Tage ruckweisen Wiedersehens für uns vorbei; ich will sie nicht streichen und nicht umlügen, es lag an mir, daß sie so ungenutzt blieben, lag an diesem zerstreuteren Moment Ihres hin und her abgelenkten Gemüths, und im Letzen vielleicht war mir dies auferlegt worden, um etwas auszugleichen, was einmal vor Jahren, nie besprochen, zwischen uns geschehen war und woran ich mich 289 immer unbeschreiblich schuldig wußte Aus diesem Brief geht an späterer Stelle hervor, daß Rilke tatsächlich die lyrische Entwicklung von Kraus verfolgte. Er erwähnt z.B. im "Fexthal" gewesen zu sein, eine Anspielung auf Kraus' Gedicht "Fahrt ins Fextal" und ergänzt: "Wie bin ich froh, das alles gesehen zu haben!" 2 9 0 Nädherny scheint Rilkes Schuldgefühl zerstreut zu haben. In seinem nächsten Brief schreibt er: "Sie lesen mich gut, seit immer, und so haben Sie auch das 291 Unausgesprochene in meinem Briefe vom August richtig herausverstanden:. . ." Auf 2 8 8 Rilke befand sich 16. bis 18. Juni 1919 als Gast der Nädhern^ Freundin, Gräfin Mary Dobrzensky. in Nyon in der Schweiz, wo er Nädherny traf. Rilke verdankte durch Nädhernys Vermittlung Dobrzensky seinen Wohnsitz auf Muzot. 2 8 9 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 5. August 1919. Siehe dazu auch Bernhard Blumes Einleitung zu Rilke Briefe an SN, 18. 2 9 0 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 5. August 1919. 2 9 1 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 19. September 1919. 209 Nädhernys Mitteilung über ihre Heirat mit Max Thun im April 1920 reagiert Rilke mit einem langen Schweigen. Erst im November 1920, als Nädhernys Ehe bereits gescheitert war, meldet er sich bei ihr. Auf Nädhernys erneute Trennung von Kraus, die sich Ende 1922 anbahnte, und von der ihn Nadherny offensichtlich informierte, reagiert er wieder umgehend. Diesmal äußert Rilke seine Zufriedenheit mit der Entwicklung unverblümt: Ja, aber Besinnung, Sidie, wie schön ist Ihr Brief, was das angeht. Mir ist, als hätten Sie nicht nur aus dem lieben Janovice alles weggeräumt, was nicht ganz echt war, und nicht ganz, vom eigenen Erleben her, wahr und fühlbar. Diese Ausmusterung kommt mir fast vor wie ein Symbol für etwas viel viel tiefer und wesentlicher Geleistetes: . . , 2 9 2 293 Diese Passage ist vom Ton her ähnlich befremdend wie der Brief vom Februar 1914. Um ihn gerecht zu interpretieren, müßte allerdings Nädhernys Brief an Rilke, der diese Antwort evozierte, eingesehen werden. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß Rilke zu dem Kreis von wenigen Lesern gehörte, der viele Sidonie-Gedichte in ihrer ganzen Tragweite und Bloßstellung verstand. So stellte Kraus z.B. dem zweideutigen Gedicht "An eine Falte" in einer Fackel 1919 seine eigene Übersetzung des Gedichtes "Das zweite Sonett der Louise Lab6" gegenüber, eindeutiger Seitenhieb auf Rilke, der das Gedicht weniger gekonnt übersetzt hatte. In Worte in Versen steht "Das zweite Sonett der Louise Labö," mit dem Vermerk "Nach dem Original und einer vorhandenen Übertragung" dem eindeutig zweideutigen Sidonie nach B1H gewidmeten Gedicht "Wollust" gegenüber. 2 9 4 Rilke dürfte 2 9 2 Rilke, Briefe an SN, Brief vom 21. Januar 1923. Rilkes Hervorhebungen. 2 9 3 Siehe S. 77-79 dieser Arbeit. 2 9 4 Kraus, Worte in Versen 277-78. 210 im Gegensatz zu Nädherny diese öffentlichen Bloßstellungen nicht entgangen sein. Vielleicht sollte man seine Bemerkungen auch unter solchen Gesichtspunkten berücksichtigen. Nach 1923 liegen nur noch zwei Briefe Rilkes an Nädherny vor. Den letzten ausfuhrlichen Brief, in dem auch ein Besuch Nädhernys bei Rilke ins Auge gefaßt wird, verfaßte Rilke in seinem Todesjahr 1926. 2 9 5 Sein Tod traf Nädherny schwer. Obwohl sie mit Rilke nach 1913 nur noch wenig Male zusammentraf und verhältnismäßig wenig korrespondierte, betrachtete sie ihn als engen Freund und Vertrauten. Nach seinem Tod schrieb sie in ihr Tagebuch: My first real friend, my friend since 20 years, he is no more! R.M. Rilke died yesterday in Territet, in the same sanatorium from where I had his last letter this January, dated the [21]., where he invited me to come to him when he'd be well again. He has gone without a word, gone for ever. Never more can I tell him, what he alone understood & in which he alone encouraged me: of the beauties of journies, of nature & art. He always gave me courage, he taught me to enjoy & to live in beauty, he lived apart from the rest of the world, his own life. He was not a man of this world, he lived in a world of dreams. He is my oldest and dearest remembrance of happy hours, in a certain sense he was teacher & guide to me. I cannot believe that he is no more. I was so sure of meeting him again. The thought of death never came to me. I feel like numbed, lamed. He was my first friend, he is my best friend. I have none more. He was the only man, whose friendship was pure and brotherly Der letzte Brief von Rilke an Nädherny stammt vom 13. Januar 1926. 211 I am glad, that through me he came to Switzerland & so his last years were happy 296 ones. I shall always miss him. Zur Zeit ihrer Korrespondenz mit Albert Bloch distanzierte sich Nadherny von Rilke. Sie schrieb, daß sie ihn als Menschen, nicht als Dichter geschätzt habe . 2 9 7 Es fiel ihr im Exil in London nicht schwer, sich von seinen Briefen zu trennen: "Seine [Rilkes] Briefe aber gehören, wie er selbst in seinem letzten Willen betonte, zu einem Teil seines Schaffens, sind also mehr an die Welt als an eine bestimmte Person gerichtet, wenn auch viel Persönliches, d.h. über meine Person, darin is t ." 2 9 8 Nach Beratungen mit Bloch veräußerte Nadherny Rilkes Briefe an die Yale University. Bloch spielte also nicht nur eine Rolle in der Bewahrung von Kraus' Briefen an Nadherny, sondern indirekt auch in der Bewahrung von 299 Rilkes Briefen an sie. Kurz nach Rilkes Tod findet die Annährung von Karl Kraus und Sidonie Nadherny nach fast vierjähriger Trennung statt. Nadherny hatte immer wieder versucht, sich Kraus zu nähern. Erst im April 1927, zu einer Zeit, in der Nadherny immer mehr unter ihrer Einsamkeit leidet, ist Kraus, zunächst eher aus Mitgefühl als Überzeugung bereit, die Beziehung wieder aufzunehmen. Er schreibt: Ich fühle aus ganzem Herzen mit Dir. Es ist bereit, einem Bekenntnis der Leiden mehr zu glauben als einem der Liebe, und also bereit zu helfen. Aber wie? Ein Einsamer ist es doch, der Dich aus Deiner Einsamkeit erlösen soll, einer, der sich das TBSN, Eintrag vom 30. Dezember 1926, Staatsarchiv Prag. Auszugsweise in BSN2, 351. SN an AB, 28729. Februar 1948. SN an AB, 23. Oktober 1949. Siehe auch S. 34 dieser Arbeit. 212 Glück der Liebe längst nicht mehr vorgestellt h a t . . . Du willst 'an jenen ersten Herbst' anknüpfen, damit 'verhüllt sei, was dazwischen Winterliches liegt'. Würde es nicht bloß verhüllt, würde es auch vertilgt sein? . . . wenn geistige Arbeit retten kann, rettet sie so gründlich, daß nichts mehr für das Leben übrig bleibt Daß ein Untergegangener einen Ertrinkenden rette, dazu bedarf es schon des Wunders . . . Möglicherweise war ein furchtbarer Zwang zu einer einmal angenommenen Fehlillusion schuld an allem und hätte tiefere Offenheit uns einander und Dich als Ganz mir bewahrt (BSNl, 585-87) Der Brief zeigt deutlich, wie verletzt und verletzlich Kraus sich fühlte, der "das Unmenschliche, das oft und zuletzt so rau zwischen uns getreten ist" erinnert (BSNl , 588). Trotzdem kommt es im Laufe des Jahres 1927 zu einer Wiederannäherung auf freundschaftlicher Basis. Im September 1931 stirbt Karl Nädherny sechsundvierzigjährig unerwartet. Nädherny überwindet den Tod des Zwillingsbruders nur schwer und wird nun zum ersten Mal Besitzerin von Janovice und wird mit hohen Erbschaftssteuern so sehr belastet, daß sie nach und nach Schmuckstücke, Teppiche und Kunstgegenstände verkaufen muß, um 300 Janovice erhalten zu können. Kraus, den Nädhenry nun nach fast zwanzigjähriger Verbundenheit endlich als den ihr am nächsten stehenden Menschen bezeichnet, 3 0 1 unterstützt sie nicht nur finanziell auf ihren Reisen, sondern wendet sich ihr in dieser Zeit der Trauer wieder ganz zu. Er nimmt in dieser Zeit auch die Arbeit an seinem Werk Die Sprache erneut auf und bietet ihr die Zusammenarbeit an: "Du musst mir helfen Zusammenstellung 3 0 0 Siehe auch Anmerkung 106 und 129. 3 0 1 BSNl, 632. 213 Deiner Sprachlehre übernehmen . . . auch später vieles nur gemeinsam möglich" (BSNl, 634). Kraus kommt nach Karl Nädhernys Tod regelmäßig für kurze und längere Aufenthalte nach Janovice, das ihm in den letzten Jahren seines Lebens zu der Zuflucht wurde, die sie früher mehr in der Einbildungskraft als in der Wirklichkeit war. Nadherny schreibt über diese Zeit an Bloch: Teile seines letzten, noch ungedruckten, Werkes diktierte er mir in Janovice in die Maschine oder gab sie mir zum Abschreiben. Für die Sprachlehre bereitete ich alle Hefte vor, die dieses Thema behandelten. Diese immer ersehnte Zusammenarbeit in Janovice - nun, da ich seit dem Tod meines Bruders meine ganze Zeit ihm widmen konnte - machte ihn glücklich. Das zuletzt geplante Diktat, nicht ganz vier Wochen 302 vor dem Ende, blieb unausgeführt. Diese Passage bezeugt nicht nur die enge Zusammenarbeit zwischen Kraus und Nadherny während dieser Zeit, sondern gibt auch zu erkennen, welchen Einfluß Karl Nadherny auf die Schwester ausgeübt hatte. Sich ihm vollkommen zu widersetzen war ihr nie möglich gewesen. Der frühe Verlust ihrer engsten Familienangehörigen, vor allem des Bruders Johannes, dürfte neben der Unfähigkeit, die Konventionen ganz hinter sich zu lassen und der Angst das Zuhause zu verlieren, eine ausschlaggebende Rolle in diesem Verhalten gespielt haben. Die beiden Sidionie-Gedichte "Der Gärtnerin" und "Immergrün," die 1931 und 1933 auf Janovice entstanden, verweben Todesthematik und die Kraus und Nadherny immer verbindende Liebe zur Natur und zum Park von Janovice, den Kraus als "die Wunderwiege" SN an AB, 6. Januar 1948. 214 seiner Lyrik bezeichnete (BSNl, 467). Im Park befanden sich die Gräber der nächsten Verwandten Nädhernys, für deren Pflege sie viel Zeit verwandte. Auch Kraus 9 letztes Gedicht "Man frage nicht," das sein langes Schweigen zur Machtergreifung Hitlers in den Mittelpunkt stellt , 3 0 4 entstand im September 1933 zum zwanzigsten Jahrestag der Kraus/Nädherny-Beziehung auf Janovice. Kraus, der von sich selber sagte, er sei "nur einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen" (WV93,1-2), war nach der Katastrophe von 1933 ohne Behausung. Sein Haus, die Sprache, in die er sich mehr und mehr zurückgezogen hatte, war zerstört worden: "Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte." Daß er gerade dieses Gedicht Sidonie Nädherny widmete, ist ein Zeichen dafür, daß trotz aller Entfremdungen, trotz aller Enttäuschungen zu guter Letzt ihre Welt wieder zum einzigen Zufluchtsort wurde. Kraus hatte die Absicht, Ende Mai 1936 nach Janovice zu kommen, ein Plan, von dem Nädherny abriet, da sie befürchtete, die Reise sei bei schlechtem Wetter für Kraus, der schon seit Monaten unwohl war, zu beschwerlich. Es ist tragisch, aber auch symptomatisch für die Beziehung, daß Nädherny kurz nach dieser Absage auch Kraus' letztem Ruf, nach Wien zu kommen, nicht sofort Folge leistete. Als sie in Wien ankam, war Kraus bereits gestorben. Er wurde entgegen seinem und Nädhernys Wunsch in Wien und nicht im Park von Janovice beigesetzt. Kraus schrieb einmal an Nädherny: "ob sie [Nädherny] nicht aufleben würde, wenn ich [Kraus] nicht wäre, ob ihr das nicht helfen würde, und im selben SN für AB: "53. Immergrün. [Janovice, 1. Oktober 1933]." Dieser Angabe folgt die Wiedergabe des bis dahin ungedruckten Gedichtes mit einer weiteren Erläuterung: "Während eines langen Aufenthaltes in Janovice sah er mir oft zu, wie ich, umgeben von meinen grossen Hunden, den Schubkarren zog und zwischen den Gräbern meiner Brüder im Park Blumenzwiebeln in die Erde senkte und Immergrün (perrywinkle) pflanzte." 3 0 4 SN für AB: "'Man frage nicht.' Janovice, 13. Sept. 1933, für Sidi." 215 Augenblick wußte ich schon, daß es nicht der Fall wäre, und hatte das äußerste Mitleid mit ihr, die dann unglücklich lieben würde und ganz gewiß als Verlust all das fühlen, was ihr als vorhanden so wenig Gewinn brachte" (BSNl, 522). Kraus' Tod ließ Nadherny tatsächlich in völliger Einsamkeit zurück. Sie kam über den Verlust von Kraus für den Rest ihres Lebens nicht hinweg. 216 Schlußwort Sidonie Nädhernys Briefe an und Aufzeichnungen fur Albert Bloch sind ein uneingeschränktes Bekenntnis zu Karl Kraus, ein Bekenntnis, das Nadherny zu Kraus' Lebzeiten nicht möglich war. Sidonie Nadherny wurde zur einflußreichsten Frau in Kraus' Leben und Werk. Er war auf "die Teilnahme eines einzigen (des einzigen) Menschen, von dem [er] sich gefühl t , . . . also mehr als verstanden" wissen wollte (BSNl, 168), angewiesen und benötigte sie als "Lebensquelle" (BSNl, 168). Nadherny ermöglichte ihm das Eintreten "in einen Traum," "der [ihn] zurückleben ließ in jenen Garten, den Gott in Eden gepflanzt hatte" (BSNl, 225). Die Spannung, die Nädhernys Widerstand, sich ganz an Kraus zu binden, erzeugte, bewirkte Kraus' Transformation vom Gesellschaftskritiker zum Dichter. Auf Nädhernys Inspiration gehen nicht nur die über fünfzig hier besprochenen Widmungsgedichte zurück, die nur einen Bruchteil des Gesamtwerkes von Kraus ausmachen, Kraus schreibt ihr: "Man hat mich zum Dichter gemacht" (BSNl, 278). Sie ist durch die Zueignung von sechs Bänden von Worte in Versen die Adressatin aller Gedichte, sie wird zur Empfängerin des ganzen Werkes: "was ich denke ist Dir zugedacht, was ich schreibe Dir zugeschrieben . . . von Dir empfangen, ehe ich Dich kannte" (BSNl, 170). Elias Canetti wies bereits 1974 kurz nach Veröffentlichung von Kraus' Briefen an Nädhern^ in seinem Aufsatz "Der Neue Karl Kraus" ihren Einfluß auf Kraus' bedeutendstes Werk Die letzten Tagen der Menschheit nach. Es entstand in Gedanken an die Gefährtin und wurde zu einem beträchtlichen Teil auf Janovice und während der gemeinsamen Aufenthalte in der Schweiz geschrieben. Den Gegenpol zu Die letzten Tage der Menschheit, ein Drama das die Grausamkeit des Krieges in seinem ganzen Umfang aufzeigt, bilden die im Ersten Weltkrieg 305 Elias Canetti, "Der Neue Karl Kraus," Das Gewissen der Worte (München: Hanser, 1974) 234-56. 217 verfaßten Widmungsgedichte: "In all dem Entsetzlichen wachsen nachts, aber erst um 5 Uhr morgens, Strophen zu. Offenbar brauche ich zum Garten - hinter mir doch dieses Leben mit seiner Peitsche! Das Niedrigste reibt mich nicht auf, sondern läßt mich erst das andere verdienen, das mir unerreichbar wäre ohne dieses" (BSNl, 376 ) . 3 0 6 Sidonie verkörpert als in Kraus' Gegenwelt wohnende Hörerin vor allem während des Ersten Weltkrieges Schutz vor einer quälenden Realität, wie es in dem Gedicht "Zuflucht" dargelegt wird: Zuflucht Hab' ich dein Ohr nur, find ich schon mein Wort: wie sollte mir's dann an Gedanken fehlen? Von zwei einander zugewandten Seelen ist meine flüchtig, deine ist der Hort. Ich komme aus dem Leben, jenem Ort, wo sie mit Leidenschaft das Leben quälen und sich die Menschen zu der Menschheit zählen, und technisch meistern sie den Tag zum Tort. So zwischen Schmach und Schönheit eingesetzt, rückwärts die Welt und vorwärts einen Garten ersehend, bleibt die Seele unverletzt. Fern zeigt das Leben seine blutigen Scharten, an mir hat es sich selber wundgehetzt. Öffne dein Ohr, um meines Worts zu warten! 3 0 7 (WV, 73) Kraus' Hervorhebung. SN für AB: "14. Zuflucht. Wien, 23.724. Oktober 1916." 218 Den Schlüssel zu den Widmungsgedichten von Karl Kraus an Sidonie Nadherny lieferte die Adressatin teilweise selbst in ihren Aufzeichnungen für Bloch. Kraus trug zur Entschlüsselung dieser Gedichte nur wenig bei, da für ihn "Das geistige Erlebnis . . . auch Wort geworden, eine Privatsache" bl ieb. 3 0 8 Wie Edward Timms betonte, bedeutete für Kraus die Strategie der Verschleierung jedoch nicht nur die Wahrung seiner Privatsphäre und Schutz vor einer verständnislosen Umwelt, sondern mehr noch eine existentielle 309 Notwendigkeit. Obwohl das lyrische Ich in den Gedichten fast immer mit Kraus identisch 310 ist—Dietrich Simon spricht von einem "realen und lyrischen Ich von Karl K r a u s " s o l l t e man Kraus den Dichter und Kraus den Menschen auseinanderhalten. Kraus' Liebe zu Sidonie Nadherny kommt vor allem in seinen Briefen an sie zum Ausdruck. In den Gedichten haben wir es eher mit einer Auseinandersetzung des Dichters mit seiner Weltanschauung zu tun. Kraus reagiert in den Gedichten auf Ereignisse in der Beziehung, denen oft ein Ausgeschlossensein, ein Konflikt, ein Naturerlebnis oder ein erotisches Erlebnis zugrunde liegt. Nur wenige Gedichte, hauptsächlich die in der Schweiz geschriebenen Landschaftsgedichte—die dortigen Aufenthalte bezeichnet Kraus als die "Glanzzeit" seines Lebens—entstehen aus einem Hochgefühl heraus. Kraus zeichnet in den Gedichten ein Sidonie-Bild, das in vielem einem Wunschbild, einem Luftgebilde-Kraus selbst spricht auch von einem "Lustgebilde" (BSNl, 529) entspricht. Die Gedichte entstehen selten in Anwesenheit Sidonies, meist in ihrer Abwesenheit in geistiger Verbundenheit mit 3 0 8 Kraus, Schriften, Bd. 8, Aphorismen, Hrsg. Christian Wagenknecht (Frankfurt: Suhrkamp, 1986) 436. 3 0 9 Timms, Karl Kraus: Apocalyptic Satirist 258. 3 1 0 Dietrich Simon, "Literatur und Verantwortung: Zur Aphoristik und Lyrik von Karl Kraus" in Karl Kraus (München: edition text + kritik, 1975) 88 - 107, hier S. 103. 219 ihr. Kraus sagte von sich selbst, daß er mit seinem Weltbild "noch nicht einmal bei der französischen Revolution angelangt . . . [sei], geschweige denn im Zeitalter zwischen 1848 und 1914." 3 1 1 Aus dieser Haltung heraus ist sein idealisierendes Frauenbild zu verstehen, in dem sich romantische Tendenzen mit einem Gemisch von Misogynie, Idolatrie und Dämonisierung, das für das Wien der Jahrhundertwende besonders typisch ist, verbinden. Kraus suchte seine Ideale in der Vergangenheit, wobei er bis in die Antike zurürckgreift. Sidonie erscheint in den Gedichten mit den Zügen einer schaumgeborenen Venus, Helena, Pandora, und Salomö. Die endlose Sehnsucht nach der unerreichbaren Geliebten, die unüberbrückbare Kluft zwischen den Geschlechtern, zwischen Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits, Vergangenheit und Gegenwart, Motive, die die Sidonie-Gedichte beherrschen, verweisen in die Romantik. Selbst die ich-bezogene Subjektivität in der Beziehung zu Sidonie zeigt romantische Züge. In den Sidonie-Gedichten überwiegt das Motiv der Suche nach dem Ursprung und der Ewigkeit. Es erscheint in fast allen Widmungsgedichten in irgendeiner Form. Daß Sidonie Nädherny für Kraus "Ursprung" und "Ewigkeit" verkörperte, legte er z.B. in einem Brief vom November 1921 dar: Nun gibt es dem Liebenden ein Zeitmaß, das ihm alles ersetzt, wenn keine Zeit gegeben i s t . . . Das ist: der Augenblick. Der macht die Ewigkeit aus, und auf dem Augenblick muß ich bestehen Ich würde mit keinem lieber als mit Dir . . . alles was in meiner Welt liegt, betrachten, tragen, erleben, besprechen wollen. Ich kann es nicht, wenn ich nur ein winziges Zeit- und Raumteilchen von Dir abbekomme, und da, dann, erwacht aus dieser Entziehung, in der sich alles Wesentliche verkürzt 3 1 1 Kraus, "Über die Sehnsucht nach aristokratischem Umgang," Fackel 400 (Sommer 1914): 92. Siehe dazu auch S. 85f dieser Arbeit. 220 sieht, die Lust, der du nicht gewachsen bist. Mit aller Illusionskraft suche ich sie als einen Anspruch auf Deinen Ursprung, ihre Erfüllung als etwas vom Ursprung Kommendes mir einzubilden, verbinde es mit Deinem Wesen, und so entsteht aller Zweifel und alle Zweiheit (BSNl, 518) Für Kraus war in der Beziehung die von Nadherny empfangene Inspiration von größter Bedeutung. Paula Schlier, Gefährtin von Ludwig von Ficker, des Herausgebers des Kraus nahestehenden Brenner, meint unter Bezugnahme auf das Kraus-Nädherny-Verhältnis: "Bei Karl Kraus mußte alles der geistigen Aufgabe dienen. Er hatte eine Idee, und in diese Idee mußten auch die Frauen hineinpassen. Er fühlte sich grundsätzlich über ihnen." Margarete Mitscherlich Nielsen kommt zu dem Schluß, daß "die Sprache an die Stelle des realen Liebesobjeketes selbst [tritt]. Nur schreibend-liebend ist Kraus glücklich." 3 1 3 Kraus selbst schrieb: "Ich kann deine Schrift noch schwerer entbehren als dich" (BSNl, 287). Kurz nach der Trennung von 1918 erscheint in der Fackel der Aphorismus "Wort und Wesen—das ist die einzige Verbindung, die ich je im Leben angestrebt habe ." 3 1 4 Nadherny blieb Zeit ihres Lebens ihrem eigenen Milieu, der Aristokratie, verhaftet. 315 1948 schreibt sie an Bloch: "Ich blieb auch stets fern seinen Kreisen," Selbst zur Zeit ihres Exils in London bewegte sie sich fast ausschließlich unter ihresgleichen. Obwohl Sidonie Nadherny ein für ihre Zeit unabhängiges Leben führte, sei dies aus Überzeugung 3 1 2 Ursula Schneider, Brenner Archiv Innsbruck, stellte mir Auszüge eines Interviews zwischen Paula Schlier und Walther Methlagl zugänglich. Die hier zitierte Passage ist u.a. veröffentlicht in Stieg, Der Brenner und die Fackel 233. 3 1 3 Nike Wagner, Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. (Frankfurt: Suhrkamp, 1982)212. 314 Fackel 508-513 (April 1919): 80 3 1 5 SN an AB, 26. Januar 1948. 221 oder durch Lebensumstände, hielt sie an zahlreichen Klischees ihrer Klasse und ihrer Zeit ein Leben lang fest. Beispiele dafür sind ihr Rollenverständnis als Frau—selbst in ihren Briefen an Bloch besteht sie noch darauf, als Frau keinen Geist zu besitzen—, ihr Klassenbewußtsein, und ihr unterschwelliger Antisemitismus. Nach der vorübergehenden Trennung von Kraus 1918 büßte sie den Glanz einer auf das Leben zweier Dichter einwirkenden Femme fatale nach und nach ein und zog sich immer mehr in die Einsamkeit von Janovice zurück. Wenn es schon in Wien schwierig war, die Konventionen zu durchbrechen, war Nädhernys Lebensweise in jungen Jahren in der böhmischen Provinz wohl ohne gesellschaftliche Sanktionen so gut wie ausgeschlossen. Kraus' Eingriff in Nädhernys Pläne im Frühjahr 1915—unter Anwendung fragwürdiger Druckmittel—sollte unter diesen gesellschaftlichen Gegebenheiten kritischer als es bisher geschah, betrachtet werden. Die über zwanzigjährige Beziehung zwischen Karl Kraus und Sidonie Nädherny durchlief mehrere Stadien. Verursacht durch Nädhernys schwankende Gefühle für Kraus, durchlebte das Paar Zeiten der Harmonie, Entfremdung und Versöhnung. Die Phasen der Beziehung überschneiden sich in groben Zügen mit den Phasen der Widmungsgedichte. Das Kraus/Nädherny-Verhältnis blieb ein dem Alltag enthobener Ausnahmezustand. Der Höhepunkt ihrer Beziehung fällt in die Zeit von September 1913 bis September 1918, in die Zeit unmittelbar vor und während des Ersten Weltkriegs. Von Bedeutung ist auch die freundschaftliche Phase ab 1927. Vor allem während der letzten Lebensjahre von Kraus Nädherny unterstützte zwar zu keiner Zeit das Naziregime, wurde letztendlich selbst ein Opfer dieser Diktatur, trotzdem kommt ihr latenter Antisemitismus selbst noch kurz vor ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei 1949 in einem Brief an die Freundin Mary Dobrzensky zum Ausdruck . . . siehe Chronik von Janowitz. 222 öffnete Nädherny die Tore von Janovice auf die von ihm immer gewünschte Weise. Zu einer Zeit, da sich Kraus' Situation in Wien zunehmend schwieriger gestaltete, wurden ihm Janovice und Sidonie Nädherny erneut zum Refugium: "Es gibt noch eine Sprache und einen Garten. Wenn ich auch jene zunächst verlieren muß, dieser muß mir bleiben und uns. Ich hielte es hier nicht aus, wenn ich nicht an Dich zu denken hätte" (BSNl, 653). Nädhernys Wirkung auf Kraus war zu Beginn ihrer Beziehung am weitreichendsten. Nach der Überwindung der Romkrise im Frühjahr 1915 schaffte die Diskrepanz zwischen Wien und Krieg einerseits und der idealisierten "Kontrastwelt" Sidonies andererseits die Voraussetzungen zur Freisetzung der lyrischen und dramatischen Kräfte von Kraus, in dessen Welt "das Häßlichste und das Schönste" nebeneinanderwohnten, ein Kontrast, der weder Raum fur Mittelmaß noch Kompromiß zuließ und den Kraus als sein "Denkproblem" bezeichnete. Albert Bloch fühlte sich zu Kraus' Widmungsgedichten besonders hingezogen, da er in ihnen dem Menschen Kraus am nächsten kommen konnte. Er übersetzte über zwanzig der Nädherny gewidmeten Gedichte zu einer Zeit, da er nicht im Traum an die Möglichkeit dachte, mit der Gefährten seines großen Vorbildes und der Adressatin der Gedichte einmal bekannt, j a befreundet zu sein. Blochs Einfühlungsvermögen in die Lyrik von Kraus ermöglichte es Sidonie Nädherny, sich Bloch uneingeschränkt anzuvertrauen. Dem Bloch/Nädherny-Briefwechsel verdanken wir die Chronologie der Widmungsgedichte von Kraus an Nädherny, den Erhalt des Hintergrunds ihrer Entstehung und eine Vielfalt von Einzelheiten der Beziehung, die Kraus' Werk über viele Jahre so nachhaltig beeinflußte. "Wie das Häßlichste und das Schönste nebeneinander wohnen und wie eben diese Möglichkeit mein Denkproblem ist." BSNl, 225. Kraus' Hervorhebung. 223 Bloch leistete somit einen wertvollen Beitrag zum besseren Verständnis des Werkes von Karl Kraus und ermöglichte ein differenzierteres Verständnis des Dichters und Menschen Karl Kraus und seiner Beziehung zu Sidonie Nädhentf von Borutin. 224 Bibliographie I. Primärliteratur Albert Bloch Bloch, Albert. Karl Kraus: Poems. Authorized English Translation from the German. Hrsg. und Übersetzer Albert Bloch. Boston: The Four Seas Press, 1930. —. Albert Bloch: German Poetry in War and Peace. A Dual Language Anthology. 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November Tuesday night, 16th [November 1948] 11. Dezember 1949 19. April 4. Mai 3. Juni 236 1015 Alabama Street Lawrence, Kansas den 13. September 1947 Hochverehrte gnädige Frau, auf der Durchreise von meinem Sommerurlaub nahm Herr Dr. Samek Gelegenheit, mir in New York Ihren schönen und ergreifenden Brief an ihn vom 20. VIII., worin auch von meinem Versbändchen die Rede ist, zu zeigen. Darf ich nun, unbekannterweise, Ihnen fur die nicht hoch genug zu schätzenden Worte des Lobes und des offenbaren Wohlwollens, welche Sie, gnädigste Frau, für die kleine Auswahl finden, diese Zeilen herzlichsten Dankes senden? Eines aber überrascht mich einigermaßen. Sie schreiben unter anderem: "Und der schwer übersetzbare Karl Kraus läßt sich, wie ich entdecke, ins Englische gut übersetzen . . . " Denn 1930 erschien von mir bereits ein ganzer Band englischer Nachdichtungen aus Worten in Versen, welcher ein volles Jahr hindurch auf einer Umschlagseite der Fackel angekündigt war und auch im Text gelegentlich kommentiert wurde. Es ist ja immerhin möglich—es wäre eigentlich anders kaum vorstellbar—daß in der Grauenszeit, die zwischen heute und damals liegt, der bescheidene aber liebevolle Versuch, einem mit weit Wichtigerem belasteten Gedächtnis entschwunden wäre; denn ich darf nicht annehmen, daß gerade Sie, gnädige Frau, nie ein Exemplar jenes Buches besessen oder gar gesehen haben. Darum erlaube ich mir, Sie ergebenst zu bitten, mir gelegentlich kurz mitzuteilen, ob sich besagtes Bändchen aus dem Jahre 1930 in Ihrem Besitz befindet. Im verneinenden Falle wollte ich gern dafür sorgen, daß Sie es erhalten wiewohl, offen gestanden, mich diese Version längst nicht mehr freut (abgesehen von dem schäbigen Aussehen des Bandes selbst); und es liegt schon seit Jahren eine ziemlich vollständige Neubearbeitung vor. Ich warte nur auf eine günstige Gelegenheit, sie erscheinen zu lassen. In Ehrerbietung, Ihr Albert Bloch 237 Lawrence, den 8. Oktober 47 Hochverehrte gnädige Frau, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich Ihr so liebenswürdiger Brief gerührt und erfreut hat! Daß mich der geliebte Geist Karl Kraus, der mir von Jahr zu Jahr immer gegenwärtiger wird, den ich in seinem Werk noch heute—vielleicht gerade heute mehr denn je—als lebenden Menschen mir so spürbar nahe fühle: daß er mich, wie Sie sagen, hochgeschätzt hat und Ihnen öfters meine Zuschriften vorlas—das ist wohl die größte Ehre, die mir jemals zuteil werden könnte! Daß Sie mir dies verraten, danke ich Ihnen von Herzen. Nun, da Sie jetzt wissen, wer ich bin, darf auch ich Ihnen etwas verraten: daß ich schon seit vielen Jahren weiß, wer Sie sind; schon lange sogar bevor die Nichte Karl Kraus' oder Dr. Samek in meiner Gegenwart Ihren Namen dann und wann gesprächsweise nannten. Schon seit den ersten Bänden der Worte in Versen habe ich es gewußt—durch Kombination: vom Akrostichon (Zum Namenstag, Sehnsucht und anderen) mit dem Grillparzer Manuskript in der 400. Nummer der Fackel Und habe Sie gleich damals (auch ehe ich noch auf den Namen gekommen war) durch die vielen unvergleichlichen Gedichte—Sie wollen bitte den Freimut des Geständnisses verzeihen—zwar ganz unpersönlich aber sehr aufrichtig liebgewonnen. . . . Wäre ich nicht alt und krank geworden und eine Europareise fiir einen emeritierten Professor ein Ding der Unmöglichkeit, wollte ich nichts lieber, als selbst heutzutage eine solche mit allen damit verbundenen Beschwerlichkeiten riskieren, um mich bei Ihnen—mit Ihrer freundlichen Einwilligung—anzusagen und Sie von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen. (Übrigens stammten einige meiner Vorfahren—vor Generationen—aus Böhmen, doch während meines langjährigen europäischen Aufenthaltes kam ich leider nie dazu, jenes schöne Land zu besuchen.) Ich wäre Ihnen ein so guter Zuhörer! Und würde alles, was Sie mir von Karl Kraus erzählen wollten, so dankbar und andächtig in mich aufnehmen. Denn die Freunde und Bekannten seines Umganges und seiner Umgebung, die ich hier in den letzten 10 Jahren kennengelernt habe und von denen mich einige öfters besucht haben (wie Viertel, Samek, Krenek, Jahoda, der Klavierbegleiter Mittler u. andere), scheinen nicht sagen zu können—scheinen es kaum zu wissen —, wie Karl Kraus eigentlich als Mensch war. Ich kann mir zum Beispiel gar nicht vorstellen, daß 238 ein großer Geist mit solchem Witz und Humor nicht gelegentlich sehr aufgeräumt, sehr heiter, lustig, j a sogar ausgelassen sein sollte, aber aus allem, was jene, die ihn gekannt haben, mir mitteilen, ist nichts davon zu spüren: Sie sagen mir nichts weiter, als was ich aus dem großen Werke selbst schon weiß; doch zum vollständigen, abgerundeten Bilde einer Persönlichkeit—selbst einer so erhabenen—gehört notwendigerweise etwas mehr als eine bloße Ahnung ihres Privatmenschentums. Für solche Mitteilungen nun, darf ich, gnädige Frau, Ihre Zeit und Mühe nicht in Anspruch nehmen; doch will ich mir, nebstbei, um alles in der Welt nicht den Anschein geben, als hegte ich etwa die Hoffnung, mit Ihnen ständig in Korrespondenz zu bleiben. Auch darum eben bedaure ich so sehr die Unmöglichkeit einer mündlichen Aussprache Ich glaube unbesehen (u. wenn ich Sie richtig verstanden habe), daß die "Zusammen­ fassung", von der Sie sprechen, von unermeßlichem Wert wäre. Dagegen glaube ich nicht, falls Sie diese Manuskripte u. sonstiges Material eines Tages hinterlassen, daß Sie anonym bleiben können: zur Vervollständigung des Bildes ist das alles von viel zu großer Wichtigkeit. Denn gesetzt den Fall, daß Sie schließlich Ihre Karl Kraus-Sammlung irgendeiner Universität, irgendeiner Staatsbibliothek vermachen—und nach meiner Ansicht sollten derartige Schätze nie dauernd in Privathänden bleiben (um am Ende verstreut zu werden oder verloren zu gehen), sondern sie müßten ein Besitz der Allgemeinheit werden, meinetwegen der "Nation" —: Sie glauben wohl nicht ernstlich, daß Sie da anonym bleiben würden? Die Sammlung wäre für eine kommende Literaturforschung ein unsagbar reicher Fund, und gewiß haben solche Forscher eine ebenso gute Kombinationsfahigkeit wie ich . . . Könnten Sie da nicht gelegentlich bei der Prager Universität ganz unverbindlich anfragen, ob ein solches Vermächtnis willkommen wäre? Daß es willkommen wäre, steht selbstverständlich außer Zweifel, nur müßte eben kein Zweifel bestehen, daß die Nachfolge Otokar Fischers auch würdig sei, es in Obhut zu nehmen. (Wenn ich zu entscheiden hätte, würde ich Wien ganz und gar aus dem Spiele lassen.) Alles, was andere in den Gedichten an Sie nicht verstehen können (noch sollen), brauchte auch keineswegs preisgegeben zu werden. Manche dieser Gedichte, selbst solche, die ich nachgebildet habe (z.B. Als ein Stern fiel u. die zweite Verwandlung), sind mir bis heute im rein Gegenständlichen im Dunkel geblieben. Darüber konnte ich aber, nicht nur als "Nachdichter", sondern wie jeder 239 verständnisvolle Leser leicht hinwegkommen, weil sie ja an und für sich so herrlich schön sind . . . . Sie sagen zu diesem Punkte: "Allein die Zusammenstellung ergäbe ein geschlossenes Bild und spräche ihre Sprache. Jedenfalls nur in Englischer—?\% Paravent". Ich weiß nicht, gnädige Frau, ob ich Sie hier recht verstehe. Für alle Fälle aber erlaube ich mir, dagegen mein Bedenken auszusprechen. Eine Wiedergabe in englischer Sprache zum Zwecke eines geschlossenen Bildes, hätte, fürchte ich, wenig Sinn. (Vielleicht eher in französischer.) Denn die englische oder amerikanische Forschung dürfte erst in einigen Generationen so weit sein—falls diese Erde den kommenden dritten Weltkrieg überlebt —, sich mit Karl Kraus zu befassen, der ja im englischen Sprachgebiet bis heute so gut wie gänzlich unbekannt geblieben ist. Eine Gestalt wie er hat hier wie in England gegen solche Götzen u. Tageserscheinungen wie Th. Mann, Rilke, Werfel u.s.w. einen schweren Stand (von der Auflage meiner Nachdichtungen dürften in diesen 16 Jahren kaum mehr als 100 Exemplare Leser gefunden haben!). Nein, Karl Kraus und sein Werk sind, wie mir scheint, bis auf weiteres eine rein deutsche Angelegenheit, eine Angelegenheit deutscher Forschung; und es will mir nicht einleuchten, daß eine Herausgabe Ihrer Memorabilien in englischer Sprache überhaupt etwas zu einem allgemeinen Verständnis der hervorragenden geistigen Bedeutung oder des Privatmenschentums dieses Einzigartigen beitragen könnte. Von den zwei allerletzten Gedichten (Juli u. Okt. 433) besitze ich seit '39 Maschinenabschriften, "aus dem Nachlaß", wie es heißt. Der Sender war nicht Dr. Samek, der wohl auch Abschriften haben wird. Die meinen habe ich noch niemandem gezeigt, werde es auch ohne Ihre Einwilligung nie tun. Ich habe sie auf dem Innendeckel des IX. Bandes von Worten in Versen fest aufgeklebt. Übrigens: die Grabschrift für den kleinen Woodie (in meiner Nachdichtung) war nicht von mir abgeteilt. Mit meinem älteren Sohn hatte ich die Korrekturen unzählige male durchgesehen; aber es nützte nichts. Am Ende erschien das Buch doch von der unverzeihlichen Schlamperei des Druckers typographisch total verhunzt! So sehr, daß es wie eine absichtliche Sabotage anmutete. Da war es dann leider auch zu spät, das Werk zurückzuziehen. 240 Nun ist aber dieser Brief schon viel zu lang geworden, weswegen ich um Entschuldigung bitte. Hoffentlich bin ich Ihnen nicht lästig gefallen. Mit ergebenem Gruße und wiederholtem herzlichsten Danke, Ihr Albert Bloch Lawrence, den 24. Oktober 1947 Hochverehrte gnädige Frau wollen gütigst entschuldigen, daß ich so bald wieder schreibe. Es fiel mir aber urplötzlich ein, daß sich in meinem Besitze eine sehr schöne Photographie nach einem englischen Aquarell befindet, den Lac de Joux darstellend. Das Original dürfte 100 Jahre alt sein, wenn nicht älter; es hängt in dem berühmten Fogg Museum der Harvard University (deren Bibliothek übrigens eine komplette Fackel besitzt), und bietet einen ungemein lieblichen Anblick. In der Annahme, daß Sie dieses kleine Bild besonders interessieren würde und nach Rücksprache mit meinen Hausgenossen, die meine Vermutung teilen, habe ich mich entschlossen—allerdings ohne Sie erst um Ihre Erlaubnis anzugehen, was Sie gleichfalls gütigst verzeihen wollen —, die Photographie Ihnen zu senden, mit der Bitte um freundliche Aufnahme und in der Hoffnung, daß Ihnen das Bildchen einige Freude bereite. Es grüßt Sie ergebenst Ihr Albert Bloch 241 Lawrence angefangen Ende November [1947] Verehrte gnädige Frau, am liebsten hätte ich mich sofort nach Empfang Ihres so außerordentlich liebenswürdigen Briefes vom 18., der 4 Tage später ankam mit seinen überraschenden und schönen Gaben, hingesetzt und Ihnen meinen herzinningen Dank ausgesprochen. Es ging leider n i c h t . . . . Wie sind doch die Photographien kostbar! Und wie lieblich insbesondere jene von der "Wiese im Park", auf der auch Sie zu sehen sind! Nebenbei fiel mir auf, daß ich hier Karl Kraus zum ersten mal ohne Brille sah; sonst aber sieht er ungefähr so aus, wie ich ihn in Wien einige Monate früher (Februar und März 1921) bei Vorlesungen gesehen hatte. Wenn mir auch die Photographie, nebst jener mit dem Schloß im Park, als die schönste von allen erscheint, so interessieren mich daneben ganz besonders die zwei aus dem Engadin: Karl Kraus mit dem prächtigen Bobby darstellend. (Darf ich übrigens fragen, von welcher Hunderasse der große Hund war? Ich kann sie nicht feststellen. Von der Seite—sitzend— ähnelt besonders die Kopfform die der Neufundländer; aber in dem stehenden Bilde scheinen die Körpermaaße[n] und das Verhältnis des Kopfes zum Körper dieser Mutmaßung zu widersprechen.) . . . Ich weiß noch, wie vor ca 20 Jahren Karl Kraus gerührt und so rührend sich für die Übersendung einer Photographie meines geliebten Bullterrriers Pete bedankte, "einem wahren Tier- und Menschenfreund" gewidmet. Denn er war j a auch Menschenfreund—nicht nur "auch", überhaupt*.—im wahrsten, tiefsten, reinsten Sinne des griechischen Wortes Philanthropusl Auch andere haben eine Ähnlichkeit meiner Schriftzüge mit den seinen erkennen wollen; ich sehe es aber leider nicht ein, denn die meinen kann ich ja lesen, die seinen kaum, und bei einem näheren Vergleich, den ich einmal infolge solcher Behauptung angestellt habe, ergab sich nur an jedem Buchstaben die unverkennbare Ungleichheit der beiden Handschriften. Möglich, daß sie irgendein Typisches gemeinsam haben; das aber festzustellen, müßte ich in der Graphologie bewandert sein, und das bin ich nicht im geringsten . . . . Sogar eine physische Ähnlichkeit wollen manche entdeckt haben, was aber auch nicht stimmen wird, wiewohl ich ungefähr denselben Körperhabitus habe, auch ähnliche Haar- und Augenfarbe, 242 ähnlichen Teint usw.; aber der Schädelbau, worauf alles ankommt und der die Form der Gesichtszüge bestimmt, ist doch so verschieden, daß von einer eigentlichen Ähnlichkeit nicht die Rede sein kann. Das ist ja aber alles so gleichgültig. Wenn ich ihm nur innerlich—geistig und sittlich—ein wenig gleichen könnte! Doch vielleicht kommt es noch dazu, wenn ich so lange leben darf, um es zu erreichen. Und tatsächlich hat mir einmal der Komponist Ernst Krenek geschrieben, ich sei der einzige Mensch, den er kenne, der nach der Lehre und dem Beispiel Karl Kraus' zu leben sichtbar sich bemüht. Also ist noch nicht alle Hoffnung verloren! (Einer Ähnlichkeit aber war ich mir doch von allem Anfang an bewußt: jener der Denk- Gefühls- und Betrachtungsweise, wie der Gemeinsamkeit der Vorurteile in Neigung und Abneigung. Das war es, was mich bei der allerersten Begegnung vor bald 34 Jahren so sehr anzog und was mich zu seinem ewig dankbaren ewigen Gefangenen machte als mir der pure Zufall—der wohl keiner war—die Fackel eines Tages in die Hand spielte— und noch ehe mir das holde Wunder seiner Sprache so recht zum Bewußtsein kommen konnte. Der Satz Blaise Pascals, den ich als Motto zu den neueren Nachdichtungen aus Worten in Versen in meiner Auswahl aus Ventures in Verse zitiere, ist ein deutlicher Hinweis auf diese Erkenntnis . . . . Übrigens dürfte Ihnen der mit Absicht gewählte Titel der Sammlung: Ventures in Verse und die bewußte Ähnlichkeit mit dem Titel: Worte in Versen aufgefallen sein. Denn im Vergleich mit den Worten in Versen sind die meinen doch nur Wagnisse; und so auch konnte ich schon auf dem Bucheinband meine große geistige Schuld an dem erhabensten Geist unserer Zeit freudig bekennen.) Ich sehe aber, daß mich Ihr angenehmes Schreiben zum Gesprächig-, um nicht zu sagen Geschwätzigwerden verlockt hat; und so muß ich mich etwas strenger zusammennehmen. Sie werden es aber jedenfalls begreifen, wie mich alles, was Sie mir so gütig von Karl Kraus erzählen, sehr anregen muß, mit welcher Freude mich Ihr Vertrauen erfüllt, und darum vielleicht eine Entschuldigung für den Worterguß finden. Sonst bin ich alles andere als gesprächig oder auch nur mitteilsam. So bitte ich denn um Ihre Nachsicht! Es ist mir eine große Verantwortung, die ich empfinde, daß Sie, um mir zu schreiben, bis 3 Uhr nachts wachbleiben weil Sie tagsüber so sehr in Anspruch genommen sind. Dies äußerte ich einer lieben und verständnisvollen Freundin gegenüber, und fügte hinzu, daß ich Sie bitten wollte, sich lieber zu schonen und einer angenehmen Nachtruhe zu pflegen, statt 243 sich der Mühe zu unterziehen, so spät Briefe zu verfassen und noch dazu Stellen aus den Mitteilungen Karl Kraus* für mich auszusuchen und abzuschreiben. Das sei für mich eine große und unverdiente Ehre, sicherlich aber auch die willkommenste aller erdenklichen Gaben; doch könne ich schließlich solche Gewissensbürde nicht auf mich nehmen. Darauf antwortete die einsichtige Freundin, ich hätte kein Recht, Sie von solcher Tätigkeit abhalten zu wollen: "How do you know that it doesn't comfort her to write to you and to busy herself with this material? No, you should by no means discourage it. I can easily imagine that nothing would give her greater happiness now, than such occupation." Das sah ich dann auch ein—ich hätte es gleich einsehen sollen! —, möchte Sie dennoch bitten, liebe gnädige Frau, sich doch möglichst zu schonen und sich mit Spätnachtsschreiben und Material­ aussuchen nicht zu übermüden und vielleicht Ihrer Gesundheit und Ihren Augen zu schaden. Es soll Sie nicht bedrücken, daß ich vom Kranksein gesprochen habe. Man wird halt alt (Karl Kraus war nur um einige Jahre älter als ich), und so gut ich mich erinnere, sprach ich von meinem Leiden—es ist in der Hauptsache das Herz—bloß um die Unmöglichkeit einer Überseereise in diesen Zeiten zu erklären, auch wenn ich einen Paß bekäme (da ich nicht den allein triftigen Grund "geschäftlicher Interessen" vorbringen könnte) und ich überhaupt fiir Böhmen die Einreisebewilligung erhielte. Und wenngleich ich mich von der Universität jetzt emeritieren lassen mußte, beschäftigt mich meine Arbeit noch sehr intensiv, wenn ich auch heute quantitativ weit weniger zu leisten imstande bin als noch vor einem J a h r . . . Mich bedrückt aber andererseits Ihre offenbare Einsamkeit. Zwar ist ja oft genug das Einsamsein das allerschönste und -erstrebenswerteste—nur soll es nie ein Vereinsamtsein, ein sich einsam fühlen werden. Das öftere Alleinsein ist gewiß Lebensbedingung des höher organisierten Menschen, und es weiß keiner besser als ich, dieses Bedürfnis zu würdigen; nur möchte ich so sehr gern den Eindruck—vielleicht eher den Argwohn—loswerden, daß Ihnen selbst die liebste Hundegesellschaft keinen ausreichenden Ersatz für geistesverwandte Menschen heute mehr bieten kann . . . Nun ist aber auch dieses Schreiben viel zu lang geworden, und da will ich, ehe mir noch etwas einfällt, rasch abbrechen. 244 Nun ist aber auch dieses Schreiben viel zu lang geworden, und da will ich, ehe mir noch etwas einfallt, rasch abbrechen. Mit den herzlichsten Grössen und wiederholtem innigsten Dank verbleibe ich Ihr ganz ergebener Albert Bloch Wie man wohl einen Briefumschlag nach Böhmen adressiert?! Ich muß mit der französischen Form vorlieb nehmen, da ich weiß, daß die deutsche dort nicht gern gesehen wird; und die englische scheint mir—ich weiß nicht, warum—unpassend. Was Frau Kann von dem Privatmenschen Karl Kraus erzählt, weiß ich nicht. Mir hat sie jedenfalls nichts darüber geschrieben in den paar Briefen, welche ich seinerzeit (und erst neulich wieder) erhalten habe. Der letzte kam vor etwa 10 Monaten, als ich krank im Spital lag. Ich ließ dafür danken, habe aber nicht geantwortet. (Es handelte sich um den Wiener Unfug einer "Karl Kraus-Gesellschaft".) Ihre Korrespondenz mit Samek, die Sie wohl auch kennen dürften, habe ich sehr aufmerksam und eingehend studiert. Unglaublich. D. 13. Dezember 47 Verehrteste liebe gnädige Frau, vorläufig nur diese hastige Zeile, um innigst dankend Empfang unversäumt zu bestätigen der allerschönsten Gabe, des mich so ehrenden Zeichens Ihres noch unverdienten Vertrauens. Erst gestern nachmittags erhalten, beschäftigt mich seitdem unaufhörlich; bin davon unsäglich angegriffen. Inzwischen aber wieder erkrankt; sitze, so gut es geht, im Bett, um diese paar Worte zu kritzeln. Hoffe, morgen wieder aufstehen zu können, u.in den nächsten Tagen, mich zum richtigen Dank zu sammeln. Urteil aber ist von mir nicht zu erwarten: es geht mir das alles zu sehr nahe . . . . So bitte ich denn um Nachsicht. Mit herzlichsten Grüssen und Wünschen für die kommenden Feiertage, Ihr ganz ergebener Albert Bloch 245 Mittwoch, den 17. Dezember 1947 Hochverehrte, liebe gnädige Frau, endlich komme ich nun dazu, für die große Gabe der Abschriften aus Briefen des mir allerliebsten Menschengeistes, mich—wie ich neulich sagte—würdig zu bedanken—wenn von einem würdigen Dank für einen solchen Schatz überhaupt gesprochen werden kann. Denn alles, was Ihnen dazu zu sagen mir einfiele, würde wohl bloß meine arme Wertlosigkeit vor dieser Fülle und Tiefe eines liebenden und leidenden Herzens auszudrücken vermögen. Zugleich muß ich Ihnen aber gestehen, daß ich bei der ersten Lektüre der Briefstellen gar nicht wußte wie ich mir eigentlich vorkam—immer wieder, immer wieder, war es mir als entweihte ich hier ein Heiligtum! Und immer wieder mußte ich mir sagen, dies könne doch nicht der Fall sein, denn da Sie mir diesen Einblick in solch einzigartige Schönheit gewähren, und zwar ganz und gar aus eigenem Antrieb und Empfinden, so müsse das ja auch ganz und gar in seinem Sinne geschehen sein. Ich halte es eben für vollkommen unmöglich, daß Sie irgendetwas tun oder lassen könnten, womit Karl Kraus nicht von Anbeginn als mit etwas Selbstverständlichem einverstanden gewesen wäre: das hatten mich schon vor Jahren jene unvergleichlichen Gedichte an Sie gelehrt. Und so wurde mir allmählich leichter um Herz und Gewissen, bis ich schließlich so etwas wie eine gewisse Mitberechtigung fühlen durfte, vor diesem Heiligsten zu knien. Wie aber sollte ich mir dieses unermessliche Privilegium, diese große, nie erhoffte Gnade auch nur irgendwie verdienen; wie mich ihrer jemals würdig zeigen? Vor dem erhabenen Geiste Karl Kraus muß mein seelisches Menschentum mir andauernd als ein immer noch im Werden begriffenes, als ein armselig Unfertiges erscheinen . . . . Darum dürfen Sie zum mindesten darüber beruhigt sein: außer dem meinen wird, so lang ich noch lebe, kein Auge diese Herzensergüsse erblicken; und was mit ihnen nach meinem Tode geschehen soll, wird durchaus von Ihrem Wunsche abhängen. Zu diesem Punkte will ich im Laufe oder am Schlüsse meines Schreibens zurückkehren. Vorerst wäre einiges zu bemerken: vor allen Dingen, daß Sie unter keinen Umständen zu befurchten haben, es könnte in mir der Eindruck erweckt werden, als wollten Sie mit diesen Abschriften (oder gar durch Ihre Briefe) Ihre 246 ich mich gezwungen, folgendes zu äußern: Gern glaube ich, daß, wie Sie so rührend versichern, Sie sich jeder Zeit Ihres "Unwertes" bewußt sind; aber da tun Sie sich und insbesondere ihm unrecht. Denn das Objekt solcher Liebe ist völlig außerstande, den eigenen Wert oder Unwert in den Augen des Liebenden zu ermessen oder auch nur zu erfassen; das bleibt ausschließlich seine Sache (und hat übrigens, auch bei ihm, mit "Urteilen" eigentlich überhaupt nichts zu schaffen). Und nicht weniger gern glaube ich, daß Sie sich "seiner Illusionskraft" bewußt sind. Aber gerade solche Illusionskraft ist ein integrer Bestandteil solcher Liebe, sodaß als Ergebnis jener "Illusion" eine vollgültige Realität entstehen muß. Das wußte natürlich keiner besser als Karl Kraus selbst—keiner wußte es so gut; und hunderte von Aphorismen, Sätzen, Versen sind die Bestätigung. (Hier wurde ich leider unterbrochen, und komme erst nach zwei Tagen dazu, weiter zu schreiben.) Zu den Kommentaren der einzelnen Auszüge will ich nur sagen, daß mir durch manche von ihnen manches gegenständlich klarer geworden ist (wie etwa gewisse Stellen von Abschied und Wiederkehr—vorzüglich in Legende—und von Sendung, welches mir seit jeher als eines der allerschönsten der Gedichte gilt; vergebens habe ich immer wieder versucht, es englisch nachzubilden, während ich mich an das wohl weit "größere", aber doch nicht schönere Abschied und Wiederkehr nie herangewagt habe); und daß als Einblick in das Privat­ menschentum dieses seltenen Lebens—mir von Ihnen so gnädig gewährt—ein jedes Wort dieser Exzerpte mir ein Kleinod ist und bis zum Ende meines Lebens bleiben wird. Mich hierüber weiter zu ergehen, wäre als vollkommen überflüssig nur Selbstüberhebung und Anmaßung; und wie ich Ihnen, als Sie mich in Ihrem lieben Begleitbrief zu den Abschriften um mein Urteil baten, jüngst bedeutet habe, wäre ein "Urteil" über deren Inhalt vollends undenkbar—denn worüber ich sonst urteilen sollte, wüßte ich nicht zu sagen, es sei denn, Sie wünschten zu hören, wie ich über die Tatsache des Abschreibens als solche denke. Aber das dürften Sie aus allem Vorhergehenden bereits wissen. Nun aber ist es an mir, mit einer Bitte hervorzutreten. Ich sagte soeben, was mir diese Auszüge bedeuten und daß sie es mir bis zu meinem Lebensende bedeuten werden. Wie aber soll über sie verfügt werden wenn ich nicht mehr da bin? Ich weiß jetzt aus Ihrem letzten Schreiben und aus dem Wunder eines "Geburtstagsbriefes", daß ich um einige Jahre 247 aber soll über sie verfügt werden wenn ich nicht mehr da bin? Ich weiß jetzt aus Ihrem letzten Schreiben und aus dem Wunder eines "Geburtstagsbriefes", daß ich um einige Jahre älter bin als Sie. Dazu kommt die Herz-Krankheit, wie sonstige Leiden (nebst rein physischen Alterserscheinungen); und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ich—in the normal course of nature—Sie kaum überleben dürfte. So muß ich Sie eben bitten, mir Ihre Wünsche bekannt zu geben, am liebsten durch eine möglichst klare Disposition: Was nach meinem Ableben mit diesen und den noch hinzukommenden Briefstellen (wie auch mit Ihren Briefen an mich) zu geschehen habe. Das wäre mir eine große Beruhigung, und ich wäre Ihnen für die erbetene Verfugung sehr dankbar. Ich will jetzt schließen; wieder ist der Brief zu lang geworden! So sehr ich mir immer vornehme, mich kurz zu fassen: es scheint leider nie gelingen zu wollen. Zu den Feiertagen kann ich Ihnen nur wünschen, was ich uns allen und dieser ganzen Jammerwelt wünsche: Frieden] Ihnen aber ganz besonders den Frieden des Herzens und der Seele. Es grüßt Sie herzlichst Ihr stets ergebener Albert Bloch Daß Ihnen das Bildchen des Lac de Joux Freude bereitet, macht mir eine womöglich noch größere! Lawrence, Silvester 1948 Sehr verehrte, gütige gnädige Frau— (wie passen doch diese beiden Worte, gütig und gnädig, zu Ihnen!) In aller Eile nur einige Worte, um für den Brief vom 19. und die schönen Ansichten von Thierfehd (mit dem Wasserfall!) herzlichst zu danken, deren eine ganz herrliche mir bereits aus Lieglers Buch vertraut war. Daß diesmal "leider nur" Sie auf drei der Bilder zu sehen 248 sind, will ich gern verschmerzen; habe ich doch schon allerhand Photographien von jenem angebeteten Geist, von überallher gesammelt, deren vier—nebst zwei Ansichten des Grabes—über meinem Bette hängen . . . . "Leider" muß aber ich sagen—wenn ich diese drei Aufnahmen von Ihnen betrachte, denn die Gesichtszüge bleiben entweder so sehr im Schatten oder sind so verschwommen wiedergegeben, daß es unmöglich ist, von Ihrer damaligen Erscheinung mir mehr als eine vage Vorstellung zu machen, und ich wollte so gern eine richtige! Selbst auf dem ganz klaren Bild von der Wiese im Schloßpark, wo Sie mit gesenktem Kopfe zu sehen sind, kann man das freundlich lächelnde Gesicht sozusagen nur aus der Vogelperspektive betrachten. Das sollen aber keine Klagen sein—bitte verstehen Sie mich nur recht —, und umso dankbarer bin ich für die schöne Aufmerksamkeit, als mir jetzt endlich etwas sehr Wichtiges klarer geworden ist: die Widmung des 6. Bandes der Worte in Versen. Darüber bin ich nun—wenn ich es sagen darf—einigermaßen beruhigt. Denn in eben diesem wie im 5. und 4. Band bleibt manches Gedicht an und für sich vollkommen unzweideutig, doch in seiner menschlichen Beziehung und Anwendung nicht verständlich. Das muß wohl sein und für alle Welt so bleiben. Doch immer wieder mußte ich so sehr darüber trauern, daß etwas so himmlisch Schönes nun anscheinend nicht mehr sein sollte. Ich wage es ruhig, zu bekennen, und da Sie gestehen, es sei Ihnen als ob wir uns schon lange kannten, darf ichs auch wohl: mir war es—unbeschreiblich—ein ganz persönlicher Verlust. Nun gehen die Feiertage endlich zu Ende. Wie schon seit vielen Jahren verbringe ich sie hauptsächlich in meinem Arbeitszimmer. Aber unten im Wohnzimmer steht ein kleiner Christbaum auf einem Ecktischchen. Es grüßt Sie mit allen Segenswünschen und wiederholtem innigen Danke Ihr aufrichtig ergebener Albert Bloch P.S.—A propos der langhaarigen Hunderassen: Es freut mich, daß ich die Rasse Bobbys doch wenigstens zur Hälfte erraten habe. Von den Leonbergem hatte ich meines Wissens noch nie gehört, von den Pyrenäen wohl, ohne ein Exemplar je gesehen zu haben. Ob Neufundländer in unserem Erdteil noch vorkommen, weiß ich leider nicht, seit Jahren habe ich keinen gesehen. Das letzte mal war vor ungefähr 10 Jahren: es war ein Prachtexemplar 249 von einem Neufundl. von geradezu leuchtender kohlschwarzer Farbe. Sie war leider bereits alt geworden als ich sie kennenlernte. Zwei Sommer lang sahen wir sie täglich, dann starb sie. Man hat sie mit einem unerhört schönen Collie ersetzt; der war aber ein unverbesserlicher Strolch (wenn auch ein herzlich lieber Kerl), man konnte sich auf ihn nie verlassen—tagelang blieb er aus, tauchte zwar immer wieder auf, doch am Ende sah man sich gezwungen, ihn an Freunde in einem ziemlich entlegenen Orte abzugeben. Jetzt hat man an seiner Stelle einen kreuzbraven, anhänglichen Spaniel (die deutsche Bezeichnung für diese Art Hunde kenne ich n i c h t ) . . . Übrigens, Ihren Woodie stelle ich mir—nach den paar Andeutungen in der "Grabschrift"—als langhaarigen Dachshund vor; solche sind auch wunderschön, haben aber wie die glatten und stachelhaarigen einen ganz eigenen Kopf bei aller Freundlichkeit und dürften überhaupt die intelligentesten von allen Hunden sein. Heute erhalte ich von einem Freund ein mir bisher unbekanntes Buch von Mechthilde Lichnowsky {Gespräche in Sybaris, 1946 in einem Wiener Verlag erschienen), und ein umfangreiches Werk über den Maler Kokoschka (in London erschienen und von einer Engländerin verfaßt). Beim Durchblättern dieses bemerkte ich, daß darin viel über K.K. und den Kreis um ihn zu stehen scheint (ein flüchtiger Blick nahm dabei manchen Unsinn wahr); und aus der ersten Schaffenszeit Kokoschkas sind Bildnisse von Kraus, Loos, der Frau Kann, Ehrenstein u.a. wiedergegeben—auch ein späteres von K.K., ca. 1923, nur entfernt ähnlich und bös verzeichnet. Habe nicht den Eindruck, daß das Buch von hervorragender Bedeutung sein könnte, wie mich auch die Arbeiten des Malers aus den letzten Jahren enttäuschten . . . . Mit größter Freude aber harre ich der Lektüre des Lichnowskybandes entgegen. Seit Monaten schon suche ich vergebens Mechtilde Lichnowskys gegenwärtige Adresse genau zu eruieren, da ich ihr so gern ein Widmungsexemplar meiner Ventures in Verse (als Herzens­ und Geistesdank für die viele Freude, die ich seit Jahren durch ihre Schriften erlebe) übersenden möchte. Daß sie jetzt Witwe [nach] einem englischen Offizier ist und in London leben soll (In dem Walham Green-Bezirk), weiß ich; ich kenne aber in England niemanden, der auch sie kennen dürfte, und so muß ich auf einen gütigen Zufall warten, der mir unverhofft die ersehnte Adresse in die Hand weht. Oder wäre es vielleicht möglich, gnädige Frau, daß Sie mir hier aushelfen könnten? Wenn ja, so bitte ich angelegentlichst darum; es würde allerdings meine schon unermessliche Dankesschuld an Sie vergrößern. 250 Nun ist aber auch dieser Brief, der bloß ein paar Zeilen umfangen sollte, zu lang geworden. Bei Ihnen scheints mir leider immer so gehen zu wollen; und ich möchte Sie um alles in der Welt nicht langweilen. So muß ich Sie wieder um Entschuldigung und Nachsicht bitten. (Es nicht wieder zu tun, darf ich aber nicht voreilig versprechen. Man kann ja nie wissen!) 6. Januar 1948 Aus der Gedichtsammlung Der Freund der Erde (1946) von Friedrich Podszus IN MEMORIAM KARL KRAUS War es genug?—Wir, ach, noch hier gefangen, Wir wanken weiter in den nächsten Schlag. Schluchzt nicht die Amsel? Uns wird wieder Tag. Du bist nun zu den Wundem heimgegangen. Ein Dickicht tut sich auf: Vom Laub verschwiegen Lang wartet dort die Vorbestimmte schon, Und Echo ruft den ungebornen Sohn. Die Winde summen, sanft in einzuwiegen. Herbei im schnellen, leichten Lauf die Hunde, Von ferne haben sie dich treu erkannt. Nur Frieden atmet weit das neue Land. Dort kränkt dich keine Narbe, keine Wunde. 251 Die Sonne rückt nicht weiter, und es spielen Die Falter, sieh, voran ein Admiral. Es läutet blau durchs Glockenblumental. Die Wälder auferstanden, die einst fielen. O Wunder, was nur Zeit war, ist vergangen: Verlassene, ihr seid nicht mehr allein. Was einst euch trennte, will vergessen sein, Und wer noch fragt, wird nie um Antwort bangen. Genug und nicht genug! Nun hingegangen Dahin! Ins Ende? Du hast angefangen! Im verflossenen Sommer wurde mir vom Verlag Karl Alber in München der Gedichtband zugeschickt. Ich kenne weder den Dichter noch den Verfasser. Die Sammlung ist ziemlich ungleich, enthält aber doch manches sehr Schöne (nirgends verleugnet sich der Einfluß K.K.!), darunter dieses ergreifende Gedicht, aus den Ihnen nächststehenden Motiven zusammengeflochten. Wollte es Ihnen schon lange abschreiben lassen, das Bändchen hatte ich aber einem New Yorker Freunde geliehen und erhielt es erst vor kurzem zurück.. . . Der Dichter ist Ostpreuße, steht im 50. Lebensjahr und lebt jetzt in München; mehr weiß ich von ihm nicht. Nur jetzt noch rasch mitgeteilt, daß der wunderliebe Brief vom Ende Dezember und die 2. Sendung der Abschriften heute, den 6. Januar angekommen sind. Mein Herz überströmt von Dankbarkeit—und noch manchem! In den Abschriften bin ich noch mitten drin, kann also über sie vorläufig nichts schreiben—Herz, Geist, Seele noch allzusehr ergriffen, berückt erschüttert Und ich sollte Sie jetzt nicht m e h r . . . lieb haben?! Ja wieso denn? Jetzt doch erst recht—gerade jetzt! Baldmöglichst Brief. Bitte um Verzeihung wegen großer Eile; aber ich mußte ja gleich meine Empfangsbestätigung Ihnen zugehen lassen. 252 Lawrence, 17.1. 48 Hochverehrte, liebe, gnädige—undgütige—Frau (Die Worte bleiben in Geltung—was denken Sie denn von mir?) — Vor mir liegen Ihre beiden jüngsten Briefe, vom 30. Dezember und vom 10. Januar. Es war mir leider bisher unmöglich, mehr als den kurzen Zettel unter dem Gedicht von F. Podszus zu schreiben; aber mich haben die letzte, oder vielmehr die vorletzte Sendung der Briefstellen und die betreffenden Gedichte seither besonders intensiv in Anspruch genommen. Jetzt habe ich mich endlich so weit gebracht, mir das Wagnis zu erlauben, zu einigen Stellen der Abschriften, was mir jeweils im Besonderen dazu einfallt, Notizen— länger oder kürzer—aufzuzeichnen; und sobald ich damit fertig werde (es dürfte noch eine Weile dauern, da es nur zwischendurch geschehen kann), will ich alles ins Reine schreiben und, mit Ihrer freundlichen Erlaubnis, Ihnen zugehen lassen, nur hoffend, daß Sie darin nirgends eine allzu plumpe Banalität oder Anmaßung entdecken und feststellen werden. Für die allerletzte Sendung: der Worte über Kokoschka, Loos, P.A., Rilke u. Werfel—aber fast noch mehr für den herzlich lieben Begleitbrief—haben Sie tiefsten Dank! Je mehr Aussprüche ich über die Menschen seiner Bekanntschaft und seines Umgangs, über Freunde, Gegner und Feinde, über die Vorlesungen und seine Arbeitsweise, über seine Lieblingsdichter und Offenbach, erfahren darf, desto klarer wird mir sein Bild. Wenn er sich auch in seinen Schriften über alle oder die meisten dieser Themen ausfuhrlich und rückhaltslos geäußert hat, würden doch gleichwohl die Privatäußerungen unendlich wertvollen Aufschluß bieten; und meiner Diskretion können Sie ja sicher sein. Wenn Sie aber dagegen das allerleiseste Bedenken empfinden, dann natürlich lieber nicht. Werfel log gewiß. Wie er privat gelogen hat, weiß ich nicht; aber es logen seine Schriften—dieses Gefühl hatte ich unabweislich als ihn sogar Karl Kraus noch schützte, d.h. als ich erst später die Verse las, die in der Fackel zum Abdruck kamen. Bekannte von K.K. versichern, er sei ein "schlechter Menschenkenner" gewesen. Das lasse ich aber nicht gelten. Er war schon ein ganz außerordentlicher. Darüber schrieb er selbst einmal: Die Irrtümer in dieser Hinsicht, welche er zu bereuen habe, seien Überschätzungen. Aber das waren sie dann doch 253 nicht! Das Urteil über Lyrik bleibt zum großen Teil immer doch subjektiv, selbst bei einem so unerbittlichen Richter wie K.K.; und er gestand auch einmal, daß er von der frühen Werfel'schen durch den sympathischen Eindruck der Kindheitserinnerungen sich zeitweilig gefangennehmen ließ—zu einer Zeit, wohlgemerkt, da er sich noch nicht allzu intensiv mit Lyrik beschäftigte. Bei ihm gabs keine Wandlungen; es war alles organisches Wachstum: das wollten die blöden Entdecker von "Widersprüchen" nie einsehen. — Und wie ich auch weiß, oder aus den Schriften schließe, duldete er, mehr oder weniger gleichgültig, Menschen in seinem Bekanntenkreis oder an seinem Tische mit neutralen aber immerhin angenehmen Umgangsformen: er kümmerte sich eben nicht um ihre private Ethik, und solange sie ihn nicht geradezu zwangen—vgl. den Fall Jakobsohn —, in ihr Wesen einzudringen, ließ er sie gern gewähren. Öffentlich hat er ihre Privathandlungen niemals perhorresziert, nur ihr öffentliches Gehaben man weiß doch, wie er Menschen wie P.A. und Loos bis zu ihrem Lebensende—bis zu seinem—liebte, doch blieb er sich über sie keinen Augenblick im Unklaren; und noch lange nach seiner verdammenden Kritik der "Gedichte" Kokoschkas schätzte er diesen noch als Maler soweit, daß er ihm wieder—und zu einem schauderhaft schlechten Bildnis—saß sowohl was bloße Ähnlichkeit als auch was Zeichnung und Malerei betrifft. Daß Karl Kraus mit Rilke persönlich bekannt war, wußte ich nicht; daß er mit ihm aber sogar auf intimem Fuß stand und ihn "Rainer" nannte, hätte ich mir nie träumen lassen. Besten Dank auch für die Adresse Mechtild Lichnowskys; jetzt kann endlich das für sie zurückgelegte Bändchen abgehen. Mein Urteil wollen Sie über Gespräche in Sybaris hören; aber da kann ich nur Ihre eigenen Worte wiederholen: Ein feines, geistiges Kleinod ("Sprach sie von einem Buch, so sprach sie gut")!; und ich glaube, daß Sie mit Ihrer Voraussage, daß es nur wenig gelesen werden wird, leider recht behalten dürften.—Warum, weiß ich nicht, aber es freut mich wirklich sehr, daß Sie mit Frau Lichnowsky befreundet sind. Ich kenne Sie nicht persönlich, nur ihr Werk, das mir mehr zu sagen und zu geben hat als das ganze zeitgenössische Schrifttum.. Daß es ihr jetzt physisch (gesundheitlich?) und materiell nicht gut geht, ist tief betrüblich. Wenn man da nur irgendwie taktvoll eingreifen könnte; und— wenn man jetzt nur selbst in der Lage wäre, zu helfen! Nun aber zu dem anderen Brief: Ich habe schon in jenem kurzen Zettel angedeutet, daß sich in meiner aufrichtigen und hohen Wertschätzung nichts geändert, daß sie sich im Gegenteil 254 habe, wie jeder andere, viel durchgemacht und durchstehen müssen. Ich war nie Anachoret, nie Asket. Wohl ungefähr dasselbe wie K.K. habe auch ich erlebt: Himmlische Seligkeit, Trennung, Wiederfinden, Seligkeit, Trennung Wiederfinden und so fort. Nur daß mein Objekt nicht in Vergleichsnähe zu dem seinen zu denken wäre—was ich jetzt längst weiß, aber damals, vor vielen Jahren, mir nie eingestanden hätte. Glauben Sie aber, daß es mir j e eingefallen wäre, zu verzeihen! daß ich überhaupt empfand, es gäbe da etwas zu verzeihen? (Ach, wir sind j a alle dazu verdammt—eine alte Erbsünde-Erscheinung,—, dem, was uns das Liebste ist, weh zu tun; oft sogar durch unsere Liebe selbst. Der Mensch ist ursprünglich wahr und folgt seiner Natur; er ist sich selber treu, und wenn er es bleiben kann, so muß er ein starker und guter Mensch werden, den ein Schuldempfinden ob solcher Treue—bei allem Leiden und Mitleiden—nicht belasten sollte.) Ich war damals noch jung, lernte das Werk der Fackel erst etwas später kennen. Und da muß ich wieder einmal auf das Motto aus Blaise Pascal verweisen. Schon bei der allerersten Begegnung mit Karl Kraus war es mir, als wäre jedes Wort mir aus Herz, Geist und Seele gesprochen! Und als ich dann die Aphorismen kennenlernte, erfaßte ich ohne weiteres—im Großen und Ganzen—die Ge­ danken über Erotik und war mit ihm eines Sinnes in dem Standpunkt der Weibnatur gegenüber. Wenn ich also überhaupt nur einen einzigen Satz von Karl Kraus richtig begriffen habe, halte ich es für vollkommen ausgeschlossen, daß er da jemals hätte "verzeihen" können, weil ihm vollends alle Empfindung fehlen mußte, daß da etwas zu verzeihen sei! (Und wenn er hundertmal versichert hätte, daß er verzeihe, so scheint es mir bloß logisch, dieses Wort als das Nachgeben an ein Bedürfnis nach Trost, Besänftigung, Beschwichtigung, nach einem Zeichen und Signal der restlosen Wiedervereinigung zu warten—ein liebevolles, liebendes Nachgeben, keine bloße Konzession.). . . . Daß Sie aber mich um Verzeihung bitten sollten—O Sie Gütige, Gnädige! Als ich das las, standen diese alten Augen—die schon ziemlich alles gesehen haben und doch längst abgehärtet sein sollten—plötzlich voll Thränen. Wenn er nichts zu verzeihen hatte—und das behaupte ich!—um wieviel weniger als garnichts ich, der ich doch niemals einer etwas zu verzeihen hatte, was immer sie mir angetan zu haben sich schuldig fühlen mochte! (Und das ist weder bei ihm noch mir Edelmut oder selbstgefällige Großzügigkeit: es ist nur Liebe und Einsicht.)—Sie werden sich also wohl vorstellen können, wie ich, nach der Lektüre Ihres 255 bei ihm noch mir Edelmut oder selbstgefällige Großzügigkeit: es ist nur Liebe und Einsicht.)—Sie werden sich also wohl vorstellen können, wie ich, nach der Lektüre Ihres Schreibens, zögerte, mich scheute, fürchtete, in die abgeschriebenen Briefstellen, den ersten Blick zu tun! Und als ich auf die betreffenden Sätze kam, wie atmete ich auf! Darauf war ich ja vorbereitet* Durch wieviele Herrlichkeiten seiner großen Lyrik! Daß so etwas vorgefallen war, hatten sie doch längst angedeutet, und es hatte mich seinetwegen bedrückt und beunruhigt; nur konnte ich natürlich nicht ahnen, daß zweimal die Wiederverbindung erfolgt war, denn das später erschienene (mir noch heute etwas dunkle) Gedicht: Du seit langem einziges Erlebnis läßt doch absichtlich auf ein ganz anderes schließen, und man mußte bei allem Entzücktsein von diesen Versen, mit dem Dichter um einen unwiederbringlichen Verlust leiden, seine Trauer darum teilen, denn es schien ja unmöglich, daß ihm je wieder ein solches Wunder zuteil werden könnte; und siehe—es war doch dasselbe! . . . fur alles, was Sie ihm gaben, was Sie ihm waren und für alle Zeiten bleiben, nehmen Sie bitte meinen Dank! Durch das, was Sie mir so offenherzig mitteilen, ist die Ehrfurcht vor Ihnen, die Liebe zu Ihnen, nur gewachsen. (Wie hätten Sie daran zweifeln können?) Ihre Wünsche betreffs Disposition der Abschriften und der Begleitbriefe habe ich bereits testamentarisch vermerkt. Nachträglich fiel mir aber ein: Wenn nun ich—was mir ja ganz undenkbar scheint, doch kann man nie wissen—Sie und Herrn Dr. Turnovsky überleben sollte—was dann? Von meinen Testamentsvollstreckern (auf die ich mich fest verlassen kann) ungesehen verbrennen lassen? Oder—? Ich bitte um Ihre Weisung. Trotz Ihrer freundlichen Beruhigung, beunruhigt es mich doch, daß Sie zwischen 8 Uhr abends und 4 Uhr morgens über [die] Abschriften sitzen, und wenn die Beschäftigung mit ihnen noch so belebend und trostbringend ist. Gern glaube ich, daß Sie an wenig Schlaf gewohnt sind, aber wenn man ein größeres Gut zu beaufsichtigen hat, wird man wohl auch sehr früh aufstehen müssen und 3 oder 4 Stunden Schlafes dürften doch kaum genügen. Ich bin j a auch an wenig oder sehr unterbrochenen Schlaf gewöhnt, der Gesundheitszustand verlangt aber, daß ich nachts mindestens 12 Stunden liege, ob ich schlafe oder nicht. Ich bleibe meistens allerdings nicht so lange liegen, aber doch immer ziemlich lang, sonst bin ich am anderen Tage ganz kaput; und das Liegen ist schon an und für sich ein körperliches 256 Ausruhen. Man schläft ein oder zwei Stunden, bleibt dann eine Zeitlang wach, schläft wieder ein, wird wieder wach, und so geht es fort, bis man schließlich spätmorgens aufsteht. In den Schlafpausen, die manchmal 2 bis 3 Stunden dauern—und sogar länger—wird gelesen: fast immer in meinem Karl Kraus. Sonst komme ich ziemlich wenig zum Lesen; bin anderweitig zu beschäftigt, da ich mich jetzt endlich der eigenen, eigentlichen Arbeit ausschließlich widmen kann. —Ich denke mir, daß Sie das vielleicht auch versuchen könnten: sich mit einer Lektüre früh oder früher als jetzt—zur Ruhe legen; vielleicht schläft man dann länger oder besser—ich weiß es nicht. Ich habe mich dann und wann absichtlich mit langweiligem Lesematerial ins Bett begeben. Da wurde ich aber erst recht wach! So ahne ich nicht, welches für andere das richtige wäre—und außerdem hat man mich nicht um Rat gebeten! Also um Entschuldigung, wenn ich vorlaut und wieder gesprächig gewesen bin. Und wenn ich mich hie und da vielleicht zu offen und frei ausgedrückt habe. (Sie haben j a eine Engelsgeduld mit meinen endlosen Briefen! Auch wenn die Ihren der Anlaß sind, sollte ich mich besser beherrschen!) Mit wiederholtem innigem Dank grüßt Sie herzlichst Ihr ergebener Albert Bloch Dr. Turnowskys Adresse habe ich richtig gelesen: Belcrediho? Ich habe manche Stellen in Ihren beiden Briefen vorläufig nicht beantwortet. Manches in den Notizen, die ich jetzt mache, wird sich auf jene beziehen; auf andere Stellen werde ich gelegentlich zurückkommen. Man will doch ja nicht mit allzu langwierigem Geschreibe lästig fallen. 257 20. January 1948 Dear Madame Nadherna— forgive this briefest line in very great haste. I can only acknowledge and thank you for the fourth installment of the copied passages from the beautiful letters of Karl Kraus; as also your own good note of the 14th. I have not been well, and should not be writing now if I did not know that you desire immediate acknowledgement of the Abschriften. On Matejka, Liegler etc., more presently, if I have not already spoken of them in a previous letter. My last was long enough in all conscience; I can only hope that it did not quite exhaust your patience. You are never "geschwätzig", though I fear that I may seem to be; but your communications are so stimulating that I find it most difficult to withstand the temptation to respond to their stimulus. Do you mind my writing in English this time? Now and again, when my head is not up to much exertion, I find it somewhat easier than German. Moreover, you write such excellent English yourself that reading it will present no difficulty,—but the handwriting may, though I hope not. With the best of good wishes, Most faithfully, Albert Bloch And do, please, excuse crossings-out & corrections. I am better than I was, but still not in proper condition. If I were, I should copy off what I have written and at least send you a c/earr-looking note. 258 23.Januar 48 Liebe, verehrte gnädige Frau, Sie wollen bitte entschuldigen, daß ich rasch über eine Angelegenheit schreibe, die mich eigentlich nichts, aber doch sehr angeht. Zeitungen lese ich nicht zu regelmäßig, und erst nachdem ich Ihnen gestern den Zettel geschrieben hatte, las ich in einer einige Tage alten New York Times, die Nachricht, daß man bei Ihnen um das Befinden Benes' besorgt sei und daß die dortigen Kommunisten (wie auch die Russen) nur darauf warten, sobald er nicht mehr am Leben ist, sich des Landes zu bemächtigen. Das flößte mir nun ganz besondere Besorgnis um Sie ein, und es wäre mir immerhin eine kleine Beruhigung, wenn ich erfahren könnte, daß Sie, auf die Möglichkeit vorbereitet, solche Vorkehrungen getroffen hätten, die vielleicht noch zu treffen wären: etwa, wenn Ihr Auslandsreisepaß noch Gültigkeit hat—denn das Schloß wird man Ihnen auf die Dauer kaum lassen —, daß Sie rasch ins Ausland kommen, nach der Schweiz, nach Frankreich oder England. Ich bitte also um ein Wort der Beruhigung, und für den Fall, daß Sie mir dieses nicht geben könnten, um eines über Ihre voraussichtlichen Pläne. Mir ist sehr bange um Sie. Mit freundlichen Grössen, Wünschen und Hoffhungen, Ihr sehr ergebener Albert Bloch I write in great haste and besides must beg you always to remember that German is not my native language that I didn't learn it until after I was grown. 259 Verehrte, liebe gnädige Frau, von Arbeit und unaufschiebbarer Korrespondenz sehr in Anspruch genommen, zwischen­ durch aber immer wieder von Unwohlsein unterbrochen, weiß ich nicht einmal mehr, ob ich gleich nach Empfang der letzten Sendung von Abschriften (mit Ihrem Schreiben vom 14.), dafür gedankt habe. Wohl eine Alterserscheinung, ein so trottelhaftes Gedächtnis! Für den Fall, daß ich die Empfangsbestätigung unterlassen habe, bitte ich vielmals um Entschuldigung. Ich glaube kaum, daß dem Lyriker Podzsus das Gedicht Immergrün bekannt ist, vermute vielmehr, daß sich jener "leichte Lauf der Hunde" auf Bobby und Woodie bezieht, vielleicht auch auf den Hund in Der Bauer, der Hund und der Soldat. Oder wohl eher, daß hier nur im allgemeinen auf die bekannte große Hundeliebe Karl Kraus' hingewiesen werden soll. Über Herrn Podzsus weiß ich nur, was die sehr kurze biographische Notiz am Schluß seines Buches angibt. Ab 1922 lebte er bis zum Ausbruch des Krieges hauptsächlich in Berlin, wo er die dortigen Vorlesungen besucht haben muß. In Wien oder Österreich scheint er nie gewesen zu sein, und ich habe seinen Namen von den New Yorker Freunden und Bekannten Karl Kraus' (Samek u.a.) auch nie nennen hören. Ich habe das Gedichtbändchen einem früheren Wiener Hörer und Leser geliehen—eben jenem, der mir Immergrün und Der Gärtnerin als Gabe der Frau K. szt. überreichte—und ihm war der Name dieses Dichters ebenso unbekannt wie mir. Den Wiener Aufruf zur Gründung einer Karl Kraus-Gesellschaft, wiewohl ich direkt und indirekt einige Exemplare desselben vor langer Zeit erhielt, habe ich bis heute nicht näher angeschaut, nur ganz hastig überflogen, weil ich bereits durch Einblick in Briefe[n], die aus Wien an einen New Yorker Freund ergangen waren, die Vorgeschichte der Aktion ziemlich genau kannte. Das Vorhaben an sich erachte ich noch immer als verdienstlich, erkannte aber sofort, daß man die Sache schlecht angefaßt hatte. Das einzige, was mich an dem Aufruf wirklich interessierte und was ich mir allerdings sehr genau ansah, war dessen Anfang: Die Aufstellung und Anordnung des Herauszugebenden Gesamtwerkes, welches schon allein mir so wahnwitzig schlecht ein- und aufgeteilt schien, daß ich keinen Augenblick an die geistige Befugnis dieses Konsortiums von Gschaftlhubern glauben konnte. Möglicherweise war infolgedessen jede vielleicht noch vorhandene Lust, den Aufruf 260 Augenblick an die geistige Befugnis dieses Konsortiums von Gschaftlhubern glauben konnte. Möglicherweise war infolgedessen jede vielleicht noch vorhandene Lust, den Aufruf selbst durchzulesen, verschwunden. Ob ich aber, wenn ich es getan hätte, berufen wäre, die groben Stilfehler, die Sie vermerken, zu verdammen, muß ich leider, wenn ich den eigenen sehr unsicheren deutschen Stil bedenke, bezweifeln. Indessen scheint es mir ausgeschlossen, daß Liegler mit der Textierung überhaupt etwas zu tun gehabt haben kann. Die "Biographie" weist ein ganz anderes Deutsch auf. Außerdem soll Liegler ein sehr kranker Mann sein, und dürfte sich an der Sache kaum aktiv beteiligen. Wenn ich nicht irre, gilt jener Stadtrat Matejka als der "Autor", und ich halte es für wahrscheinlich, daß Liegler den Wisch erst als fertigen Druck gesehen hat. Von Anfang an, wie ich hörte, lag die Leitung der Aktion in Matejkas, nicht in Lieglers Händen. Sie nennen jenen einen Trottel; ich nannte ihn unlängst einen Schwachkopf—oder habe ich Ihnen schon davon erzählt?—Wie ich vor einiger Zeit aus New York einen Ausschnitt aus einer neuen Wiener Wochenschrift erhielt, worin sich Herr Matejka breitmacht: Sein Aufsatz (den man vielleicht besser einen "Aufsitzer" nennen sollte) ist ein fades Geschwätz über "österreichische Kultur"—ganz im Tone der früheren Werbung um einen Fremdenverkehr — , und enthält u.a. eine Verherrlichung (nein, das würden Sie nie erraten)—also: Werfelsl (Und meines Erinnerns, auf das ich mich heute mit Sicherheit nicht mehr verlassen kann, vielleicht weil mir nur noch das Trommelrühren für Werfel gegenwärtig ist, war Karl Kraus nicht einmal erwähnt, was freilich in solcher Umgebung auch kaum möglich gewesen wäre.)—Ich glaube aber, daß Sie sich da—und wir uns—auf den treuen und eifersvollen Samek verlassen können, der ja immer auf der Hut ist und jener Aktion sehr skeptisch gegenüber steht. Ich höre übrigens, daß Samek jetzt dem Burgtheater (?) wegen der widerrechtlichen Aufführung der Madame VArchiduc in der Bearbeitung von Karl Kraus den Prozeß macht oder machen will. (Der Heinrich Fischer soll sie "erlaubt" haben.) Sie zitieren zwei Worte von mir aus einem früheren Brief: "Gerade jetzt!" und "Ja wieso denn?", und setzen hinter jedem ein Fragezeichen, als hätte ich mich unverständlich ausgedrückt, möglicherweise aber als Andeutung eines Zweifels an meiner Versicherung. Ich glaube mich zu erinnern, daß sich diese Worte auf den Anfangssatz Ihres schönen Schreibens vom 31. Dezember beziehen. Da schrieben Sie: "Nun, nachdem ich Licht in das 261 lieb haben werden." Als ich den Satz zuerst las, war ich ziemlich perplex (aber voll ominöser Ahnung), da ich immer zuerst den Begleitbrief lese und dann erst die Abschriften der Briefstellen. Als ich aber diese—endlich, nach langem Zögern—gelesen hatte, glaubte ich mit Sicherheit den Sinn Ihres Satzes erfaßt zu haben, und meine Worte sollten bloß die selbstverständliche Antwort darauf bedeuten. Es grüßt Sie ergebenst, mit wiederholtem herzliche[n] Dank und allen Segenswünschen, Ihr Albert Bloch den 30. Januar 1948 Nachts Liebe gnädige Frau, wie ehrt es mich doch, daß Sie mich als Ihren lieben Fremd anreden! Und wie stolz bin ich auf Ihr Vertrauen zu mir! Wenn ich nur wüßte, wie ich es mir verdienen könnte . . . . Um alles in der Welt bitte ich Sie aber, mich nicht zu überschätzen. Man weiß doch selbst am besten, was und wer man ist. Wenn man also von anderen unterschätzt wird, kanns einem j a egal sein, aber so viel Selbstkritik kann man von sich verlangen, daß einen die Überschätzung seiner Fähigkeiten und Eigenschaften, seines Wesens unerträglich sein muß. Und Ihr wundervoller Brief vom 26., der mich heute vormittags erreichte, war geradezu umwerfend! Diese hohe Meinung, die Sie von mir haben—sie beschämt michl Ich bin leider Gottes kein Karl Kraus. Und mir stieg die Schamröte in die Wangen, als ich den ersten Satz Ihres so ergreifenden Schreibens las: ". . . Ihr Einfühlen in Karl Kraus; nein, nicht Einfühlen, nicht Kenntnis, sondern mehr: sein, er zu sein." Und: "Statt Ähnlichkeit würde ich Gleichheit sagen. Sie müssen sich gar nicht bemühen, ihm geistig und sittlich zu gleichen: Sie sind—seit jeher—von der Schöpfung so gewollt—und wäre er nie gewesen, er."—Nein, nein, nein!—So gern ich das alles glauben möchte: Gegen ihn bin ich ein Zwerg, der bloße Schatten eines Zwerges; das weiß keiner besser als ich. Wie gern, wenn ich es 262 er."—Nein, nein, nein!—So gern ich das alles glauben möchte: Gegen ihn bin ich ein Zwerg, der bloße Schatten eines Zwerges; das weiß keiner besser als ich. Wie gern, wenn ich es wäre, wenn ich es sein könnte, wollte ich aus dieser weiten Entfernung, das, wofür Sie mich halten, Ihnen sein. Aber: "Sei Ich ihr, sei mein Bote"? Gütige! So ist es wohl doch gut, daß Sie mich nur aus Briefen, Gedichten und Nachdichtungen kennen und kaum je anders kennen werden. Und wie sehr wollte ich das\ Aber sehen Sie doch: ich hatte bis ganz kurz vor seinem Hingang eine so unüberwindliche heilige Scheu vor meinem Karl Kraus; und Sie werden aus den Aufzeichnungen zu den Briefstellen ersehen, wie ich einige male die Gelegenheit, persönliche Bekanntschaft zu machen, absichtlich auswich. So müßte ich denn auch befürchten, Sie zu enttäuschen, wenn wir uns persönlich begegneten. Sie würden Ihre Erwartungen zu hoch stellen. In zwanglosem Gespräch bin ich selten im Stande, einen Gedanken vorzubringen; ich denke dabei schon, und oft sogar ganz [Richtiges, aber die Worte wollen nicht heraus, ich finde sie nicht, der Satz will sich nicht syntaktisch bauen lassen (selbst im Englischen nicht, da kann mich jeder Schulbub unterkriegen, und würde oft, wie Karl Kraus von Kokoschka sagt c cwie ein Bauernjunge lallen". Mit der Feder in der Hand bin ich meiner sicher, oder wenn ich still allein sitze. Vielleicht übertreibe ich—ich darf weder Ihnen noch mir etwas vormachen—, aber so ähnlich wirds schon sein. Gegenwärtiges sollte nur ein Zettel sein, um rasch für den wunderlieben Brief und die jüngste Sendung der Abschriften von Herzen zu danken. Auf den Rest Ihres Schreibens komme ich baldmöglichst zurück. Und—in den Fortsetzungen meiner Aufzeichnungen—auf die Briefstellen. Jene aber (wie sie bis je tzt gediehen sind) muß ich nun endlich ins Reine zu schreiben anfangen. Sie sollen Ihnen nach und nach folgenweise zugeschickt werden. Alle lieben Wünsche und Grüsse. Stets ergeben Ihr Albert Bloch Ihr Brief war um keinen Buchstaben zu lang. Im Gegenteil! 263 Lawrence, 3. Februar 1948 Verehrte liebe gnädige Frau (wie Sie sehen, bin ich noch ein wenig befangen, und bringe es noch nicht über mich, Sie ohne weiteres als Freundin anzusprechen. Wie preise ich mich aber glücklich, daß Sie mich als Freund ansehen! Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ich jemals jene Sidi, Sidonie seiner Anbetung auch nur brieflich würde eines Tages kennen lernen!) — Zutiefst ergriffen von Ihrem letzten lieben Brief vom 29. Januar, der mich heute erreichte, kann ich bloß meinen Dank stammeln, ohne zu wissen, was sonst zu sagen wäre, da[ß] nicht p lump oder taktlos anmutete. Weitere Vorschläge oder Anregungen (um die ich übrigens nicht gebeten ward) wüßte ich keine vorzubringen. Denn in diesem Lande wäre für ein Wesen wie Sie kein Leben—kaum selbst für mich, der ich doch hier gebürtig bin und dessen Familie auf beiden Seiten seit Generationen hier beheimatet ist. Wäre die sogenannte Geistesluft der amerikanischen Umgebung Ihnen nur im geringsten zuträglich, so müßte man freilich alles dran setzen, Sie herüber zu bekommen. (Wenn ich auch nicht ahne, wie man d a s anzustellen hätte.) Aber ich furchte, Sie könnten in der amerikanischen Atmosphäre n ich t atmen. Eher vielleicht Frau Lichnowsky, der aber trotz aller Entbehrung in England d a s kultiviertere geistige Klima doch viel besser zusagen muß als das kaum vorhandene hiesige.—Dies nur im Vorübergehen, weil mir plötzlich, als ich Ihren Brief las, der verzweifelte Gedanke durch den Sinn schoß, daß für Sie beide—im äußersten Falle—sich h ie r eine Rettomgsmöglichkeit böte. Es wäre aber doch keine: "Lieber den Tod als nicht m e h r zu leben!" . . . (Welches Zitat aber um Gottes Willen nicht als Anregung gedeutet sei!) U n d gestern kam Ihr anderer Brief mit den acht Photos der unglaublich schönen und lieblichen Hunde—was mir aber noch wichtiger: auf fünf sind Sie selbst zu sehen! Jetzt h a b e ich wenigstens eine ungefähre Ahnung von Ihrem Äußeren vor 9 - 10 Jahren: Die kleinen Bilder, so glücklich sie auch das Wesen der guten Hunde wiedergeben, sagen einem, " d e r beten will," nicht allzuviel von dem "Menschlichen"; nur sind immerhin meine Worte, "güt ig und gnädig", bestätigt. Das milde Lächeln stimmt traurig wie die liebliche Landschaft. (And who is Miss Cooney, if one may ask? Sounds Irish. My daughter-in-law, 264 by the way, is pure Irish. . . . Manche der Photos, übrigens, kamen an den Rändern etwas zerknittert an. Es dürfte mehr oder weniger riskant sein, sie in jenen ganz dünnen Luftpost Couverts zu senden. Auch merkte ich ein- oder zweimal, daß die Umschläge, welche die Abschriften der Briefstellen enthielten, beschädigt ankamen, ohne daß Gott sei Dank der Inhalt im mindesten gelitten hätte. Es wäre vielleicht geraten, künftig die Briefstellen in ein festeres Couvert hineinzutun. Ich darf wohl die Bildchen noch eine Weile hierbehalten? Nicht lange; dann erhalten Sie sie wieder.) Ihren wunderlieben Brief vom 26. Januar hebe ich mir zu eingehender Beantwortung noch einige Tage auf—es gibt viel Arbeit nebst unvermeidlicher Korrespondenz (im Augenblick geht es mir gesundheitlich beträchtlich besser). Diese Zeilen sollen bloß rasch den Empfang der Photos und der beiden letzten Briefe bestätigen, und auch das Begleitschreiben sein zu den beiliegenden Notizen, die ich sehr zögernden Sinnes zusende. Nicht nur, weil sie unzulänglich sind; hauptsächlich, weil Sie augenblicklich Kopf und Herz von anderen, weit wichtigeren Sorgen, als meinen Senf zu lesen, angefüllt haben müssen, (aber ich habe Sie Ihnen eben versprochen.) Ich werde jedenfalls die bereits gemachten Aufzeichnungen weiter ins Reine schreiben und die Notizen selbst fortsetzen, sie aber nur dann schicken, wenn ich überzeugt bin, daß Sie sie wirklich lesen wollen . . . . Leider mußte die Abschrift mit der Hand erfolgen—eine Zumutung für Ihre lieben Augen—; aber ich bin nicht mehr imstande, mich der Schreibmaschine für Reinschriften zu bedienen—zu anstrengend —, und meine getreue Helferin, mein geliebtes Schutzengelchen, der einzige Mensch, der außer mir meine englischen Manuskripte in tadellose Druckvorlagen verwandeln kann, hat nie meine deutsche Schrift dechiffrieren gelernt, auch wenn ich sie mit den Notizen bekanntmachen dürfte. Sonst versteht und liest sie Deutsch ganz gut—sogar KK! Die früheren Photographien, die mit rekommandierter Post eintreffen sollen, sind anscheinend noch unterwegs. Gewöhnliche Post von uns nach Europa dauert jetzt eine Ewigkeit. Ich erwarte die Bilder mit großer Freude und innigem Dank im Voraus. Wie? Sie haben keine Hunde mehr?? Seit Sie mir schreiben, sehe ich Sie immer von Ihren schönen großen Hunden umgeben—kann Sie mir kaum anders vorstellen. 265 Feeling better, you see: writing German! I 'd better;—mustn't let myself get out of practice Übrigens ist "über mich" unter Umständen ja richtig; verstehe aber nur zu gut das Dilemma, welches mir keineswegs unbekannt ist: regiert hier, mit dieser Präposition, der Dativ oder der Akkusativ? . . . Stets die innigsten Hoffhungen und Wünsche für Sie, Ihr A.B. Zu Abschied und Wiederkehr [I. Anmerkungen] In einem Punkt war der Dichter im Irrtum. Dieser Leser war sich jedenfalls keinen Augenblick darüber im Unklaren, daß es nicht eine Trennung Nach dem Tod war, worum es da geht. . . Entzückend übrigens wie K.K. darauf bedacht war (in diesem und jenem anderen Gedicht: Sage von Steinen, für den unwahrscheinlichen Fall, daß der Empfängerin die alte Sage unbekannt wäre, ihr diese zu erklären! . . . Zu Legende: Ich erinnere mich noch sehr gut, kurz nach dem Erscheinen von Abschied und Wiederkehr in der Fackel, wie ich ungehalten war, als Liegler seine ungemein geistreiche Erläuterung des Verses "er rief mich aller Wände aus dem AH" zur Aufklärung eines zweifelnden Lesers abgab. Denn mir schien, daß es keines Kommentars bedürfte, wenn auch die Stelle vielleicht etwas dunkel geblieben wäre; daß vielmehr das ganze Gedicht dadurch etwas von seinem wunderbar heiligen geheimnisvollen Duft eingebüßt hätte. Ich will keineswegs heute behaupten, daß ich mich auch erinnere, damals vor mehr als 30 Jahren, den gegenständlichen Sinn der Zeile bewußt kapiert zu haben; nur, daß mir jene Erklärung eher störend als erleuchtend schien. * Zur Stelle aus Brief 15. III. 16 (über Haecker): Gelegentlich einmal vielleicht ein Wort über diesen und Kierkegaard, den ich, soweit ich mich mit ihm beschäftigen konnte, für überschätzt h a l t e . . . . Ich wußte zufällig damals, daß 266 K.K. in München, wo ich jahrelang ansäßig war, sich aufhielt. Als ich in ein Lokal kam und mich zur Frau Lasker-Schüler setzte, fragte sie mich: "Haben Sie K.K. gesehen? Ich erwarte ihn eben." Ich erklärte, daß ich ihn nicht kenne, und stand auf, um weiter zu gehen und nicht zu stören. "Nein, nein", rief die L-S: "bleiben Sie nur, er wird Ihnen sehr gefallen, er ist gar nicht so9 er sieht aus wie ein Kardinal". Ich ging aber doch. Auch sonst bin ich der Gelegenheit ausgewichen, ihn persönlich kennen zu lernen. Das erste mal—1912 oder ' 1 3 — war ich noch nicht sein Leser; ich kannte nur den Namen. Ausschlaggebend für mich (und meine damals etwas negative Haltung) war aber, daß ich manche seiner Münchner "Verehrer" gut kannte, und die flößten mir—ganz besonders nach der Art, wie sie von ihrem Abgott redeten—gar kein Vertrauen zu diesem ein. Darum vermied ich es auch, die Fackel zu lesen (nicht nur, weil ich nicht happig auf die zeitgenössische Literatur war und bin), bis mir eines Tages der reine Zufall ein Heft der Fackel plötzlich in die Hand spielte. Es war sonst nichts zu lesen da, ich war unbeschäftigt und hatte auf einen Bekannten zu warten. Ohne Neugierde, ohne Interesse fing ich zu blättern an. Seit jenem Augenblick—es war 1914, einige Monate vor Ausbruch des Krieges—hat K.K. mich nicht mehr losgelassen. (In einer langen Elegie—geschrieben 1938 nicht lange nach dem Einbruch Hitlers in Österreich—"Epistle to Weidlingau," ist es beschrieben.) Das dritte mal wars wieder die Frau Lasker-Schüler, die mich, in einem anderen Lokal, sitzen zu bleiben bat: Sie erwarte eben Karl Kraus, ich sollte ihn ja kennen lernen, er sei gar nicht so, sondern persönlich ein reizender Mensch und sehe genau, aber genau wie ein Kardinal aus. . . . Es war natürlich— das 2. u. 3 . mal—nur meine ehrfurchtige Scheu, die mich leitete und abhielt: für eine solche Gunst war ich noch nicht reif, denn ich hatte ihm nichts zu geben, außer der Liebe und Verehrung, die ich von fern und im Stillen ihm entgegenbrachte. Später—viel später— wären solche Bedenken weggefallen, und fielen auch weg: ich hatte den Wunschtraum, zu seinem 60. Geburtstag nach Europa und Wien zu fahren, um ihm die Hand drücken zu dürfen. Daraus ließen eingetretene Umstände nichts werden. . . . Nie werde ich seine wahre Engelsgeduld mit mir und meinen ewigen Zuschrifen ihm vergessen. In der Tat war er "gar nicht so"—was ich ja längst und ohne die wiederholte Versicherung Else Lasker-Schülers aus seinen Schriften wußte—Frau L-S verstand bloß den Beweggrund meines Widerstrebens nicht. Wiederholt ließ er mich durch Prof. Jaray (der mir später aus London einen Krach 267 gemacht hat) herzlichst grüssen, durch den Verlag Vorlesungsprogramme und sämtliche Schallplatten zustellen, und zwei seiner Bücher hat er mir mit persönlichen Widmungen zukommen lassen, wiewohl sich von diesen bereits Exemplare in meiner Bibliothek befanden. Nichts, was selbst Sie oder die tief rührenden Stellen aus den Briefen von seiner Güte und Herzensmilde—von seiner wesentlichen Meschenfreundlichkeit—erzählen können, ist mir eigentlich neu: wäre es das, so hätte ich Karl Kraus von allem Anfang an—seit jener zufälligen Begegnung in einem Heft der Fackel—kaum so herzlich und rückhaltlos lieben, so unbedingt an ihn glauben können. Das aber bitte ich zu begreifen: jene "ewigen Zuschriften", an ihn oder den Verlag, schrieb ich immer notgedrungen, von einem unabweislichen Seelenbedürfhis diktiert. Oft konnte ich widerstehen: schrieb, und zerstörte das Geschriebene, oder schrieb überhaupt nicht in Fällen, da es mir ein Herzensbedürfnis gewesen wäre. Ich wollte alles eher als Beachtung, dachte nie daran; ich hatte aber damals keinen einzigen Menschen hier, mit welchem ein geistiger Verkehr möglich gewesen wäre (von der abschreckenden Lauheit, Pedanterie, Trivialität und Wesensdummheit der meisten amerikanischen Universitätsleute macht sich ein uneingeweihter keinen Begriff); und als dann immer wieder meine Briefe und Zurufe in der Fackel abgedruckt wurden—von seinem Text umgeben!—verging ich jedesmal vor Scham. Ich weiß ja, die meisten seiner Leser hätten in solcher Beachtung nur das Ehrenhafte erblickt; ich war dafür sicherlich auch nicht blind, aber die Verlegenheit, die ich dabei empfand, war mir trotzdem doch immer unangenehm. Zu Wiese im Park, "Man grüsse das arme Tagpfauenauge von mir und sage ihm, daß ich seine Ahnen sehr gut gekannt habe."—Dieses Motiv klingt wieder in Legende einige Jahre später an. Das ist Ihnen doch wohl längst aufgefallen? * 268 Briefstelle: 7J8. Dez. 15: . . Aus jungenTagen dürfte nicht alle irreführen, nicht die, deren Ohr doch hier die Betonung des inneren Jungseins heraushört."—Eben! Wie bei Abschied und Wiederkehr war ich mir auch hier nicht im Unklaren. Gerade darum aber schien mir immer (bis eben jetzt) der Titel so rätselhaft. (Man ist zuweilen doch begriffsstutziger als erlaubt sein sollte!) Denn ich wußte ja, daß es kein Erlebnis aus der Vergangenheit war— wie ich es wußte, das weiß ich freilich nicht —, weil ein jedes Wort solcher Andacht von nichts anderem, als von einem lebendig Gegenwärtigen sprechen konnte. . . . Glücklicher, überglücklich Begnadeter! Der seine Liebeslieder bei Lebzeiten erscheinen lassen konnte, durfte! . . . Die meinen dürfen (vorläufig) keine Augen sehen als jene, für die sie ursprünglich bestimmt waren—und darunter befinden sich meine schönsten und besten. (Freilich habe ich seit langem keine verfaßt; und durch das Nichterscheinen der Vorhandenen würde die Welt einen unvergleichlich geringeren Verlust erleiden, als wenn er die seinen ihr hätte vorenthalten müssen.) * Bondll Zur Fahrt ins Fextal: Immer schon war mir ein Rätsel, was mit "Silvaplanas Wind" gemeint sei. Als ich das Gedicht vor Jahren nachschilderte, schlug ich überall vergebens nach, um nur ja nicht etwas zu übernehmen, das ich nicht oder gar /w/jöverstand (ich nahm an, das Wort sei eine geographische Bezeichnung), fand den Namen aber nirgends erwähnt. So mußte ich mich dann schließlich mit einer vagen englischen Umschreibung begnügen. Könnten Sie mich hierüber vielleicht aufklären? * Zu Landschaft (Thierfehd): Dieses Gedicht, wie so viele andere Kostbarkeiten habe ich schon seit mehr als 20 Jahren nachbilden wollen—es ist mir nie geglückt. Besonders schwer leide ich noch heute unter der Unmöglichkeit, solche Kleinodien wie Sendung und Slowenischer Leierkasten ins Englische herrüberzuretten, um nur zwei meiner besonderen 269 Lieblinge zu nennen. Mit dem großen kleinen Wunder, An eine Falte habe ich mich mit Unterbrechungen jahrelang abgeplagt, bis es plötzlich eines Tages ganz unverhofft gleichsam vor mir stand. Es war fast, als ob es mich bitten wollte, es jetzt endlich zu beherbergen! Das geschah vor 3 oder 4 Jahren. In ein paar Stunden war dann die erste Niederschrift fertig. (Jugend und Todesfurcht konnte ich erst im Sommer '36, im Spätsommer) "irgendwie" nachdichten. Die Arbeit an diesen Gedichten, die tage- und nächtelang dauerte, war wie eine Erlösung—wochenlang war ich ganz benommen und zermalmt gewesen, physisch und geistig wie gelähmt unter dem Eindruck der plötzlichen, ganz unerwarteten Todesnachricht. Auf einmal kam mir die Eingebung: Jetzt endlich wirst du! jetzt endlich werden sie Dirl). . . Erzwingen läßt sich da nichts. Man muß eben immer so lange warten, bis sich einem ein Gedicht sozusagen von selbst ergibt. Das habe ich erst nach bitterer Erfahrung gelernt: Meine Originalsammlung der englischen Worte in Versen, erschienen [1931], wäre höchstwahrscheinlich viel besser ausgefallen, hätte ich damals mehr Geduld gehabt; ich war aber bei der Arbeit so ganz Feuer und Flamme, daß die erste Niederschrift zwischen Frühjahr und Herbst 1927 fertig wurde. Freilich kam dann einiges nach, und ich arbeitete und feilte an dem Ganzen noch ein paar Jahre, bis es sich endlich immerhin sehen lassen konnte. . . . Die Melodie zur Ballade vom Papagei kenne ich leider nicht; ich habe sie nie vortragen gehört und auch nicht die Noten gesehen. * Gespräche sind entzückend. Daß es sich da um irgendeinen Scherz handeln mußte, war j a offenbar; Ihr Kommentar und das ungedruckte Akrostichon machen ihn jetzt viel deutlicher. * Als Bobby starb: Merke soeben, bei der Durchsicht des 2. Bandes, daß der kleine Woodie, gestorben Mai 1913, Ihnen nicht hätte gehören können, da Sie und K.K. sich erst im September dieses Jahres kennen lernten und er das Hündchen "persönlich kannte". Darauf machen Sie mich in einem seitdem angefangenen Brief selber aufmerksam. Als ich die Frage 270 stellte, war mir das Sterbedatum nicht gegenwärtig. . . . Sony! Übrigens die vielen, wiederholten Erwähnungen Bobbys in den Briefen! Wie er diesen geliebt haben muß! Es ist manches fast schöner als das Gedicht selbst—oder fast ebenso schön. (Was man allerdings von vielen Briefstellen, die sich auf andere Gedichte beziehen, auch sagen kann, und muß.) Briefstelle, 12. Nov. 15: hierüber sagen Sie, daß Ihre Bilder "links vom Schreibtisch" hängen. Ich besitze 8 große Photographien der Wohnung (lzt. von Dr. Jaray zugestellt), darunter 5, welche das Wohn- und Arbeitszimmer aus verschiedenen Winkeln zeigen—Sie werden natürlich auch Abzüge haben. Kann mich aber nicht entscheiden, welche Wand "links vom Schreibtisch" gemeint ist, da diese schräg neben der Bücherwand steht. Zudem sind die Bildnisse meistens so klein wiedergegeben, daß ich nur einige Porträts von K.K. nebst den Zeichnungen Kokoschkas und die Bilder der [Anny] Kalmars agnoszieren kann. Außerdem weiß ich ja nicht einmal, wie Sie damals eigentlich ausgesehen haben, da die paar Amateuraufhahmen, welche ich durch Ihre Liebenswürdigkeit hier habe, nicht allzu aufschlußreich sind. Links vom Schreibtisch also rechts vom Betrachter—ist aber ein Divan, weiter links die Wand mit der Doppeltür zum Schlafzimmer, neben dieser hängt ein großer Spiegel, worunter ein Empire Console-Tischchen; auf diesem stehen,, unmittelbar darüber (also unter dem Spiegel) hängen Photographien. Der Brief vom 12. November 1915 besagt, daß Ihre Bilder an der Wand hängen: aber unter dem Spiegel, links vom Schreibtisch hängen fünf Bilder verschiedener Damen (alle anscheinend im Bühnenkostüm). Viel weiter nach vorn aber, an derselben Wand (gegen [dem] Fenster zu) hängen unter der eigenartig eingerahmten Uhr drei Damenportraits in einem Rahmen nebeneinander zusammengefaßt. Soweit als sich Kleidung und Hut erkennen lassen, könnte man auf die damalige Mode schließen. Auch die graziöse, stolze Haltung, namentlich des Mittelbildes—insofern als sich an diesen winzigen Wiedergaben überhaupt so etwas wie Bewegung feststellen läßt —, scheint doch irgendwie an die Aufnahmen mit dem Auto zu erinnern. Alles, was ich über die Bilder an den Wänden, über die Möbel und die Disposition derselben erfahen könnte, wäre mir nun sehr wichtig, und ich 271 wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir gelegentlich, was Ihnen dazu einfällt, mitteilen wollten. Auch muß ich daran denken, das nächste mal in New York, wenn ich im Sommer wieder mit Dr. Samek zusammentreffe, diese Wohnungsphotographien mit ihm zu besprechen. * * * * 1. Februar 1948 (Nächstens weitere Notizen) 272 Dieses und das folgende Vorwort habe ich seinerzeit, kurz nach Für S.N. dem Tode K.K., den Nachdichtungen von Jugend und Todesfurcht AB beigelegt, als Abschriften der englischen Fassungen an Wiener und andere Bekannte[n] u. Freunde gesandt wurden. Zu Jugend Eine gewisse Betäubung des Schmerzes dieser trüben Tage gewährte der neuerliche Versuch, den allerholdseligsten lyrischen Erguss meines dahingegangenen geliebten Meisters in meiner Muttersprache nachzugestalten. Eine Übersetzung konnte es nicht sein, nicht allein weil das deutsche Wort bei Karl Kraus schlechthin die Unübersetzbarkeit erlangt hat, sondern vielmehr weil im vorliegenden Falle Rhythmus und Reimfügung jedes Sichvergreifen in Absicht einer "Übersetzung" zum Missraten von vornherein bestimmen. So durfte hier nur angestrebt werden, durch gewissenhafteste Adäquation, nicht des Wortmaterials, doch durchwegs der geistigen Elemente in Atmosphäre und Stimmung, eine möglichst genaue Approximierung im Englischen zu erreichen. Nicht konnte also beabsichtigt sein, jede oder auch nur manche Nuance im Ausdruck des Originals dem Genius der anderen Sprache anzubequemen; das mochte nur hie und da in jenen seltenen Fällen scheinbar glücken, aber niemals "gelingen" als Folge einer bewussten Mühe, wo der Geist der beiden Sprachen ein gemeinsamer ist. Die Hauptschwierigkeit lag darum nicht so sehr in dem Mangel an englischen Wörtern und Wendungen, welche sich mit dem Deutschen ohne weiteres begrifflich decken, nicht einmal in dem peinlichen Vermeiden offenbarer aber vager Umschreibungen, und gewiss nicht in dem ebenso schmerzlichen wie unumgänglichen Verzicht auf die Übernahme von Begriffen, die dem Leser des Englischen fremd bleiben müssen, wie das uns allen so liebgewordenen "Weidlingau", oder den Wolterschrei und Sonnenthals Thräne; und selbst die Notwendigkeit, zugunsten des Verständnisses Uneingeweihter, dem polemischen Ton mancher Strophe, die auf die Sonderstellung des Dichters hindeutet, das mehr oder weniger spezifisch Anspielende zu nehmen, werden gewiss jene Eingeweihten zu würdigen wissen, die meinem Wagnis auch sonst nachsichtiges 273 Wohlwollen entgegenbringen. Nein, die wohl unüberwindliche Schwierigkeit einer Verenglischung liegt hier einzig in dem hartnäckigen Widerstand der erwähnten organischen Elemente des Reims und des Rhythmus. Ein derartig traumhaft schwebender, verfliegender Rhythmus wie der in Jugend — wohl auch in anderen deutschen Gedichten — ist mir in englischer Lyrik nicht bekannt, und die Notwendigkeit, ihn beizubehalten, von ihm nirgends auch im geringsten abzuweichen, ihn Vers für Vers, ja oft fast Wort für Wort nachzubilden, schuf bei den früheren, immer missglückten Versuchen, ein im Englischen bishin ungeahntes, noch heute ungelöstes Sprachproblem. Und vollends der Reimzwang, d.h. der hier so eigenartige, die sonst gewohnte Wechselfügung des Femininen und Maskulinen so erfolgen zu lassen, dass nirgends das zarte Gebilde angetastet erscheine, wenn anders der sich so hold auswiegende Gedankenhauch und -klang nicht hoffnungslos lädiert und völlig entstellt werden sollte. Dass mir dies nunmehr in allen Stücken gelungen sei, darf ich nicht hoffen, ja ich könnte auf ein paar Stellen, mit der Bitte um besondere Nachsicht hinweisen, wo es, mir vollkommen bewusst, nicht der Fall ist, und will nur zu meiner Entschuldigung andeuten, dass solch gelegentliche Abweichung jeweils geboten war und von dem Geist der Strophe selbst begünstigt, um noch empfindlicherem Verlust vorzubeugen. Auf eine Veröffentlichung hat es der Nachbildner nicht abgesehen, vor allen Dingen nicht in den sogenannten literarischen Zeitschriften hier zuhause, wo ihn seine Landsleute, insoweit sie seiner gewahr sind, längst und mit Recht als einen rückständig Unzeitgemässen betrachten, und dessen künstlerisches Schaffen infolgedessen zum grössten und beträchtlichsten Teile höchstens als Nachlass eines Tages bekannt werden könnte. Deshalb will er die paar Menschen ersuchen, an die er eine Abschrift wird senden lassen und die alle den lichten Geist Karl Kraus und sein Lebenswerk lieben, falls ihnen das englische Gedicht nicht ganz missraten erscheint, weitere Abschriften solchen Bekannten zur Verfügung zu stellen, die den Versuch zu beurteilen und zu würdigen imstande sind. Spätsommer 1936 *oder seinem Gedächtnis entfallen. 274 Zu Todesfurcht Der Verfasser folgender Nachdichtung nimmt an, dass der mit der englischen Sprache vertraute Leser, dem das Original so gegenwärtig ist wie ihm selbst, schon wissen wird, dass das Englische, anders als das Deutsche, nicht überreich ist an weiblichen Reimwörtern, die sich zwanglos und ohne Künstelei einfügen lassen, und er will hoffen, dass die Notwendigkeit, in dem vorliegenden Versuch, alle Reime männlich zu gestalten, verstanden und gebilligt werde, trotz der scheinbaren Einbusse an rhythmischer Treue, welche bewirkt, dass durch den katalektischen Charakter des resultierenden Trochäus zwischen den Versen gleichsam eine Zäsur entsteht, die, wohl nur beim ersten Lesen, den ominös-gravitätischen Gang des Ganzen jeweils eine kurze Atemlänge aufhält. Auch hier, wie bei dem neulich unternommenen Versuch, konnte es dem Nachdichter nicht um eine Übersetzung im eigentlichen Sinne zu tun sein, und wo stellenweise eine geglückt scheint, ist es, wie immer in solchen Fällen, nur dem Umstand zu danken, dass sich die beiden Sprachen manchmal überraschend nähern. Im übrigen aber dürfte ersichtlich sein, dass sich Stimmung und Gefühl, Gehalt und Sinn, Sphäre und Atmosphäre des Originals unter nicht allzu grossem Widerstand ins Englische übernehmen lassen. Herbst 1936 Mir gefallt diese Prosa nicht; hat mir eigentlich nie gefallen. Sie scheint mir zu "gestelzt" — wohl eine Folge der Schwierigkeit, das zu sagen, was zu sagen war. Im Englischen wäre es gewiß leichter gegangen. 275 Fortsetzung der Notizen [II. Forsetzung der Anmerkungen] Sehnsucht: Wie schade, daß es unmöglich war, für meine Nachbildung das umgekehrte Akrostichon zu retten! Und wie schön ist diese Umbildung des Namens—fast so schön wie der Name selbst! Nur der leise Anklang an "Einöde" beunruhigt ein wenig, was aber, wie ich nachträglich durch eine spätere Briefstelle aufmerksam gemacht wurde, von der Ähnlichkeit mit "Kleinod" aufgehoben wird. . . . Wie sehr ich die Weglassung dieses Gedichtes aus jenen "ausgewählten Gedichten" von 1939 auch öffentlich beklagte und bemängelte, bezeugt folgendes Zitat aus meiner Besprechung in einer amerikanischen Quartalsschrift für europäische Literatur: ". . . why, since this selection purports to be representative of the purely lyrical aspect of this incomparable lyrist, such a bijou gem (also Kleinodl Sehen Sie?) as Sehnsucht, with its inverted acrostic and its seven lines of heartbreak—each a cry from the depths, as though they had been another Seven Last Words —, should have been left out, is incomprehensible.".. . Übrigens stehe ich jener Sammlung seit einigen Jahren viel kühler gegenüber als zur Zeit ihrer Erscheinung. Nach und nach ward mir klar, nicht nur, daß viele von den rein lyrischen Gedichten fehlen, sondern daß die Sammlung überhaupt keine "rein lyrische" ist, daß K.K., wenn er seinen angeblichen Plan selbst hätte durchfuhren können, manches weggelassen und vieles andere aufgenommen hätte. Auch glaube ich kaum, daß Liegler für die Auswahl verantwortlich gehalten werden kann, vielmehr, daß er damit wenig zu tun gehabt haben dürfte. Er war ja in Wien, und soll lediglich das Nachwort beigesteuert haben, wofür, wie Frau Kann behauptet, er eine Bezahlung erhielt. Es war von Anfang an ihr Unternehmen; und bei Aufnahme oder Weglassung von einzelnen Gedichten hätte sie sich höchstwahrscheinlich jeden Einwand verbeten. Schäfers Abschied: Beim Erstdruck dieses niederschmetternden Gedichtes in der Fackel war es ohne weiteres klar, daß ursprünglich jede, oder fast jede Strophe ein Akrostichon gebildet hatte, und überall war leicht festzustellen, wo die Verse—oft zum großen Vorteil der Strophe, wie ich mm erst gewahr werde—geändert wurden. 276 Bis jetzt war mir Auferstehung ein kleines Wunder der Lyrik. Nun, da ich es endlich ganz erfasse, ist es noch schöner—vollkommen hell und klar geworden. Dasselbe gilt für den Slowenischen Leierkasten. * Die zweite Verwandlung zu lesen, war mir immer eine Qual, trotz aller Herrlichkeit. Und noch heute ist mir der Schmerz, unter dem ich das große Gedicht nachbildete, gegenwärtig. * Die Briefzitate aus dieser Zeit sind erschütternd, weiß Gott; ändern aber um keine Silbe meine in jenem langen Schreiben von Mitte Januar ausgesprochene Überzeugung. (Übrigens merkt man beim genaueren Studium der Stellen, daß K.K. ganz dieselben Gedanken zum Ausdruck brachte, nur unvergleichlich schöner.) Die Büßerin, S. 11, IV., bleibt noch immer etwas dunkel. Umsomehr als es in Ihrem Verzeichnis nicht vermerkt ist. Das gilt auch für Du bist so sonderbar in Eins gefugt, wenngleich hier im Gegenständlichen alles klar ist. Traum: Von den "Traumgedichten" fast das allerschönste! Als ein Stern fiel: warum ich dieses Gedicht und nicht Die Verlassenen—welches doch ebenso schön und noch dazu "einfacher" ist (aber weniger herzzerreißend)—irgendwie nachbilden konnte, ist mir bis heute eine ebenso unlösbares Rätsel geblieben wie die meisten der "Rätselgedichte". Brief: "15./16. Februar 21": Eben um diese Zeit war ich das letzte mal in Wien—jetzt gerade 27 Jahre her. Es fanden während meiner ungefähr dreiwöchigen Anwesenheit leider nur 3 Vorlesungen statt, dann mußte ich wieder abreisen. Es galt jetzt, oder vielleicht nie wieder, Karl Kraus lesen zu hören, denn ich stand vor der endgültigen Rückkunft in die Heimat. Was war das damals für eine endlose Leidensfahrt von München nach Wien! Als aber der entsetzliche Bummelzug durch den unter Schnee liegenden Wienerwald fuhr und bei einer Station anhielt, welche die Ortsbezeichnung Weidlingau auf der ausgehängten Tafel 277 zeigte, da ging mir wieder das Herz auf. Die ganze Nacht und einen halben Tag schlaflos von Salzburg unterwegs, woselbst man zwei Tage und Nächte auf einen Wiener Zug warten mußte—es war noch während der allerschlimmsten Nachkriegszeit —, kam man an einem Sonntag, mittags, in Wien an, stieg in dem erstbesten Hotel in der Mariahilferstraße ab, nahm rasch einen Bissen zu sich und rannte buchstäblich die ganze Mariahilferstraße entlang, bis zum Konzert-Haus, wo damals eine Zeitlang immer an Sonntagnachmittagen die Vorträge abgehalten wurden. Alles ausverkauft; aber nach bedenkenloser Bestechung eines Saaldieners wurde mir ein noch leerer Platz auf dem Balkon angewiesen. • Wer der Redner der zwei Gedichte im V. Band, S. 27, war, ahne ich natürlich nicht. Darf man es vielleicht erfahren? Zu den Gedichten und Zitaten aus den Briefen zum 6. Band fallt einem viel ein, das man nicht sagen will, aber auch nicht kann. (Was ebenso für jene zum 8. Band gilt.) Indessen möchte ich mir die Frage erlauben: Wer war Else Cleff, [dessen] Andenken das unheimlich schöne Gedicht Geheimnis gewidmet ist? Zu Der Gärtnerin und Immergrün: Von diesen Gedichten habe ich eigentlich zwei Abschriften: die eine mit Feder, die andere mit Maschine geschrieben. Man sagte mir damals (1939), es seien noch nicht ganz ausgearbeitete "Entwürfe", und die Originalmanuskripte befanden sich im Besitze der Frau Kann. Das hat diese, wie ich jetzt weiß, entweder meinem Informanten aufgebunden, oder er hat sie gutgläubig mißverstanden (oder aber es möglicherweise bloß angenommen, da Frau K. die eine Abschrift privatim weitergegeben hat—vielleicht sogar mehrere). In meiner Abschrift, nun, steht im 2. Vers des Gedichtes Der Gärtnerin statt liebend Auge, "liebes"; und im letzten statt Throne, "Träne". Ich nehme ohne weiteres an, daß "liebes" und "Träne" Schreibfehler sind, und zwar wahrscheinlich des Überbringers und nicht der Frau K. Dagegen in Ihrer Mitteilung von Immergrün steht (2. Vers, 1. Strophe) das Wort "spätre", während es in der mir früher zugekommenen Fassung spätrer lautet; und hier bin ich 278 gezwungen, einen Schreibfehler von Ihnen zu vermuten; oder aber ich verstehe den Vers in Ihrer Fassung nicht.—Für eine Äußerung hierüber wäre ich dankbar. Periwinkle haben wir übrigens auf der kleinen Terasse vor meinem Hause, statt Gras, welches in diesem spröden Boden nicht sehr gut gedeiht, vor Jahren gesät; und es wächst sehr dicht und üppig. An dieser Stelle ist es mir viel lieber als Gras. Wunderschön, wie im Frühling das sanfte, satte Dunkelgrün der Blättchen von den blauen Blüten scheu durchleuchtet wird! Dahinter Gesträuche von Spierstaude (Spiraea); daneben im Seitengarten ein fast baumhoher Dschungel von Flieder- und Forsythiabüschen. Wie Forsythia auf Deutsch heißt, weiß ich nicht; man versichert aber, daß sie im Wiener Volksgarten oder Stadtpark wachsen, so dürfte sie auch Ihnen, mit ihren leuchtend gelben Blüten bekannt sein. Die Farbe ist der des Goldregens [(Laburnum)] ähnlich, nur nicht ganz so s a t t . . . . Mein Haus ist eigentlich nur ein Häuschen von 8 Zimmern mit Zubehör, und das Grundstück selbst nur klein. Aber davor steht eine schöne Ulme und dahinter eine noch schönere, ganz mächtige. Im Frühjahr und im Herbst ist es hier oft sehr lieblich, der Sommer vor seiner Höllenhitze nicht auszuhalten, weshalb wir immer wegmüssen, und der Winter—wie der heurige—ist manchmal verdammt unangenehm. Es ist mir sonst manches zu den ersten 24 Blättern der Abschriften eingefallen, insbesondere zu den allerletzten, welche die letzte Krankheit und den Tod betrafen; doch schreibe ich es lieber nicht hin. Heute vor einem Jahr, den 9. Februar, schleppte man mich todkrank ins Spital. Aber nach Erholung von dem dritten, schlimmsten Anfall, fühlte ich mich plötzlich wieder ganz wohl und frei von Schmerzen, sodaß ich an den Ernst des Zustandes überhaupt nicht glauben wollte.—Brief baldmöglichst. Bis dahin alles Gute. 279 Lawrence, den 11. Februar 1948 Gütige gnädige Frau—verehrte theure Freundin! Nun kehre ich endlich zu Ihrem schönen Brief vom 26. Januar zurück, um einiges nachzuholen. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt aber auch das liebe Schreiben vom 5./6. Februar, welches gestern eintraf. Für dieses wie für die schöne Aufnahme (Schweiz 1915) meinen ganz besonderen Dank. Auch für den Ausschnitt, der hier wieder beiliegt, aus dem New Yorker Bookman, verfaßt von einem A. v. Ende, abgedruckt in der Fackel Nr. 389/90, 15. Dezember 1913, S. 26. Sie gestatten wohl, daß ich die anderen Photos (von Ihnen mit den Hunden) noch einige Tage hier behalte? . . . Was immer Sie sich bei der Übersendung von solchen Bildern denken—und mir fehlt dafür keineswegs das Verständnis —, mir ist es wichtig, daß ich Sie darauf mit Ihren Hunden vor Augen habe: daß Sie sein Ich waren und bleiben, daß es auch seine Hunde waren, ist nur selbstverständlich. Von dem letzten, noch unveröffentlichten, unbetitelten Werke, welches man jetzt Die dritte Walpurgisnacht nennt, besitze ich (von Samek) seit 1939 eine Abschrift. Seinerzeit erwog Samek ernstlich die Möglichkeit und die Ratsamkeit, es hier erscheinen zu lassen (während des Krieges); ich aber riet sehr entschieden ab. Abgesehen von allen technischen wie materiellen Schwierigkeiten, wäre das Werk in diesem Land eine Totgeburt gewesen: Eine Möglichkeit, das gedruckte Buch nach den deutschen Gebieten Europas zu versenden, gab es nicht, und hier hätten sich für die Absendung höchstens ein paar hundert Deutschlesende Menschen interessiert. Es wäre nur vergebliche Mühe und hinausgeworfenes Geld gewesen. Und was das amerikanische Publikum angeht: für Karl Kraus dürfte hier ein richtiges Publikum, selbst ein beschränkter Leserkreis kaum jemals heranreifen. Ich bat Samek, lieber abzuwarten, bis sich in Europa eines Tages die Möglichkeit wieder ergeben würde, wovon ich selbst in der schwärzesten Zeit der deutschen Kriegserfolge überzeugt blieb. . . .Und so kann ich leider auch Ihre Ansicht nicht teilen, daß Amerika, diese Vereinigten Staaten, für die Gesamtausgabe ein günstigeres oder in irgendwelcher Hinsicht ein würdigerer Erscheinungsort wäre als Wien. Was immer man dagegen einwende: Das Gesamtwerk Karl Kraus9 ist in Wien zuständig; freilich müßte alles daran gesetzt werden, es den Händen 280 Unbefugter, wie dem Matejka-Kreis zu entwinden. Wie das zu bewerkstelligen wäre, weiß ich leider nicht; doch da wüßte vielleicht Samek Rat—wenn er nur den H. Fischer abfinden könnte (dem Jaray, glaube ich, hat er bereits seine Rechte abgekauft). Das große Unglück scheint lediglich zu sein, daß Karl Kraus nur Aufzeichnungen zu einem Testament hinterlassen haben soll—eine Art von skizzenhaften Notizen, welche z.B. hier kaum Rechtskraft erlangt hätten —, und das natürliche Resultat war von allem Anfang an ein Mißverständnis nach dem anderen. Daß, bis auf Dr. Samek, sämtliche Beteiligten unfähig, unzuverlässig, oder einfach gewinnsüchtig waren, verwickelte die Sache nur noch mehr. Samek tut was er kann; aber durch noch so energisches Briefeschreiben dürfte leider wenig zu erreichen sein. Seine großmütigen materiellen Opfer wie sein völlig uneigennütziges Eintreten für die Sache Karl Kraus werden Ihnen ja längst bekannt sein. Leider geht es ihm hier bloß verhältnismäßig gut; er hat, wie Sie wissen dürften, fast sein ganzes Vermögen— und es war j a kein sehr großes—in Östereich zurücklassen müssen, und mir scheint es sehr zweifelhaft, ob auch nur ein Teilchen dessen für ihn noch zu retten wäre. Hier hat er im Moment gerade genug, um immerhin anständig, aber doch nur sehr bescheiden leben zu können. Also für "Extratouren" reichts keineswegs. Sonst, wie ich zuversichtlich vermute, wäre er längst in Wien und hätte den Matejka Leuten jeden Gusto auf weitere Ruhmesstreberei ausgetrieben, ihnen alles Material entrissen und für eine anständige und würdige Gesamtausgabe selber die Sorge getroffen—trotz aller Unruhe der Zeit. Gnädige Frau! Sie dürfen nie befürchten, daß irgend etwas, was Sie zu schreiben oder zu senden für gut befinden, in mir den Argwohn erwecken könnte (und es sollte ihn auch in Ihnen nicht erwecken!), als wollten Sie—auch unbewußt—sich mit einem falschen Schein umgeben. In meiner Vorstellung sind sie seit so vielen Jahren von einem Heiligenschein, einer Aura, von einem Duft umgeben: unverlierbar, unantastbar: dazu haben Sie mit Bewußtsein nicht das Geringste beigetragen, nichts dazu getan (hätten es auch nicht können, auch nicht wollen können); es liegt in Ihrem Wesen und in Ihrem Wert für Karl Kraus. Und dieses Wesen, diesen Wert, haben sich ganz von selbst allen mitgeteilt, die ihn lieben, ob sie sonst eine oder keine Ahnung haben von der konkreten Person, die jene lyrischen Herrlichkeiten hervorgerufen hat. Und allein aus Ihren gütigen und offenherzigen Briefen müßte der Empfanger und andächtige Leser die Schreiberin bereits so weit kennen, daß für 281 ihn so etwas überhaupt nicht in Frage kommen kann. Also soll "Cordelia" nicht schweigen! Sie soll nur immerzu von sich reden; auch das ist mir höchst wichtig: weiß sie denn nicht, wie sie dadurch auch ihn mir näher bringt? Daß Ihnen das Gedicht, "Before his Deathmask" so viel sagt und gibt, ist mir Trost und Freude. Sie haben recht: ich habe es "auf den Knien" geschrieben. Sicherlich werden Sie auch erkannt haben, daß sich die sechs gereimten Schlußverse auf den Schluß des Sterbenden Menschen beziehen? . . . Erschütternd war mir Ihre Mitteilung, daß man ihn bei der Bestattungsfeier aufgebahrt hatte. Wer hat das angeordnet, und zugelassen? Daß ihm diese letzte irdische Barbarei nicht erspart bleiben konnte! (Schon vor Jahren habe ich schriftlich verfugt, daß Ähnliches in meinem Fall nicht zu geschehen hat. Man sollte meinen, daß das heutzutage eine Selbstverständlichkeit wäre!) Von der Beisetzung hat man mir wenig erzählt, und ich unterließ es, mich zu erkundigen. Nur seine Nichte erwähnte einmal (ziemlich geringschätzig) das Benehmen, vielmehr das Gehaben der Frau H.K. beim Begräbnis, im Kontrast zu Ihrer ruhigen, unauffälligen, vornehmen Haltung. Von der Frau K. wußte ich damals kaum mehr, als daß es sie gab; aber da spürte ich schon ein leises Mißtrauen. Mir gegenüber hat sie sich übrigens stets sehr freundlich gezeigt, unterließ es aber nicht, als sie erfuhr (von wem, weiß ich nicht mehr), daß mein Gedichtband mit neuen Übersetzungen aus 'Worten in Versen " erscheinen sollte, mich wissen zu lassen, daß sie mit mir über die zu erwartenden Tantiemen korrespondieren wollel Ist das vielleicht nicht typisch! Ich lag damals im Krankenhaus und ließ durch einen Freund abwinken. Seitdem höre ich nichts von ihr—ja doch: einmal schrieb sie mir und ersuchte mich, die Bestrebungen jener "K.K. Gesellschaft" zu unterstützen. Wenn ich überhaupt geantwortet habe oder antworten ließ, war es jedenfalls nur, um wieder abzuwinken. Daß Werfel jemals im Schützengraben war, vernehme ich zum ersten mal. Ich dachte immer, er sei während des ganzen Krieges im Pressequartier gewesen. Daß er von Frz. Janowitz beeinflußt war, entnahm ich mancher Anspielung in der Fackel;—aber selbst jetzt fällt es mir schwer, ihm einen so krassen Diebstahl zuzutrauen. Und wie kommt es, wenn es Karl Kraus gewußt hat (was ich freilich bloß annehme, weil Sie es wissen), daß er davon nicht öffentlich gesprochen hat? . . . Weder von Werfel, noch von Rilke oder Hoffmannsthal 282 habe ich j e etwas gehalten—d.h. als Dichter, wiewohl R. und H. menschlich jedenfalls viel höher standen als W., und Hoffmannsthal immerhin einen mustergültigen Text zu der Strauß'sehen Elektra geschrieben hat, allerdings fast Wort für Wort dem griechischen Original des Sophokles entlehnt, aber immer noch eine Achtung gebietende Leistung. Von Frau Lichnowskys nächstem Buch, Worte über Wörter habe ich bereits irgendwo gelesen oder gehört. Ich hoffe, nach seinem Erscheinen, es zu erhalten; und daß Mechtilde Lichnowsky darin ihren unentwegten Gebrauch der Wendung "nach Rückwärts" (selbst in Sybaris), die ich jedesmal als äußerst störend empfinde, aufklärend besprechen wird. Gewiß, ein süddeutscher Lokalismus, über welchen man in Gesprächen oder Briefen gern nachsichtig hinweghört oder -liest, welchem man aber in einem Werk gerade dieser Autorin immer ungern begegnet. Fragen Sie nur ruhig bei Dr. Samek an, was es mit den zwei nachgelassenen Gedichten für eine Bewandtnis hat. Ich habe mit ihm darüber nie gesprochen, ahne auch nicht, ob er weiß, daß sich Abschriften bei mir befinden, halte es aber für möglich, und für sehr wahrscheinlich, daß er sie selbst besitzt. Erst kürzlich erfuhr ich von einem großen Freund der Fackel, der vor Jahren (auch im Brenner) manches sehr Wertvolle über Karl Kraus veröffentlicht hat, daß er Abschriften dieser Gedichte erhalten habe. Daß er vor dem Kriege mit Frau K. und auch mit der Germaine Goblot in Briefverkehr stand, weiß ich. Wie aber jene in den Besitz der Gedichte gelangt war, scheint ja leicht zu erklären. Wenn es auch sehr unwahrscheinlich ist, daß Frau K. direkt von K.K. eigenhändige Abschriften der zwei Gedichte erhalten hatte, so ist es doch jedenfalls sicher, daß er für sich selber Abschriften behalten haben wird, die sich nach seinem Hingang in dem Nachlaß befanden; und Frau Kann war, wenn ich richtig informiert bin, von den literarischen Testamentsvollstreckern (Jaray und Fischer) als Verwalterin des Karl Kraus Archivs eingesetzt—und alles weitere wird sich von selbst ergeben haben. Gerechterweise muß ich hinzufügen, daß mir kein Fall bekannt geworden ist, in welchem Frau K. Abschriften der Gedichte einem Unwürdigen ausgehändigt hätte, was natürlich die Tatsache an sich weder rechtfertigen noch entschuldigen soll. Der Bruch mit Liegler ist mir verschiedentlich erklärt worden Liegler selbst soll es gewesen sein, der verärgert war, als die äußerst schonende Kritik (welche sich wie ein gütliches 283 Zureden anläßt) seiner Nestroy-Ausgabe in der Fackel erschien. Der persönliche Kontakt soll aber bereits früher— aus anderem Anlaß, allerdings aber von Karl Kraus selbst abgebrochen—aufgehört haben. Wenn Sie aber sagen, die Nestroy-Ausgabe sei die Ursache gewesen, so wird das wohl stimmen müssen, es sei denn, daß Sie Ihr Gedächtnis hier im Stich läßt (was ja vorkommen kann, wie ich selbst nur zu gut weiß). Denn wenn Sie jene Facfe/stelle wieder lesen—in welchem Heft die Kritik erschien, könnte ich im Augenblick ohne längeres Nachsuchen nicht angeben; sie besteht aber aus einer ziemlich langen Fußnote —, wenn Sie diese also einmal wieder nachlesen wollten, würde Ihnen gleich, bei aller Schärfe und Logik des Einwandes, vor allem dessen milder, freundlicher, ja achtungsvoller Ton auffallen; und gerade dieser war es, der mich ohne weiteres glauben ließ, daß die Nestroy-Sache nicht schuld an dem Bruch war. (Karl Kraus, hieß es, habe den persönlichen Verkehr mit L. aufgeben müssen, weil dieser eine Dummheit—aber keine Unsauberkeit—beging, die K.K. persönlich berührte.) Liegler, trotz aller seiner Fähigkeit für sprachliches Mit- und Nachempfinden, hat offenbar doch zu wenig Proportionssinn (also Humor und Taktgefühl), um solche Absurditäten, wie sie in seinem "Nestroy" vorkommen, zu vermeiden; und da er, wie alle Menschen, auch sonst taube und blinde Stellen hat, leuchtete ihm das Absurdum nicht ein, noch konnte er es hören, selbst als es ihm sein Abgott vor Augen und Ohren hielt; im Gegenteil, da er schon früher einer Dummheit sich schuldig gemacht haben soll, die ihm den Verkehr mit Karl Kraus kostete, so beging er nun eine weitere und ließ sich wegen einer auffallend wohlwollende[] Kritik außer Rand und Band bringen. (Und selbst nach dem Tode Karl Kraus' hatte ihm Liegler nicht ganz verziehen— weder die Abschüttlung noch die Kritik. Lesen Sie nur seinen Ravag-NachruJ'wieder einmal: zwischen den Zeilen, zwischen den Worten, knurrt noch hie und da der Groll!) Ich nehme Sie immer ernst, auch wenn Sie lächeln—vielleicht gerade dann! Und ich lege nichts in Sie hinein: was ich heraushöre und in Ihnen sehe, ist da. Auch inkliniere ich längst nicht mehr dazu, auf Menschen hereinzufallen, am allerwenigsten, wenn sie keine Fallen legen; denn die es tun, verraten sich als das, was sie sind, noch ehe sie auf den Gedanken kommen, zu täuschen. Solche müssen das gar nicht erst wollen; sie können dawider nichts und nichts dafür: es ist eine Reflexhandlung, und sie werden durchschaut, bevor sie selbst wissen, daß es da etwas zu durchschauen gibt; wissen es oft ihr Lebtag nicht. Es sind die 284 gefährlichsten von allen Lügnern, aber durchtrieben sind sie nicht—bloß dumm, und oft sogar bedauernswert. So; das wäre jetzt hoffentlich klar! Nur eines noch: "Er will nicht, daß Du weinsf'\ Und er will nicht, daß Sie sich so allein, so vereinsamt und verarmt fühlen. Sie sind es doch eigentlich nicht, jedenfalls nicht so sehr wie Sie wähnen—Sie werden ja geliebt: von allen, die ihn aufrichtig liebten und richtig verstanden; von allen, die Ohren, zu hören, und Augen, zu weinen haben; von allen, denen sein Wunderwort Sie lieben lehrte. Wollte Gott, daß Ihnen dieses Bewußtsein einen ganz kleinen Trost bieten könnte! Daß ich irgend helfen könnte, will ich mir gar nicht erst einbilden. Und nun sind endlich die sechs früheren Bilder hier. Innigsten Dank! (Und gut verstehe ich jetzt—erst jetzt—die Verse, An eine Falte . . . "So wird es leicht und licht/z/* diesem klaren Angesichte Und um wieviel besser—so glaube ich wenigstens—wären mir die Nachbildungen der Gedichte geglückt, hätte ich nur schon von Ihnen die Photographien gekannt!) Wenn ich die früheren mit den späteren Aufnahmen (1938-39) vergleiche, so kann ich nicht finden, daß Sie sich im Grunde eigentlich verändert hätten. Am liebsten unter den älteren sind mir vielleicht die aus den Jahren 1912 und 1918; die zeigen mir ein Wesen so gar nicht von dieser Welt; ein so durchgeistigtes Antlitz, (auch freut es mich, daß ich die drei auf der Wand des Arbeitszimmers richtig identifiziert habe) . . . Leider muß ich wieder feststellen, daß die drei größeren Bilder an den Rändern etwas zerknittert ankamen und an den Ecken ein wenig zerrissen sind. Ich habe immer gefunden, daß es sich empfiehlt, Photographien in ganz steifen, festen Schutzdeckeln, als Unter- und Überlagen, zu verpacken. . . . Im Laufe der nächsten Woche oder zehn Tage sollen alle zurückverlangten Bilder an Sie wieder abgehen. Dieser Brief wurde am 11. angefangen, mußte aber in Raten fertiggeschrieben werden. Es kam immer wieder etwas dazwischen, Unterbrechungen dieser und jener Art. Und er ist leider wieder so lang geworden: beim Schreiben fallt einem immer so viel ein, was man zu 285 sagen ursprünglich gar nicht vorhatte. Und so haben wir heute bereits Montag, den 16., nachts. Ich bitte—wie stets—um Ihre gütige Nachsicht. Mit wiederholtem aufrichtigen Dank und den herzlichsten Grüssen, in Ergebenheit Ihr Albert Bloch 17. Februar '48 My very dear friend — A line in great haste, to let you know that your wonderful letter of the night of the 10th-l 1th (writing until 5 o'clock in the morning, good God!) reached me today, and I thank you for it with all my heart—as also for the two delightful little pieces of verse (the Didi & the Maymay). Strange! I always had the idea that K.K. drank nothing but water (or coffee). The cigarettes have been attended to and will be posted tomorrow, though the Lord only knows when you will get them—ordinary post or parcels-post between here and the Continent (or even England, apparently) seems to require a brief eternity nowadays . . . .Yes, I am poor—poorer now than ever, of course, with my annual fixed income cut to less than half, constantly rising expenses, etc. —, aber für die paar Zigaretten wirds wohl noch reichen! Also wohl bekomm's! (How often will you need a new supply? Please let me know.) My dear, I did not ask for thicker, heavier envelopes. It was a suggestion only, for the sake of the safe arrival of the typed excerpts from his letters and the security of pictures you might send in future, which you would wish to have returned. . . . I 'm so dreadfully sorry that postage has become a problem to you. If only they would permit payment of postage on this side, upon arrival!—but they won't . Why not send letters and typescripts by ordinary letter-post hereafter?—It would mean a great delay of course, but no other suggestion occurs to me. 286 Presently I shall answer your generously long letter in detail—or at least in some detail. Meanwhile other correspondence has accumulated again, which I must not neglect too long; and moreover I should be getting on with my annotations of the letter—excerpts. All best wishes and kindest greetings. Faithfully, Albert Bloch III. Fortsetzimg der Anmerkungen zu den Brief stellen In reply to your question (or suggestion): It is often—in some respects—easier and more convenient to write in my own language, but since our correspondence was begun in German and—as I believe I have already remarked—I must not let my German grow rusty, I prefer (unless you prefer otherwise) to continue it so, except as, now and again, the mood comes over me to write in English. So far as these notes are concerned, however, English would be well-nigh impossible: reading your excerpts from the letters of Karl Kraus, my thinking must naturally be in their language, and an attempt to couch my comments in my native idiom would require a readjustment of mind, which, I fear, I should find a great hindrance to thought and its expression. . . . Your belief—expressed before you had seen any of them— that my notes on the letter-extracts are important (wichtig), I feel it impossible to share. I am sure they have no general significance at all; but that they seem (now that you have seen the first lot of them) to have a purely personal importance for you, is a great satisfaction & happiness to me, and that they seem neither to bore nor annoy you, as I had feared they might, relieves my mind. A.B. 20. February 1948 Zu Kokoschka: Hier stehe ich auf meinem eigentlichsten, eigensten Gebiet, denn die Malerei, die bildende Kunst ist j a mein Arbeitsfeld! (das hätten Sie vielleicht nie erfahren, 287 wenn Sie nicht auch die Äußerungen über den Maler K. abgeschrieben hätten—man will andere ja möglichst wenig mit "Personalien" belästigen.) . . . Vor vielen Jahren warf ich einmal einen Blick in die "Dichtungen" Kokoschkas, erkannte ihn aber sofort wieder ab. Damals galt mir der Maler noch als Genie—und daß ich von der Malerei viel mehr als von der Lyrik verstand (und verstehe), dürfen Sie mir wirklich glauben. Mein Verstehen ist aber Verständnis, und hat mit dem [ ] "Verstehen" des Fachmannes nichts gemein, wenngleich ich tatsächlich auch Fachmann b i n . . . . Auch hier, wie für alle Künste, hatte Karl Kraus die durchaus richtige Empfindung, da er den Wert der Zeichnungen zu den Gedichten anzweifelte (und jene zu der "Luxusausgabe" der Chinesischen Mauer sind nicht wertvoller). Aber die Anfänge des Malers Kokoschka hat K.K. doch anders und ebenso richtig eingeschätzt, wie manche Bemerkungen in der Vorkriegs/öcfe/ zur Genüge beweisen. Denn trotz aller Manieriertheit, trotz unverkennbarer Neigimg zur Hysterie, trotz allem Klimt- Einfluß und der Abfarbung der Wiener Werkstätte=Mode (Snobismus) auf seinen frühesten Malstil: trotz alledem war der junge Kokoschka ein so unerhört begabter, ein so begnadeter Künstler, daß man leider fast versucht wäre, zu bedauern, daß er nicht vor 1912 gestorben ist. Da könnte man seine Vorstellung von ihm viel reiner erhalten, und wenigstens tief betrübt um den allzu frühen Hingang eines so ungewöhnlich viel versprechenden Jünglings trauern.—Damit sei aber keineswegs auch nur angedeutet, daß Kokoschka seit 1912 nicht dann und wann Hervorragendes, sogar Großes produziert hätte. Insbesondere während des letzten Kriegsjahres und der ersten Dresdner Zeit hat er manches Bedeutende geschaffen. Er war inzwischen von der ursprünglichen, gleichwohl sehr interessanten Manieriertheit abgekommen und hatte sich aus der darauffolgenden Periode rein erotischer Verworrenheit (1912-14) glücklich gerettet, und mir wollte scheinen, als finge gerade damals die Zeit seiner eigentlichen Größe an. In den nächsten Jahren verlor ich ihn aus den Augen: das eigene Leben war zwischen 1919 und 1923 ein höchst unstetes und in vieler Hinsicht ein unglückliches geworden—bis ich plötzlich eine Reihe von Reproduktionen, teils farbige, nach seinen neuesten Bildern zu Gesicht bekam: Kokoschka war auf Wanderung gegangen, was ein Maler in seinem damaligen Alter nicht mehr hätte nötig haben sollen. Es waren Landschaften oder Stadtreduten Venedig, London, Tunis usw. mit eingestreuten Porträts; alles ganz schön, manches interessant, vieles außerordentlich "gekonnt", aber wesentlich 288 unbedeutend—keine Spur mehr von dem ehemals so begnadeten Jüngling, kein Rest mehr von jenem ersten einzigartigen, ureigenen Blick. Seither scheint es mit seiner Malerei rapid abwärts gegangen zu sein—ich habe Bilder von ihm gesehen, die einfach empörend sind, die mich vor Entsetzen beben ließen! "Er lallt wie ein Bauernjunge", schrieb Ihnen Karl Kraus von ihm; so lallen auch die Bilder, von denen ich jetzt sprach. Doch war sein Lallen im Gespräch wenigstens echt; dieses gemalte Lallen ist aber ein Gemachtes, eine vorgespielte Unbeholfenheit, eine Brutalität, eine Gefühllosigkeit, die ihm gar nicht eigen, die einfach Schwindel sind: er macht eine Mode mit—es sei denn, daß er nunmehr wirklich das geworden wäre, was die Kunstbanausen von Anno '08 von ihm behaupteten: Geistesgestört (ich glaub's aber nicht). Und wie schön, wie lyrisch-sensibel waren die Bilder seines Anfangs! Die Porträts (Prof. Forel, die [K ] , Loos, Peter Baum u.a. mehr), die vielen entzückenden Akt- und Porträtzeichnungen, jene einzigartige Landschaft: "Dent de Midi" und das ganz unglaubliche Stilleben mit dem geschlachteten Lämmchen! Nunmehr scheint mir die Eigenart ganz verschwunden—durch wie viele jähe[n] Wandlungen ist das einstige Genie gegangen, um schließlich ein bloß hochtalentierter Dutzendmaler zu werden ! Welche bittere Enttäuschhung, daß ein so großes Versprechen nicht Wort halten konnte! * Zu Loos und P.A. Fällt mir nicht viel ein. Was Kraus über jenen schreibt, überrascht mich, weil mir durch die Fackel eine so hohe Meinung von Loos' Geist und Fähigkeiten suggeriert war. (Aber eigentlich sollte ich doch nicht so sehr überrascht sein, denn ich habe j a den Berthold Viertel kennengelernt, den K.K. so sehr gelobt hat, und der tatsächlich ein außergewöhnlich liebenswerter Mensch ist, aber—abgesehen von seinem Beruf im Theater und im Film—anscheinend ein vollkommener Wirrkopf, und unverläßlich dazu, wenngleich ihm die Unverläßlichkeit wegen seines leidenden Zustandes nicht weiter zu verübeln ist.) Jedenfalls aber mußte Adolf Loos rein menschlich ein Wunder gewesen sein, sonst hätte ihn ein Karl Kraus niemals so hingebungsvoll lieben können. Die Schriften von Loos habe ich leider nicht gelesen; ich hätte es sollen, und fühle mich da eines Versäumnisses schuldig— Karl Kraus gegenüber. Aber wie es halt oft kommt: man ist im Augenblick von anderem in Anspruch genommen oder hat gerade irgendwelche ungewöhnliche größere Aufgaben—so verbummelt man schließlich ein Vorhaben, welches man sonst ausgeführt hätte. (So ging es 289 mir wohl auch mit der Ballade vom Papagei, die ich immer so gern nach den Noten hätte kennen lernen w o l l e n . ) . . . Eine Zimmereinrichtung von Loos habe ich einmal in einer New Yorker Wohnung gesehen. An und für sich schön, aber ursprünglich in einem viel größeren Wiener Wohnraum eingebaut; paßte also ganz und gar nicht zu den Maßen des neuen Milieus, sodaß man das äußerst unbequeme Gefühl des Beengtseins nicht loswerden konnte. . . . Kennen Sie übrigens jene reizende Doppelphotographie von L. von P.A.? Loos steht da neben dem viel älteren Manne mit so ergreifender Miene und Gebärde des hegenden, schützenden großen Bruders. Das Bild kommt in einem kleinen Buch über P.A. vor (ich glaube von dessen Schwester zusammengestellt), und enthält viele Photos und Zeichnungen, auch zwei, welche von Karl Kraus stammen: erstaunlich wie diese kleinen, unscheinbaren Zeichnungen den Beweis für eine weitere und ungeahnte Begabung liefern, welche, wenn auch unentwickelt, doch zweifellos vorhanden war!— Jenes Doppelbildnis von Loos und P.A. kann selbst einen so abgebrühten Menschenzweifler wie mich jedesmal fast bis zu Tränen rühren. . . . K.'s Ausspruch (im Zusammenhang mit L.): "Ich will immer den Weltmisthaufen in der alten Ordnimg, damit er sich leichter als Ganzes beseitigen lasse", ist so weise, von so unerreichter Einsicht, daß man eigentlich nicht begreift, warum er in Nachts seinen ihm zukommeden Platz nicht gefunden hat. Aber schließlich werden die Briefe und Entwürfe eines solchen Geistes von derartigen Worten förmlich gewimmelt haben; und alles wird er sich kaum gemerkt oder gar in ein Buch aufnehmen haben können. (Habe ich Ihnen übrigens schon erzählt, daß ich vor sechs Jahren, während einer langen Genesung nach einem schlimmen Nervenklapps—ich war am Kriege erkrankt —sehr viel aus den 3 Aphorismenbänden Englisch nachgebildet habe? Meistens ganz glücklich. Aber es ist noch immer nicht über die erste Niederschrift hinausgekommen. Für derlei hat man hier gar kein Interesse—nur für "smart sayings"—, und es könnte höchstens im Selbstverlag erscheinen, wozu mir leider die Mittel fehlten, selbst als ich weit weniger arm war. Dasselbe ist auch von meinen 32 Gedichten nach Georg Trakl zu sagen. Während des Krieges hatte der Verleger des ersten Trakl-Bändchens, aus welchem ich die Gedichte nachgebildet hatte— Kurt Wolff—, in New York seinen Verlag aufgeschlagen, und vielleicht besteht er dort noch heute; und ein Freund versuchte ihn für meinen englischen Trakl zu interessieren. Wolff aber begegnete der Anregung mit den denkbar verlogensten Ausflüchten.) 290 Indes, was Karl Kraus über P.A. in den Briefen, 17., 18., 23 . Mai c 16, schreibt, ist weniger überraschend. . . . Wie liebte er aber diese beiden Menschen, daß er ihnen—insbesondere dem Peter A.—so viel nachsehen konnte! Zu Rilke und Werfel fallt mir manches ein, womit ich Sie lieber nicht langweile. Eines: Das Werfel'sehe Gedicht auf Karl Kraus: Einen Dankes wurde meines Erinnerns in der Fackel nicht abgedruckt. Schade! (allerdings habe ich nicht nachgeschlagen, was ich aber nachholen werde.) Dafür kam dann jene zum Sterben komisch-ernste "Melancholie" an Kurt Wolff, die die blöde Erwiderung Werfeis und in deren Folge die großartige Erledigung: Dorten auslöste. . . . Eine Frage: Gab es denn, während des damaligen Krieges, zwischen Böhmen und Österreich, keinerlei Postzensur? Daß sich K.K. in seinen Briefen dorthin gar kein[en] Blatt vor den Mund nehmen mußte! Weitere Anmerkungen folgen baldmöglichst. . . . Die erwähnte Elegie: "Epistle to Weidlingau" wird für Sie jetzt abgetippt. Es hat manches Schöne, viel Richtiges, ist aber sehr lang. Hoffentlich wird Ihnen der oft ziemlich verwickelte Satzbau nicht allzu sehr in die Quere kommen und den lyrischen Schluß stören oder aufhalten.—Hätte ich, als ich es schrieb, alles das gewußt, was ich jetzt weiß, würde der Titel vielleicht lauten: "Epistle to the Park of Janowitz". Sogar sehr wahrscheinlich! Änderung aber jetzt leider unmöglich—auch wenn Sie es erlaubten. Es kommt darin zuviel Weidlingau vor—auch als Reimwort. Und damals war Böhmen noch nicht vergewaltigt. 23. Februar 48 24 February 1948 My dear friend—my kind friend—. A word in great haste, to let you know that your letter of the 18th with the two little snapshots and the nine new pages of letter-excerpts arrived this afternoon. For all these my 291 deepest thanks. And for the great privilege you accord me, of keeping for myself two of the large photographs (one of which is my favorite)! How kind you are, and how generous! May I have the two larger photographs framed for my wall? I should like to hang them with his, if you don't mind, please. I am so dreadfully sorry that you should be under a false impression concerning my unwillingness and inability to comment upon the poems of the 6ths & 8th volumes, and the letters concerning them, as also upon your words concerning his last illness and death. —"1st dies der Lohn für Vertrauen und Offenheit?"—How ungrateful your words make me seem to myself! But it is not ingratitude, believe me. It is simply that the words will not come to express what is in my heart; and I prefer not to wary or annoy you with my stammered attempts to phrase what I feel so strongly and so deeply. You will find it all in that endless Elegy: Epistle to Weidlingau, written not long after the Hitler invasion of Austria. It was written for myself and aside from her who typed it from my unreadable manuscript and has now copied it off for you, together with another, earlier short piece, no eyes but yours and mine will have seen it when it reaches you. It is now in the post, never must you believe that I am holding anything back from you that concerns these letter-extracts and the poems, or yourself There are times when words simply fail one, and at best I am not too articulate. I beg of you: bear with me—I can be no more than I am; and perhaps I should not be too much blamed for some natural reticence. . . . N o , my dear friend, you have not hurt me; but I can understand only too well how you feel, and that hurts: the thought that, unintentionally, I have hurt you; and that must not be! Very soon, I hope to find opportunity for another and longer letter. Now there are two from you which await reply. For letters to you I need leisure for thought and complete quiet. At the moment I have neither. And there is illness in the house just now, besides preoccupation with other matters which must be seen to. My most cordial greetings and all good wishes, Albert Bloch Einen so schönen und lieben Brief von M. Lichnowsky vor einer Woche erhalten. Wann ich dazu kommen kann, zu antworten und zu danken, wissen die Götter! 292 For S.N. A.B. February 1948 EPISTLE TO WEIDLINGAU It lacks but little now of two dark years since your eyes closed upon such light of day as ours can still reflect; since on your ears inaudible fell the t ime's obscene affray. It lacks a little month, three April weeks, till the day come when, to felicitate ourselves each year that one voice fearless speaks, we would send thanks to him we venerate. But it is not an anniversary of death or birth that urges me to write, attempting words for thoughts that grope through me uneasily through sleepless hours of night. If what ensues may somewhat have availed to ease m y heart, I shall not quite have failed. Ah, but you must have known when, questioning but obedient to the relentless call, you went, how some were left alone. And so you went, perhaps pitying those a little, who as the days fateful lapse have more than ever need of you. it was the breath of life to those who sank beneath the horror of that curse by which these last days of mankind shall close. But now, oh now that you are gone, I could be all but glad that you are gone, though woeful sad our lot alone, left watching through this wan whiteness of night. But you are spared, you, the unflinching witness, so are saved the knowledge which we living dared not face till knowledge outfaced us. Enslaved our world, our little island world destroyed. Brute force, its flag with clawing cross unfurled over your homeland, runs the hideous course that you foresaw, that you so feared — not for yourself, but for your countrymen, your fellowmen. Yet when you went from us, your end was cheered still by one timorous hope, as we were also, whom you left behind: That though your country grope through the deep dark of heart and mind, its feet had been set firm upon the path that leads from hatred, horror and the wrath of unbound savagery, back to the light of heart and mind and human dignity. That hope you took with you into the night that took you from us, and from me. I thank God that you did not live to see your Weidlingau dead under the foul blight. Ah, there in Weidlingau, where blue your sky and golden all the summer hours, where among motley flowers danced large and crimson butterfly — let me still see you there. As through your days on ever-darkening earth you took it with you everywhere, so, welcomed to a glad rebirth, I see you happy now at home again in Weidlingau. Then thither I address these lines, for even now I still must send some word, as in days past, which would offend against the wish that black on red declines to welcome letters on the outer leaf of cover to your matchless text. But would you more today than then be vexed? For how else my I ease my grief, now you are gone and no new word can come from you to draw forth words from me? And yet, though burdensome the load of good and evil will might be brought daily by the post, you seldom chided us; at most you reasoned with us sometimes, to protest against this so absurd demand 296 Die englishe Redens-} art kennen Sie doch: "You make me tired"? on your attention, lest — what readers will not understand — your energy be so much occupied with what we others had to say (who hung upon your slightest Yea or Nay, to tell you which, we would not be denied), that for the work itself, which we so burningly desired, no energy be left. Ah, verily, we sometimes must have made you tired! Still though this all be true indeed, Yourself were never at a loss to understand our need. And in one case, I know, you bore this cross of heart-and-mind-unburdening, of volunteered opinion and acclaim, so patiently, so kindly, to my shame, that now, if anything could ever shame me more than this, it is the nemesis that haunts me of my words in black and white, which sometimes you would print beside your own. What contrast! nothing could have better shown that your devoted readers should not write. At last should not have written you. It was so dangerous to one, who, too insistent to discuss your problems with you, bleated much ado about the nothing in his head, or growing impudent, regaled your tired eyes instead with witty compliment, which, deeply subtle served to introduce his well-disguised intent of jovial personal abuse. (Of course he had a plausible excuse and trusted you to take as it was meant his nastiness. For, after all, a man may criticise, though he admire your work, and if his scrawl unhappily should rouse your ire, that only proved how vain you were. Even great intellects can sometimes err, besides, a constant reader, such as he, and an admirer so sincere, has every right to take some liberty with one whom he shall all his life revere. Well, don't you think so too?) So, when, thus overbold, it was put to you, since such readers knew your duty: never to withhold your views from them, you let them have it straight. But having it, they wished that they had never asked. Or when they fished for commendation, or at any rate desired to parade before you their intelligence, how quick their self-complacency would fade under your mordant compliments! Yes, it was dangerous indeed to rouse attention to oneself, to strut or dare to make of you a butt when you by chance were in the mood to heed. Yet this I cannot comprehend: Why you were so unfailingly indulgent, tolerant of me. Too frequently I penned enraptured words of faith or doubt unworthy of your eyes. Was it that you could realise that under all devout homage expressed so falteringly there lay true apprehension of your aim? Whether or not one might agree and whether praise or blame the harvest you should reap, mattered but little, mattered not at all. If you could rouse one soul still half-asleep, if your stern voice could call to suffer with you one recruit helplessly groping toward the light, blindly confused to know the day from night, your seed had borne its fruit! Thus, after all, perhaps I understand why you, for once, did not decline, why you did not withhold your hand when hesitatingly I offered mine. How should I be so blest, that I should find you in the very hour when most I needed you? No seeking quest had guided me, no power to know before what I should find lived in me as I idly turned the pages of the red brochure that burned bright on the table, as, resigned to waiting on a tardy friend, bored at the very thought of you, I picked it up and read that Fackel through unto the very end. I knew of you, had heard of you before often enough, but I had purposely avoided you — a bore, as I have said, the thought to me even of your too wellknown name, which in my hearing had much been tossed back and forth between parasites of your curious fame and those who thought you not worth mentioning, yet who would still persist in finding opportunity to fling the noted satirist into the conversation as a lure to draw his friends into debate. But I, in my indifference secure, could stomach neither. At that date I could not know that you shared my repugnance for this crew of hangers-on and fallers-off, wherefore, unhappily, judging by them, I was inclined to scoff at one to whom came enmity and friendship from such unclean opposites, each worthy of the o ther—worthy too, I felt, of him about whom this to-do was made in the cafes by cadging wits. I did you deep injustice here, which I have much repented since. But I knew nothing then of your austere spirit, nor how yourself must wince at any mention of your name in such a company. What wonder then, that I should be turned sick by all the fulsome praise and blame that fell upon you unaware — and, after all, I did not care to make a new acquaintance in the sphere of literature, and so avoided every chance to know what you had written, and refused to hear you read in public from your noble prose when one unwholesome little Jew invited me and begged me to expose myself to it and you. Now there I sat alone in the cafö — t h e place was empty — and, waiting at that fag-end of day, picked up what lay at hand. What happened there to me! In utter weariness I took the pamphlet for a casual look into its text; no curiosity moved me to leaf it through. Boredom alone and idleness suddenly brought me face to face with you! That thoughtless moment always I shall bless. What happened to me there? For really, what concern was it of mine "Die elektrische Bahn that an electric railway-line Wien-Pressburg ist } between Vienna and somewhere eröffnet worden" in Hungary, of which I had till then not heard, should be opened; or that a comfortable niche "Wenn die Lehrkanzel in the Vienna University, nicht besetzt ist" which had been occupied by some professor who had lately died, should still be vacant? What was it to me? Nothing. But oh the voice with which you spoke, and every word of each ironic gloss, the comic power that cannot stoop to joke! Behind it all a stern soul mourned the loss of something that could never be regained. And this grew suddenly apparent there to me in those brief notes. Till then aware only that Karl Kraus lived, I have remained aware from that high moment, that in me Karl Kraus shall live through all eternity. For I had found myself in you. This was that long-known voice, to whose so fitful whisperings the clue had been denied me till I might rejoice in knowledge that your word, recognised here at last, was what within me through those dim years past straining to grasp it, I had heard. I had been walking between light and dark, sleepwalking in the shadows, till one spark from your red torch, upon my pathway thrown, showed me myself and all that was my own. It was upon the eve of that damnation of four years, of that delirium of fears, which only you could from the first perceive as those last days of lost mankind, which every word you wrote had prophesied to the receptive seeking mind attuned and close allied to yours — it was just then that I, guided I know not how, heard in the wilderness your conscience-cry above the ribald deafening row of the unheeding day. Chained thankful to the spot, I stood hearkening eagerly, nor could nor would I come away. And I have hearkened ever since so faithfully, and still and still I listen — I cannot convince myself, that, by some will inscrutable and strange to you, to me, you have been silenced and your word shall come no more to dissipate this vacuum: that henceforth I must be without its solace to my very end. What? Shall I never hear you contradict yourself anew, only to comprehend immediately, that he who would convict you of self-contradiction is a fool, since each such contradiction is self-proved a pledge that deeper truth remains unmoved despite all false exception to her rule. . . . And you have not been silenced — no! For though you speak no more, what you have spoken lives and still must grow to a significance undreamed before: With each re-reading of the old, an aspect, altogether new, will suddenly unfold before the startled view out of the long-familiar text, which had been so committed to the heart, that not one word might start into the memory, but the next and next would of themselves fall into place, and mood and atmosphere so firmly mate the word to thought, that the whole interlace to rear an edifice inviolate. And still each later scrutiny brings new facets so to light, that yet, however true and right each earlier reading some fresh purport springs unlooked for, to surprise the adept of your discipline, to whose so long-accustomed eyes the old words, forged to other ends, begin to take on meaning which alone applies to the immediate moment as it flies out of the past into the future. Thus you can be silent nevermore, who give your word, yourself forever new to us and those to come in whom your light will live. Hatte gerade wieder die ganze Fackel (1899-1936) durch­ gelesen. And so I surely know you have not died. More sure, now I have once more turned me back upon the labyrinthine track that draws me through your past days as a guide to these our darkly present days. However I may turn, stop where I will in the bewildering maze, I find your finger pointing still into this gloom ahead. Yet never quite could you despond, your eyes were fixed upon a light beyond, through which you live in us now you are dead. 305 Indeed some shimmer from its beam has fallen all these years on us who dreamed with you the summer-dream that cold in fog dissolves and reappears clear on an April-breath of promise under sunless blight of frost —found all unhoped for and with all hope lost, surviving every death. . . . Et ego in Arcadia! Even in this America one may live Weidlingau! And once I saw the very place, though no green brightened yet on any bough, nor did your heaven's grace of blue shine down to bless that winter noon when one twin seeking soul and I made pilgrimage to sanctify, under the granted boon — granted at last! — of hearing you, our dedicated hearts anew: of hearing in our very ears your speech, words come alive upon your lips, the still small voice, the tortured screech, now its caress and now its flaying whips — the boon of seeing you at last, yourself, before us there! And we were what a thankful pair when, as the slow train lumbered past a little station by the road through the Vienna Wood, a careless glance cast through the window showed, as nothing better could, that we must now be near our goal. And how the eager soul leapt at the omen of a station-sign! Each found the portent in the other's eyes, hers sudden tear-bright with an awed surprise, and wide with wonder mine. And deeper peace was on us now, for this was Weidlingau. In the beginning was the word. This mighty dictum is the only key — unfathomable its simplicity— to you and to your undeterred insistence through your life on unity of utterance and act, to your inexorable strife — fruitless alas, in very fact, as one of your detractors knew one-half so well as you — against the forces of decay, who criticised for his destructiveness their critic, whose one wish it was to stress true worth, destroyed by those who ruled the day. And it was to the word alone, the word fastbound and free, set firm, yet lightly poised upon its throne, you humbly, gladly, bowed your knee. For only under its control and through its grace and power could thought —th i s is the faith you taught — emerge full flowering from the groping soul. You served the word: it was your ultimate creed. Is it to be believed that every word you spoke was misconceived by those who heard and would not heed? By those who hung upon your every word, a pack of hangers-on who begged for more and fell away to call absurd what they had held in reverence before? For they were of the stupid kind that is intelligent, and they were sure in time, though slow, to scent that your appraisal of their type of mind was hardly complimentary. So, when at last they did suspect your estimate of their intellect, they very suddenly discovered that you did not satisfy the longing of the heart (whatever such hearts longed for); hence their lie: Though truly art, your work was merely art. For here, they would contend, in the beginning was your vanity, brazen, for all your world to see, using the word, which only served your end. But word and thought in you were one, one and the same your act and thought, discrepance there was none. If firm the sentence stand then as it ought, because the word is right, what follows after must be just: Never the work will merit fullest trust until expression and idea unite to form the flawless deed. Your labor and your life were one, your life lives on, the labor shall succeed now that your work is done. Yet, if in the beginning was the word and if by its sole grace the labor thrive — what then? Shall death deprive the soul of life? Can she rot sepulchered "there in a word-forsaken void"? Is this the victory of the grave and can life be destroyed by death, or lie in bonds, his slave? Again you seem to contradict your very word, yet easily is resolved the discord into harmony strict, simple and clear and uninvolved. For if in the beginning stand the word, if through its grace the work transcend all labor by mere will and self-will planned, then it must stand unto the end. And far beyond: it has not died, and cannot die; for on the selfsame breath that trembles with your dread of death boldly defiant rings your "Word-allied". And word-and-verse-allied life still remains, and through the word made song eternal Spring reigns over death, the hungry beggar-king, and conjures from the grave his meager gains. They crumble there to dust and rise again as flower and tree, eagerly from the depths below they thrust back into light and liberty. As color, scent and even sound — when the wind stirs them through with secret jest they are clear laughter unrepressed by any dread of death sly lurking round to seize them in the Fall. That is the greatest joke of all, for in the Fall they only fall asleep and sleep the Winter through till, reawakened in the Spring, they keep with life their annual rendezvous The Spring is here, the leaf is on the bough, it will be Summer soon. Two years ago, it was in June, they laid you in a grave. But Weidlingau threw wide the blue gates opening on that glen where butterflies play round you once again. They laid you in a grave: But over it the flowers and trees secretly whisper as they wave rustling to every breeze, that you were never there. I know the grave; two photographs hang where I may not fail to see it in the night upon the wall above my bed. Always as I put out the light I turn once more my head to look into your face four times repeated on the wall. And with these four, two pictures, very small, are set apart to hold their guardian place above my head. Sunlight and shade play through the trees about the space in dappled pattern overlaid on grass and bloom — a little garden, made to hold a while in close embrace the outward part of you. Upon the stone, carved large in Doric dignity, your name and nothing more. Your name alone. No fulsome wording to proclaim what this lost world should mourn, could it but know what it has lost, not knowing what it had. The silence of a coward press forbade a general knowledge of the debt we owe to you And now? I shudder. Rabid-mad your homeland now — will madness desecrate your slighted grave in new-discovered hate? Your slighted grave! What was it checked, before you had been one year under ground, 311 a sorrow so profound? Was it faint-heartedness, was it neglect? Could it have been indifference or lack of diligence in the two friends you honored in your will u. Fischer nicht schuld, with privilege and power to fulfill wie ich später erfuhr, your wishes? Was it their incompetence that hindered the appearance of the work that you had left behind? They loved you. Would they coldly shirk accepted duty of such sacred kind? Little of what they planned in grief as fitting monument to you, still less of what they had been asked to do, nothing to justify your pure belief in them has been accomplished by those two. Little they did but shift and hesitate — and now it is too late. Daran waren Jaray Doch meine Ahnung erwies sich als im Ganzen nicht un­ richtig. I would not be unjust to them, and they could plausibly reply that it is easy to condemn, when one has not been by, what others do or fail to do, Diese waren Jarays when one is not informed Entschuldigungen auf of the annoyances that swarmed meine wiederholten about these conscientious two, ungeduldigen Anfragen and the difficulties, which rose new from day to day, when nothing went without a hitch and obstacles would not be cleared away. Perhaps, perhaps. And yet, and yet, one cannot but regret, that each quite valid reason they produce should look so strangely like a lame excuse. I cannot doubt they loved you well, nor that they love you still. . . . Ah, what strange love you could compel! Even in those, whose spirit volatile could between your high worthiness and the deep worthlessness of others fly back and forth restlessly, to certify their independence of your pitiless imperative. Love like to hate you sowed in such as could not love nor hate. But others were, who owed love unequivocal, which soon and late provided itself steadfast. And you knew that these were humbly, silently your friends, and to what worthy ends they sought and found the arduous path to you. And you yourself, astounded and exclaimed at the "fantastic loyalty" of the few whom your enkindling spirit had inflamed to never-flagging faith in you. Wie viele Fackel- And I myself have lately come to know leser haben mich some of the worthiest of these. und Deutschland damals aus Wien None have I seen. They cry their hopeful pleas in these days of their darkest woe angefleht, ihnen nach Amerika zu helfen. Es ging leider in keinem Falle. Ich konnte höchstens Gutachten abgeben, die alle nichts nützten. Die Einwanderungsbe­ hörden verlangten Garantien, daß die Immigranten hier Arbeit vorfinden würden, damit sie der Kommune nicht zur Last fallen, oder aber, daß ich finanziell so situiert sei, um sie zu unter­ stützen. Es war mir nicht möglich, solche Garantien zu geben. half round the world to me in your beloved name. For their dreadful need they know how we are bound together by the claim of brotherhood in you. You it was made me known to these unhappy helpless, who now sue to one as helpless. And I must atone for this to you, to them in their distress, by owning humbly to my helplessness. Yet though it be alas denied to me to be their rescuer from present evil, something of chastened pride tempers the grief and pain that stir my heart for them and for my impotence: For you, still foremost in their thought in this black hour, have on a sudden brought me to their mind, and in true consequence these kindred ask me to assist not them alone — if I but could! —, but, as one says (an optimist), by helping — heaven knows h o w — t h e brotherhood to a new home among this bleating herd of freemen: "to prepare" (invisible in the headlines' lurid glare) "a new home for our master's word". This heartbreaking, so childlike trust in me, it is the proudest legacy that I could have received: their pledge to you of love and loyalty. Headlines = Zeitungs­ überschriften 314 Not since you went your way have I so grieved — my helplessness seems treachery! Let busier friends neglect you how they will, your word flames white in these poor outcasts still. White as in me. Here in this quiet room your memory is kept alive. Indeed, amid this ever-deepening gloom only your constant memory can revive some little hope in me — as in these distant friends who think, grief-bowed as I, yet thankfully as I, of you, who form the tested link between what was and what shall be of life and love and light. Here then I sit night after night among these treasured souvenirs, which vainly ever and again incite the too unready tears that choke me but will not be shed. The room is palpitant with your voice, I hear it round me always, and rejoice that, though they tell me your are dead, it speaks within these four walls ever clear. Yet that is truer than it sounds, for in my very ear at will your living voice resounds! Yourself in kindness sent in me, that I might have your spoken word which three times only I had heard. But oh, it may not be — not yet, not y e t — t h a t I can bring myself to set upon the grammophone those precious discs, to hear you sing "Das Schoberlied" again, again intone your topical attack upon the press. I cannot trust myself, I do not dare —without reluctance I confess — to hear you lay your longing bare for the brave days of youth, to hear you boldly bid, with trembling breath, defiance to your dread of death, or hear you cry on justice without ruth which overtook the little harmless whore who sported once a military-cross accepted to secure her against loss from some deadbeat who would not pay his score. Close by my elbow as I write a blackbound booklet lies. It is of such a tiny size that it quite disappears from sight within a folded hand. And every little page is filled with characters that stubbornly withstand all scrutiny, however, skilled, which would decipher them, so cobweb-fine the script. And it was yours, that book, but now — I scarcely can believe i t — m i n e ! What right have I to it? I took what one who loves you gave to me to keep for your dear sake. She found it where it lay as you had left it, put away in the small bedroom where you fell asleep. Here sleep some memoranda of your thought, hastily bedded down: a word, a catchword, or a notion caught in passing from some earnest-minded clown. Sometimes I have discovered here and there a word that I can read, suddenly to become aware of the still scarce perceptible seed from which sprang afterwards breathtakingly your living word immaculate, final and firm, yet light and free, so simply slender, yet so intricate. Ah, then, and with no melancholy taint, would tears of gladness start without restraint. Upon my shelves in close array your lifework greets from its high place the noble spirits of another day, yet occupies a space that holds it properly aloof from lesser spirits of our time. But on the next shelf following, as proof of fellowship with you, stands that sublime self-contradiction, seer and vagabond, your Peter Altenberg, the friend of your worst foes, who, when you would defend him against these, would swift respond with a rare outburst of his famous wrath. Great child, great man, he knew no middle path: Between two incompatible extremes he made no cho ice—he was at home in both. Somniloquent amid his magic dreams, he would affirm on oath that money was the only good (beside cathartics and the proper food), but that you, tolerant of his every whim, his hated friend, his dearest enemy had thrown him to the dogs—tha t coterie from whom you would have rescued him. But deep in his wild heart the wise child knew his father, and what good he owed to you. For you had spared no sacrifice to make his cause your own. Your generous effort and your wise advice first made this poet known. You were still but a boy when you began to bless the life of this far older man. Let me count over every souvenir! Among your works are two in which your name and mine appear upon the flyleaf, written there by you. The gifts were meant to serve as sign of thanks and kind regard, yet I had done so little to deserve 318 such beautiful reward. And there are programs, not a few, of those unparalleled readings from Shakespeare which you held. For you, because you knew what Shakespeare is to me, and my regret that I could not be there make it your gracious care to see that at the very least I should receive what you could send: a favor from the feast — oh you were kind! — which I might not attend. . . . But carefully put by, to keep it even from my touch, lies a prosaic little nothing-much which you had worn: a red necktie! For I cannot be negligent Die Nichte, die of this so cherished bagatelle. auch das Notiz- It was the first gift sent büchlein mir verehrte, by her who loves you w e l l . . . So, in despite of death, until the end, Von der Lyrikerin you shall live in and round me. Need I vow Hildegard Jone in to live in y o u ? — And from another friend Purkersdorf, Mit- I shall have pictures soon of Weidlingau. arbeiterin des "Brenner." Alas, though you live in and round me here, the knowledge stares me down: That you are gone, however stubbornly I persevere in seeing you stand, bathed in the hues of dawn, "spellbound, fast rooted in the meadowlawn", whether of that old par or Weidlingau. Illusory comfort! Dark the days drag on, deeper the spirit sinks into the slough. Yet "all the birds are here again", the bough outside the window pulses with their cheer, and flowers of spring are on my table now. Where was Vallorbe? the sky hangs frightening near. And Weidlingau? Shall it again ring blue and can its message hearten us anew? April—May 1938 In justice to the "two friends" mentioned above, against whose suitability as literary executors enough may be brought forward, it should be said that it was neither "incompetence" nor neglect "that hindered the appearance of the work" left unpublished by Karl Kraus. One work, "Die Sprache", whose preparation for the press had been all but completed by Kraus himself, was indeed published posthumously; but I had been under the impression — erroneous, as I learnt subsequently — that there was rather more besides. Of one great prose composition, of whose all his readers were long aware, I have since received a typed copy; but Kraus himself felt that it should not be published — had indeed told one of those two friends that he would never allow it to appear — ; and since his death the reasons for its continued suppression have grown even stronger. If the present reign of hell on earth and the heartbreaking struggle for its overthrow should ever end, as we must still persist in believing that it will end, these reasons will have disappeared. Beyond this one essay there remain unpublished only two short poems, neither of which had received final revision.* October 1940 *Wie mir damals versichert wurde. 320 ON READING KARL KRAUS Wit-woven wizardry, word-web of wonder, wailing the woe of a way-forlorn world. Thick-wits the throbbing thrusts of his thunder hail as mere humor or heresy hurled. Holy his hate; under harrowed hilarity longing and love leap lashing at flood. Unfaltering faith, obscure as his clarity —matter for mock to men mucking in mud. Voice in the wilderness, warning humanity, calling on unconcerned clay to repent; crying cruel quips, the while bungling brutes, bent upon profit and pleasure, revile him for vanity. CHOPIN Waif of that elder world of space and glamour outcast within this other world's confine you fashioned from its chaos and its clamor your world of wonder, leaving it to shine pale radiance on the world, and to draw near it those whose wild laughter, muted to a smile wan-broken, wakes to tears when you beguile with your immortal waywardness their spirit. Singer of numb despair and mad release, always the sun throbs through your melancholy, always the rain sobs through your gayest folly — you who knew never peace bring always peace. And solace always to my bleakest mood and benediction on my solitude. ca. 1929 Für Sidi Nadhernd, weil sie Chopin spielt mit der Bitte, daß sie mir die "Preludes" vorspiele. AB Spielt sie auch auch meinen Brahms? Auf den gibts noch keine Verse—weiß nicht warum. 322 [Ohne Datum] IN A MORNING OF EARLY APRIL The stars must have fallen overnight and here in the earth have taken root. See how they twinkle underfoot in a young green sky as dandelions! What a rowdy riot they make to invite the notice of heaven, laughing defiance in yelling gold at their mother the sun, who burns indulgent, indifferent on them: Let them shout, little brats, let them have their fun for a brief bright day, these imps of grace. Tonight she will gather them up and spawn them afresh, quiet flowers, blinking through space. Written during the late 1920's. Suddenly reminded of the lines on reading what you say of K.K.'s love for dandelions, and thought perhaps you might like to have them — as one further proof of "Übereinstimmung".* The thought of you just now leaves me no peace. Very much troubled and upset. God grant that all be well with you. If only there were something one could do to be of the very slightes use. If there should be, I trust you to let me know. All best wishes — and fervent hopes. A.B. •Though of course it is quite obvious that they must be dug up before they go to seed, or they will simply take possession of an entire lawn or garden. But they are such jolly little rascals! 323 7. März 1948 Ich bin sehr in Sorge um Sie, liebe Freundin, will aber darüber keine unnützen Worte verlieren—man ist doch so hilflos. Wenn aber, wie Sie so gütig versichern, meine armen Briefe, so unbeholfen und "gesprächig" (um es gelinde auszudrücken), Ihnen zum Trost gereichen, darf ich gleichfalls verraten, daß mir dieses Bewußtsein ein nicht weniger großer Trost bedeutet. Nicht nur Ihret- sondern seinetwegen: Das ist nun ein integrer Bestandteil meines Dankesdienstes geworden. Die alten Klassiker; die großen Italiener der bildenden Kunst; Rembrandt; Shakespeare und die anderen Gipfel der englischen Literatur; meine Abgötter der Musik: Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms; Goethe und ein paar Auserlesene der deutschen Dichtung—was habe ich diesen nicht alles zu verdanken! Aber das entscheidende, bestimmende, das ausschlaggebende geistige Erlebnis meines Daseins war und bleibt Karl Kraus. Und Ihnen ist es zu verdanken, daß mein Liebes- und Dankesdienst nun diese neue, unverhoffte (und unverdiente) Richtung nochmals einschlagen darf! . . . Und jetzt soll ich wieder Photographien erhalten! Ein ganzes Paket, wovon ich die Hälfte behalten darf? Im Voraus Dank! Irgendeinmal müssen sie eintreffen! Auch Dank für die gütige Erlaubnis, einen der kleinen Abzüge mit den großen Hunden zu behalten. Leider aber waren sie, mit den größeren, (Photos nicht Hunden! Was bin ich für ein alter Trottel) bereits einige Tage unterwegs, als der Brief ankam. Ihre Briefe! Jetzt sind es vier, die ich im Einzelnen beantworten will. (Ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, die Anmerkungen zu den Auszügen fortzusetzen.) Heute nur die paar Zeilen, um wissen zu lassen, daß die letzten Brief-Abschriften (gestern jene über den Tod der Frau Reitler, heute die lange und doch zu kurze Serie aus dem Jahr '14) angekommen sind. Ihre unermüdliche große Güte überwältigt mich. Wenn ich nur sicher sein könnte, daß die nächtelangen Abschreibe-Sitzungen für Sie keine allzu große physische Strapaze auf die Dauer sein werden! Damit wäre er ganz gewiß nicht einverstanden!—Mir zum Beispiel ist das lange Schreiben bei dem verfluchten Gesundheitszustand eine große Anstrengung, und alle längeren Briefe müßen in Fortsetzungen geschrieben werden. Tagsüber bin ich von eigener Arbeit in Anspruch genommen (d.h. wenn ich die vorhergehende Nacht halbwegs anständig geschlafen habe—sonst bin ich den ganzen Tag zu 324 gar nichts tauglich), und oft bin ich dann abends nach der Arbeit so erschöpft, daß ich weder denken noch mich rühren kann. Außerdem gibt es allerhand Korrespondenz, die zwischendurch erledigt werden muß. So überlasse ich mich dann mit Zuversicht auf Ihr Verständnis, [sie] Ein- und Nachsicht, und bitte nur um Geduld. Die paar Zeilen, die ich jedesmal rasch nach Empfang einer neuen Sendung der Abschriften schreiben kann, sollen als lästige Lückenbüsser angesehen werden: Die eigentlichen Briefe kommen schon, wie auch die Fortsetzungen der Notizen zu den Abschriften. Ihre Briefe sind mir so lieb und wertvoll; glauben Sie ja nicht, daß es irgend anders wäre noch sein könnte. Außerdem— oder vielleicht vor allem!—sind sie höchst anregend: es macht mir Spaß, über einzelne Punkte ihres Inhaltes zu diskutieren oder auch nur flüchtig zu kommentieren—wenn bloß mein Geschreibe die Empfängerin nicht langweilt! (Which, by the way, is not a "fishing- expedition" for a compliment.) . . . Es ist sehr spät geworden, und ich habe heute viel gearbeitet. So muß ich jetzt leider abbrechen. Nochmals innigsten Dank und alle lieben Wünsche und Grösse A.B. Lawrence, 9. III. 48 Auf alles will ich in Ihren schönen, anregenden Briefen im Einzelnen eingehen, aber heute muß ich noch rasch—indem ich die begonnene Fortsetzung der Notizen zu den Briefstellen unterbreche—einiges auf Ihr heut Vormittag eingelangtes Schreiben vom 29. IL - 4. III. erwidern. Zunächst: als ich der lieben Kopistin (meinem Schutzengel) der beiden Gedichte—wie des späteren, vom "Löwenzahn", welches Sie inzwischen erhalten haben dürften—den Passus mit Ihrem Dank an sie zeigte: "I know of course that she did it for you, but perhaps a tiny wee bit also forme", bat sie mich, Sie zu versichern: "I did it jus t as much for her sake as for 325 yours. You tell her that, please." Sehen Sie, auch sie liebt Karl Kraus, und darum auch alle, die ihm lieb und wert waren. Sie ist sogar meine Leserin, wenn ihr auch die Prosa weit schwieriger fällt als die Lyrik. Aber selbstverständlich bin ich nicht "bös", daß Sie so offen Ihre Meinung über die zwei Stellen in der "Epistle" aussprechen! Sondern im Gegenteil dankbar*. Es ist doch ein weiteres Zeichen Ihres Vertrauens, Ihrer aufrichtigen Wertschätzung—Ihrer gütigen Teilnahme. Außerdem: wenn eine, die ein Karl Kraus um ihren Rat fragte—in so vielen Fällen—und um deren Kritik bat, sich zum gleichen Dienste an meinem weit kleineren Werke bereit zeigt, so habe ich mich eigentlich geschmeichelt zu fühlen. (Und das ist nicht Ironie, muß ich schnell hinzufügen, um jedem Mißverständnis vorzubeugen!) In dem ersten Fall (der Stelle über Jaray und Fischer—von Dr. Berger wußte ich damals nichts weiter, als daß er Die Sprache sozusagen "herausgegeben" hatte)—in jenem Fall also wäre ich fast geneigt, Ihnen vorbehaltlos zuzustimmen. Ich bitte Sie aber, sich in meine damalige Stimmung zu versetzen—hinein zu empfinden. Sie war eine verflucht bittere: Die Nazi saßen als Herren und Herrscher in Wien—in seinem Wien; nichts von allem, was man von den Freunden erwartete, erwarten mußte, war geschehen.—"your slighted grave": Das Grab ist hier zwar Sinnbild, Metapher, aber mit der Betrachtung des eigentlichen Grabes eng verknüpft—ich konnte nicht wissen, was die Nazi-Bestien an Schändungen anstellen würden oder vielleicht bereits angestellt hatten —; und die Vorstellung, daß noch dazu die Freunde, die mit der Pflege der Verlassenschaft Betrauten jenes andere "Grab" wenn nicht geschändet, so doch sträflich vernachlässigt hatten, war mir geradezu unerträglich geworden. Es mußte heraus. Später allerdings, als sich laut mündlicher Mitteilung Sameks herausstellte, daß solche Schuld jene Freunde weniger traf als ich geglaubt—wiewohl mir Jaray von allerlei "Plänen" geschrieben hatte —, überlegte ich es mir sehr lange und sehr ernst, ob ich die zwei Strophen nicht doch streichen sollte. (Was wäre dann aber aus "yoxx slighted grave" am Ende der vorhergehenden und aus dem Anfang der darauffolgenden Strophe geworden?) Denn es hängt ja alles zusammen. Schließlich begnügte ich mich damit, den kleinen Prosa-Anfang zu verfassen, welchen ich hier in Abschrift beilege. Und da es sich nun seit dem Krieg immer mehr zeigt, wie berechtigt die Klage—die Anklage—jener Strophen im Grunde doch war, so muß ich frei gestehen, daß es mich nicht reut, sie belassen 326 zu haben. (Das Gedicht enthält manches, was mich sehr stört.) Dazu gehören aber nicht die drei Schlußverse. Ich bitte nur zu glauben, daß da kein einziges Wort, kein einziges Satzzeichen konstruiert ist. Sie sind sich doch gewiß über die Form des Ganzen klar: welches zwischen zwei Sonetten eingefaßt ist Die Stimmung des Eingangsgedichtes lebt wieder in den 24 Schlußversen auf, nur mit engerer Beziehung auf den Hauptinhalt des Dazwischenliegenden. Es ist kein bloßes Anhängsel. Für sich allein könnte es unmöglich stehen, und es folgte ganz ungezwungen und organisch dem unmittelbar vorhergehenden. Auch hier glaube ich zu verstehen, wie Sie die Schlußverse empfinden, nur daß ich es leider noch weniger mitempfinden kann, als in dem anderen Falle. Seien Sie doch bitte überzeugt, daß meine Unnachgiebigkeit keine starre Rechthaberei ist. Ich bin für ernste, wohlwollende Kritik von kompetenter Seite—und als solche erkenne ich Sie, mit Ihrem künstlerischen Feingefühl, mit Ihrem ausgeprägten Sinn für das Richtige und Passende, mit Ihrer—wie ich es der "Kopistin" gegenüber bezeichnete—wonderful appreciative sensibility:—als kompetente Kritikerin erkenne ich Sie also ohne Weiteres an, und bin, wie gesagt, von solcher Seite für jede Kritik empfänglich und dankbar. Die der Kopistin selbst war bisher die einzige Kritik, auf die ich als in jedem Sinne konstruktiv hören konnte, auf die ich immer achte, die ich oft befolge (bis auf gelegentliche Einwände gegen Satzzeichen!) und um deren Meinung und Rat* ich immer wieder bitten muß. . . . Nun, die drei Verse will ich nicht verteidigen, sie nur ein wenig erläutern, ohne aber sicher zu sein, damit Ihre Zweifel aufzuheben. Zunächst wäre also festzustellen, daß mit der Wendung "the sky hangs frightening near" Thierfehd nicht gemeint war (daß sich ähnliches in dem Gedicht Landschaft befindet, war mir in dem Augenblick, da ich die Worte schrieb, nicht einmal bewußt): es war bloß die eigene Stimmung—der Schreibtisch steht zwischen zwei Fenstern; wenn ich bei Tageslicht schreibe, wie eben damals, sehe ich während des Schreibens oft zum Fenster hinaus—und drohende Gewitterwolken hingen sehr niedrig am Himmel; die drohende Hitlerwolke schwebte über der Welt: Im Kontrast daß, der Frühling, die blühenden Zweige, der ewige herzzerreißende Ruf der Vögel (die "wieder da" waren), die Blumen auf dem Tisch, die Weidlingau-Atmosphäre, der "Glockenblumenkorb" Vallorbe, die Stimmung der Wiese im Park Ring blue: gewiß steht das "alles läutet blau" in diesem Gedicht; aber in der Epistle finden sie eine Stelle, wo es heißt, daß sich ihm nun the blue portals of 327 Weidlingau wieder weit geöffnet haben. Nein, ich kann nicht finden, daß da nicht alles zusammenhängt—in sich selbst und mit dem Ganzen. Und ich habe mir die redlichste Mühe gegeben, es anders zu finden. Damit sei aber gar nicht gesagt, daß Sie mit Ihrer Kritik unrecht haben; nur daß ich ihre Richtigkeit nicht einsehen kann. Das liegt wohl an mir—an meinem Stumpfsinn (nicht Starrsinn) einer vielleicht gerechten Kritik gegenüber. Das alles dürfte als Argument kaum schlüssig sein, ist aber nicht als Argument gemeint. Warum On Reading Karl Kraus in die kleine Sammlung nicht aufgenommen wurde? Es wurde natürlich erwogen, aber gegen die Aufnahme sprach—für meine Entscheidung bestimmend—die Tatsache, daß das Bändchen eine Anzahl von Gedichten aus Worten in Versen in englischer Nachbildung enthalten sollte, und—ich wollte mir eben keine Blöße geben: Das Gedichtchen sollte von den Nachdichtungen nicht länger gestraft werden! Daß Ihnen aber die beiden Stücke so viel zu geben scheinen, freut mich ungemein. Ihre tiefe Einfühlung und deren Ausdruck ehrt mich und vermehrt nur die immer wachsende Dankesschuld. Sie fragen, ob man hier weiß, wen man hat, und ob ich ganz allein stehe; ob es hier überhaupt Lyriker gibt. Darüber will ich mich ein nächstes mal gelegentlich äußern, müßte aber, um es halbwegs befriedigend zu können, etwas ausführlicher über mich selber sprechen, was ich bisher vermieden habe und immer gem vermeide. Wenn Sie es aber wollen—ich kann Ihnen ja nichts abschlagen. (Fragen Sie nur immer, was Ihnen einfällt, und halten Sie j a niemals mit Einwänden—gegen Gedichte, Ansichten oder was immer— zurück.) Und nun soll ich die Noten zum Papagei doch bekommen! Ihre Güte ist j a endlos! Hoffentlich haben Sie sie nicht erst abschreiben müssen? Schönsten Dank! Jetzt kann ich wieder zu den Anmerkungen zurück. Wann Sie die nächste Sendung erhalten werden, weiß ich nicht. Hoffentlich bald. Mittlerweile werden sich die anderen Freunde und Bekannten, die auf Briefe warten, halt gedulden müssen. Herzlichst AB 328 *d.h. um der Kopistin Rat—(ist das ein Deutsch! Bitte um Entschuldigung: bin müde, es ist spät geworden—Can you read this hideous scrawl of mine, with all the crossing out and the marginal corrections?) Tuesday night, 16th. [March 1948] Despite what my little guardian angel wrote you the other day, I must send you this brief word in all haste, to acknowledge and thank you for the letter of 10th & 12th with the excerpts of 1915, which reached me safely this afternoon. Every word, whether typed or pencilled, heartbreaking. You are constantly in my thoughts these days and nights, my dear. God grant that all may be well with you, and that your courage sustain you. "Segen deinem stolzen S c h r i t t . . . ! " I was dragged off to hospital much against my will and over my most energetic protests. But it seemed the only way. Without laboratory tests and clinical examination the doctors could not be sure what, if anything, might be wrong, or whether the condition had become worse, though I felt fairly sure that I was in no danger. As usual, I was rightW (Das klingt drastischer als es ist; kenne ich doch viel länger und besser als die Ärzte alle meine leidigen Zustände.) The whole trouble seems to have been purely nervous: I had been "overdoing" it, had been sleeping wretchedly and was simply overtired. You are not to feel at all alarmed. Meanwhile I have been working at my poor little notes on the letter-extracts—very slowly perforce, I fear —; and I must beg your kind patience and indulgence. The dog-pictures! Yes, by all means! Of yourself first of all, with the dogs; and then, if possible, one of May-May with them. How I wish that you might have the dogs now, or at least others in their place! Das ist eben anders, als bei den Menschen: ein guter Hund ist immer ein guter Ersatz für einen guten Hund . . . .But don't send the Kokoschka edition of the Ch. Mauer—die Zeichnungen sind ein Mistl Auch wenn sie gut wären, wären sie überflüssig.—Nevertheless, many thanks for the kind and friendly intention. Anbei die Zeitungsschmockerei und den Brief Fischers zurück, mit herzlichstem Dank. Ein Ausnahmemensch i. der edle Ficker. Über den heutigen Brenner gelegentlich einige 329 Bemerkungen; unterstreiche aber jedes Wort, das Sie darüber schreiben. F. hat mir die "Folge" 1946 zustellen lassen; ich konnte aber leider die Heuchelei nicht aufbringen, mich dafür höflich zu bedanken. Wie hat sich dieser feine, geistige Mensch [sich] dem "Kirchen[. ] " ausgeliefert! God be with you and watch over you. AB A note today from M.L. in London. I had suggested my publisher in New York as a possiblity for the English translation of her Sybaris, and advised her to write to Samek and ask him to act as intermediary. S. is a personal friend of the publisher, with whom I am on no terms at all—er ist mir zu schlampig.—M.L. writes that she acted upon my suggestion at once. Now let us hope the best for her and her translation and the best, always for Sidi! 24. III. 48, nachts Wie viel habe ich Ihnen wieder zu danken, Sie Gute und Gütige! Und kann es nicht! Gestern der wunderliebe Brief vom 18. und die Ballade, heute die 2 1. Photos! Wie schön, wie gelungen ist die Ballade gesetzt (von "N.N.")—und die Melodie ganz dem Text angepaßt (ihre Ironie grenzt schon an Offenbach)—welche glückliche Mutierungen von einer Tonart in die andere, um schließlich in der ersten auszuklagen. Kaum möglich, sich vorzustellen, daß er keine Noten las. . . . Die Photos! Es wird mir schwerfallen, mich von den 11 zurückverlangten zu trennen, insbesondere von "Sidi mit dem slovenischen Leierkasten"! (Man erlaubt aber, daß ich sie noch einige Tage hier behalte?) Die lieben, lieben großen Hunde! Von welchen Rassen waren Flock und Ryri? Bisher haben Sie von diesen beiden noch nicht gesprochen. (Flock scheint ein ganz besonderer Liebling gewesen zu sein; aber alle sind herrlich.) Herzlichsten Dank für das Sidi Portrait mit Rosen und Widmung (ein so liebliches Wesen—quite other-worldly). . . . Herzzerreißend aber das Bild von ihm, im Bademantel, mit dem Schnauzerl unter Trauerweiden—so leidverloren die Züge! Herrlich, herrlich, die vielen Trauerweiden, hier und an anderen Bildern—und wie müssen sie jetzt 330 erst trauern! . . . Es freut mich auch, den schönen Bruder Charlie und den alten Diener hier kennen zu lernen; nun wollte ich auch gern wissen, wie der andere Bruder, Johannes, aussah. Endlich—nach so vielen Jahren—daß ich mir vorzustellen versuche, wie M.L. 1921 aussah. Das winzige Gesichtchen unter dem Riesenhut verrät aber die Züge nicht; und so weiß ich noch immer nicht, wie sie aussieht und wie sie aussah. Zwar ist dem "Rendezvous im Zoo" eine schlechte Reproduktion eines offenbar scheußlichen Porträtgemäldes beigegeben (ich will nicht glauben, daß es ihr ähnlich ist, oder war); und während des Krieges 1914-18 sah ich eine Porträt—Lithographie Kokoschkas, die sie darstellen sollte; es war aber so verschwommen, ("blowsy" is the word for it), und so verzeichnet, daß man sich darunter gar nichts vorstellen konnte. Nein, die anderen Freunde werden sich nicht darüber ärgern, daß sie Ihretwegen so lange auf meine Briefe warten müssen, denn bis auf zwei ganz vertraute[n] und verschwiegene[n] wissen sie nichts davon. Und selbst diese wissen nicht, daß ich Ihnen oft schreibe; nur daß ich von Arbeit sehr in Anspruch genommen bin, daß ich viele Korrespondenten habe und daß ich mich leider möglichst schonen muß. (außerdem—was keinen angeht —, ist diese meine wichtigste Korrespondenz geworden. Hoffentlich tritt nichts dazwischen, das ein Abbrechen nötig macht. Gott errette die liebe "Ertrinkende" aus dem dunklen Wasser; I think of her day and night. I trust her to tell me candidly whether this exchange of thought should continue— I have only her comfort and convenience in mind, not my own.) Geschäftsmäßig und "inquisitive" ist sie keinesfalls. Jetzt kennen wir uns doch schon so weit, daß keiner von beiden sich wegen Gesprächigkeit mehr zu genieren hätte, und wissen auch, daß wir uns kaum gegenseitig langweilen würden. Dies fürchtete insbesondere ich: darum habe ich bisher so wenig rein Persönliches von mir erzählt. Doch bin ich schließlich auch nur ein Mensch, und wie jeder andere, ergreife ich gern—dem richtigen Hörer oder Leser gegenüber—die Gelegenheit, privatim Mitteilungen über mich zu machen. Also, was man nur wissen will, das frage man frei und ohne Zögern. Es wird nicht als "Neugierde" aufgefaßt werden; im Gegenteil: ich würde mir was darauf einbilden! . . . Sie hingegen können mir nie zu viel, nie genug mitteilen: keine Rede davon, daß ich mir die Ohren verstopfen oder die Augen verkleben möchte! . . . Es ist so unendlich viel nachzuholen— weiß Gott, ob ich jetzt j e dazu komme. Ihre letzten fünf oder sechs Briefe liegen da auf dem 331 Schreibtisch, und ich will auf jeden im Einzelnen eingehen; habe es aber leider bisher nicht können. Mir ist das alles äußerst wichtig. Bald aber dürfte die Arbeit, die mich seit dem Herbst so sehr beschäftigt hat, so weit sein, daß ich, ohne immer wieder Unterbrechungen furchten zu müssen, Ihren mir so lieben Briefen, wie auch meinen Anmerkungen zu den Exzerpten, ernstlich zuwenden kann. Ich bitte einstweilen um Geduld und Nachsicht; auch um Entschuldigung, daß ich in letzter Zeit immer so karge Antwort zu senden gezwungen bin. Es geschah nicht gern. Music tears me to pieces too. But I find such an effect upon me wholesome. It is a catharsis, a purgation of the spirit. Not all music affects me thus, of course. But there are passages in Brahms, Beethoven {das letzte Quartett), F dur, No. 16!), Chopin (and others) that utterly overwhelm me. You will note how I stress Brahms. An "eclectic", "epigone", the classical purists call him. Very well—but in all music he seems closer to my heart and soul than anyone else. The opening passage of the slow movement (solo-violoncello!) of his Second Piano-concerto is a cry from the very depths: de proftmdis, domine!—das mich immer ganz zerknirscht mit seiner reinen Schönheit eines zuversichtlichen Flehens. It saddens me to learn that you no longer play, that you cannot bring yourself to it. Don't you think the effort might be worth making? That you might perhaps find it helpful? But I mustn't try to persuade you. Sie wird schon wissen, was sie tun oder lassen kann, will, muß. There is so very much more to say, but it has grown late; I am overtired after a hard day's work. Another time, soon. May all be well with you—in all ways. Good night. AB Ich merkte erst später, daß das Exemplar der Ballade von KK. signiert istl Wie soll ich mich dafür bedanken! Unmöglich! Umschlag: No snowdrops yet, nor any green. But the robins are out and are beginning timidly to sing. 332 Lawrence, 2. April 1948 My Dear — I write in haste and can manage only a few lines; hence this "scratch"-paper, for which I ask your indulgence. This is to be but a word of protest, which I trust you to understand as it is meant: Indeed, you do our dear little Einodis a grave injustice in blaming her for my recent not at all serious attack. I was in hospital less than 24 hours, and was sent there (over my vigorous objection) for a mere clinical examination and some laboratory-tests, which could not have been made at home. There has been no deterioration of the general condition; but I was told that I had been over-tiring myself and that I must relax more than my somewhat too energetic nature had been willing to permit. (I asked Miss Francis to let you—as well as others—know of this, for fear that my friends might become troubled by a possibly protracted silence. That is all there was to it.) Einodis had nothing to do with it—I ask you to believe that—, and it is unbearable to me to think that you should blame the poor child for any fluctuation in the state of my health. Remember how little there is we can do for her, despite all our devotion to her (and him); and if she wants my letters—if they can bring her the least help & cheer & comfort —, she shall have them, though for the present they must come to her less frequently than before and cannot be very long, alas. . . . At the same time she does not know, perhaps, how greatly her letters cheer and comfort me, and how eagerly I look forward to receiving them—how thankful I am for the blessing of her friendship. If you should be in communication with her, you might let her know that (without letting her feel that there is ever any obligation on her part to write, unless she is in the mood, with sufficient time on her hands to spare me an hour of her day)—but, please: no word or hint of reproach against her; I can't have that —; and my love to her. And to you too! May all be well with you. It is my constant prayer. AB Miss Francis asks me to thank you most cordially for your dear note of the 22d March. 333 * Was ich längst fragen wollte: Sind die Zigaretten eingetroffen? Wenn ja, lasse ich weitere besorgen. So schlimm ists ja vorläufig nicht, daß man nicht alle paar Wochen eine Schachtel senden könnte. Über amerikanische Lyrik nächstens einmal. Leider nichts Erfreuliches! Just received letter from John (29. 3.), and am opening this again to let you know of it . I shall suggest to him that it would be just as well to say as little as possible about his family troubles—they could make matters very difficult for him if they should learn of it, which they won' t from me, of course. Am naturally greatly concerned, and only trust that our Einodis may not be too seriously drawn into the hideous muddle. She must by all means be careful of herself, and not wear herself out. Wonderful, that Oscar S. should make such a splendidly generous offer! If only it could be accepted (and if only / could help)! But I very much fear that she would not be able to breath in this atmosphere of greed and grab (Dazu muß man von Natur prostituiert sein!) Rather England, France, or Switzerland than U.S.A.!—A 110 page letter! Good God!! But I should like to see it. I never hear from Oscar. Der schreibfaulste Mensch, den ich kenne!—Alles Liebe. IV. Fortsetzungen zu den Anmerkungen Zu Briefen, Wien, 24.-3I.V. 16 (Nachtrag zur Fundverheimlichung): Prosaabhandlung und Gedicht gleich schön, gleich wertvoll, trotz aller Ähnlichkeit aber ganz verschieden.. . . Die Briefstellen rührend. Welche Liebe und Hingabe! . . . . Schon immer war klar—d.h. bereits bei erster Lektüre des Gedichts: Als Bobby starb—daß sich jene Stellen in den beiden Fassungen der Fundverheimlichung auf Bobby beziehen. Wie ergreifend ist das alles, und wie hat man stets diesen erhabenen Geist, dieses große Herz verkannt! Brief, Wien, 2. XII. 15: Zu den Krankenschwestern fällt mir plötzlich ein, daß sich bei mir vor Jahren ein Hitlerflüchtling aus Paris über die "Ungerechtigkeit" von jener Stelle in diesem Gedicht von den "zehntausend Juden" brieflich beklagte (als ich gelegentlich einiges 334 gegen eine gewisse Sorte von Juden vorbrachte). K.K. hat es seinen Anhängern (und dieser war einer und ist es auch geblieben) gewiß nicht leicht gemacht sich hinter und zwischen seinen Worten zurechtzufinden; aber gerade dieser Mensch, der ein wahrer und feiner Geist ist, hätte es doch können sollen und sofort begreifen müssen, wie jene Stelle gemeint ist, wie sie eben damals gemeint sein mußte. Ob ich in meiner Antwort es unternommen habe, meinen Korrespondenten aufzuklären, weiß ich nicht mehr. Zu Briefen, Wien, 5. u. 22.VII, 1./2. XII 15. und 21./22.XI. l14 (Extraausgabe —! und In dieser großen Zeit): Von dem Inhalt der Briefe selbst abgesehen, doch als Bemerkung zu den Kriegsheften im allgemeinen: Daß dies in Österreich erscheinen konnte, läßt sich schließlich begreifen; ja daß sie aber in Deutschland überall aufliegen, ja daß sie auch nur über die Grenze geschaffen werden konnten, verstehe ich bis heute nicht! Ganz und gar aber steht fest, daß Ähnliches in den Ländern der damaligen Entente (von diesem intolerantesten und engstirnigsten aller Länder nicht zu reden) während des Krieges '14 - '18 keinen Augenblick geduldet worden wäre. Eine Anomalie, in der sich zurechtzufinden, kaum möglich ist, die aber die damaligen Zetralmonarchien wenigstens in diesem einen Punkt, von den sogenannten Demokratien (ich habe dieses scheußliche Wort in den letzten Jahren mit meiner ganzen Seele hassen gelernt) sehr zu seinem Vorteil abhebt. Briefstelle 5. Juli 15, nachts (Untergang der Welt): "Und wie es wachsen wird durch die Teilnahme eines einzigen (des einzigen) Menschen, von dem es sich gefühlt weiß, also mehr als verstanden."—Wie passt das doch aber auch auf mich! Denn mit dem "Verstand" habe ich sogar bis heute manches nicht ganz erfaßt; mit dem Gefühl allesl . . . Von der Schönheit und der Liebe, die diese Briefstellen (zum Untergang der W.) in jeder Silbe atmen, bin ich ganz zermürbt. Das klingt übertrieben, "überspannt"; doch so ist es. Zu Alle Vögel: Von jeher eines meiner Lieblingsgedichte der Worte in Versen. Wie danke ich Ihnen, daß ich jetzt auch von dem ersten Antrieb dazu erfahren darf! . . . "In jedem Ton meine ganze Kindheit'—-wie das einem zu Herzen geht! Man hat j a selber Ähnliches so oft 335 erlebt.—Und solche holdselige Übertriebenheit, die aber so ganz exakt die Stimmung und den Gemütszustand beleuchtet: "Ich gebe alle Rubinsteine für dieses K o n z e r t . . . Jetzt spielt der Bub unten das Lied auf der Geige. Was ist ein Paganini dagegen!" Denn gegen so liebliche Reminiszenz sind freilich alle Paganinis und Rubinsteins weniger als nichts! An einen alten Lehrer: Überhaupt, mit welch herzbewegender Treue und Liebe er an den Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend hing. Ich glaube bestimmt, daß der eigentliche Adel des geistigen Menschen hauptsächlich in der Unfähigkeit liegt, sich von einer glücklichen Kindheit zu trennen, gelegen ist.—Immer schon wollte ich gerade dieses Kleinod von einem Gedicht an seinen alten Lehrer nachbilden. Es ist mir noch nicht gelungen. Metrum und Rhythmus dieser antiken Form sind im Englischen fast unmöglich, wenn überhaupt, wiederzugeben, und ich könnte mich da auf keine Kompromisse einlassen. * Briefstellen zu Memoiren: Beleuchten freilich manches, wenn auch nicht immer mir einleuchtend (da fehlts natürlich an mir). . . . Aber sich so schön aus solcher Selbstqual erlösen zu können, ist eine so große Gnade, ein so unerhörter Segen, daß die Empfänger der Gabe für die vorausgehenden Leiden eigentlich dankbar sein müßten—so grausam das auch klingen mag. Übrigens zu "Einodis". Daß Einöde und öd nichts gemeinsam haben, weiß und wußte ich ja. Doch kann eine Einöde auch öd sein, wenn sie etwa nicht als Zuflucht, sondern als Verbanntheit , Wüste (ohne Oase) gedacht wird. So verschieden die zwei Wörter etymologisch auch sind, ist die Klangähnlichkeit doch manchmal zu bedauern, die sich dem Gehör nun einmal eingeprägt hat und gegen die nicht leicht anzukämpfen ist; und meinem Ohre verbindet sich unwillkürlich allzu oft mit dem Klang die traurige Bedeutung der Endsilben von Einöde. (Aber "Einodis" ist trotzdem schön.) Baldmöglichst mehr. Kann leider nicht viel auf einmal schreiben. 5. April 48 336 Dankwort zum l .und 28. April 1934 Für Sidi N. Zum 28. April 1948 In Dankbarkeit AB Lawrence Fern ahnte ich sein hohes Wort mir nah und harrte träumend. Plötzlich stand es da. So war's! Nicht willenlos ich mit ihm ging; ich gab mich froh, als ich den Geist empfing. Er war, ihn einzufangen, nie mir nötig, mich mitzunehmen war er stets erbötig. Gern wartend bis er mir entgegenkam, dank ich ihm, daß er mich gefangen nahm! Sein Wort durchdrang den Traum, daß ich erwache, und lenkte tief in meine Muttersprache. Sie ließen, was ich muß, weit freier sagen; die seine läßt mich nur verzweifelt fragen. Drum muß mit seinem Wort in seiner Art ich huldigen so hilflos reimgepaart: Sein Tag, da es nun Abend werden will, erglänze hell wie damals im April! 337 Wie heilig strahlt er mir, seit mir gegeben, ihn zu begleiten durch sein lichtes Leben! A.B. 19. März 1934 Dies sandte ich damals zum 60. Geburtstag, und habe es jetzt für Sie herausgesucht. Vielleicht kannten Sie es schon? Es hieß damals, die kleine Unbeholfenheit hätte ihm Freude bereitet und daß er sie Bekannten und Freunden gezeigt habe. Vorläufig diene die Abschrift als Lebenszeichen und innigen Gruß bis ich wieder schreiben kann; und als Dank für den schönen Brief vom 1./2., der gestern ankam So soll ich nun auch Bilder von Johannes und M.L. zum Anschauen bekommen! Ihre Güte ist endlos! . . . Und die Zigaretten sind also doch endlich angekommen. Schön! Nächstens wieder welche.—Und alles, was man fragen will, soll beantwortet werden. Indiskret? Keine Spur! Nur bitte ich um Geduld und Nachsicht. Im Augenblick gehts nicht ganz nach Wunsch. Eine schlimme Nacht hinter mir. Alles Liebe. 7. IV. 5. Fortsetzung der Anmerkungen Zur Briefstelle, Wien, 2./3. Nov. 16 (Abenteuer der Arbeit): Dieser Passus ist von ganz besonderer Schönheit und tiefbewegender Einsicht. Allein jene, welche die Abenteuer über solche Wunder wie Memoiren, Springbrunnen, Abschied und Wiederkehr stellt, scheint mir keine Einsicht, sondern einfach ein Irrtum zu sein: denn sie sind alle gleich schön, gleich unerreichbar groß, gleich wunderbar. Die Abenteuer aber gehören in eine ganz andere Kategorie seines lyrischen Schaffens als jene, und man dürfte 338 die zwei Kategorien gar nicht vergleichen—so wenig wie man ein vollkommenes Exemplar irgendeiner Gattung mit einem vollkommenen Exemplar irgendeiner anderen Gattung logisch vergleichen darf: etwa Erdbeeren mit Pfirsichen (es sind ja beide Obst), oder ein Percheron-Lastpferd mit einem Neufundländer (beide sind j a Tiere): und der eine mag diese, der andere jene Gattung "bevorzugen", aber eine Vergleichsmöglichkeit ist nicht gegeben. Allerdings läßt sich leicht begreifen und dem schöpferischen Geiste zugutehalten, daß ihm gerade das, was er jeweils in Arbeit hat, als das Schönste und Wichtigste gilt, vorzüglich, wenn, wie hier, Großes mit Großem—und seien sie beide, wie eben hier noch so inkommensurabel—verglichen wird. Zur Briefstelle über Mythologie (18J19. Nov. 16): Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich dieses Gedicht nachgedichtet hatte und Theodor Haecker das Manuskript der Übersetzungen—auf meinen Wunsch und über Empfehlimg von K.K.—durchsah und kritisierte, wie Haecker am Rande bei verschiedenen Stellen das Verlangen nach "mehr Jargon"!" anbrachte. Zwar waren und sind jene Stellen im Jargon gehalten, nur daß ihn Haecker offenbar nicht zu erkennen vermochte, was mich allerdings insofern überraschte, als sie jedenfalls ein hundsmiserables Englisch sind und sein müssen; eine Tatsache, welche Haecker doch hätte erkennen sollen. Oder aber, er hatte gleichbedeutende Jargonausdrücke erwartet, die wir einfach nicht im Englischen haben, oder die, wenn wir sie haben, wieder ich nicht kenne. Denn ich mußte ja ohne weiteres gestehen, daß ich im englisch-amerikanischen Judenjargon nicht bewandert bin, weil er hier nicht so in die Landessprache übergreift wie anscheinend in Wien oder Prag; und so war ich gezwungen, mich mit den paar Fetzen zufrieden zu geben, die im Laufe der Zeit allgemein verständlich geworden sind, die aber wahrscheinlich bei weitem nicht die Vollkraft des Deutschen oder Wienerischen Judenjargons erlangt haben. Zum 2. Sonett der Louise Labe: Immer unfaßbar war es mir, daß Rilke überhaupt imstand sein konnte, solche Verse zu machen! Was immer man gegen ihn als Lyriker sonst einwenden mag (und dessen gibt es wahrlich genug), war Rilke doch allenfalls ein Mensch von aesthetischem Geschmack und 339 von dichterisch-technischem Anstand. Dieser Versuch aber ist der armseligste, erbärmlichste, niedrigste Dilettantismus. Unfaßbar! . . . Übrigens war diese Nachdichtung von K.K.—"nach dem französischen Original und einer vorhandenen Übersetzung"—die erste Anwendung seiner späteren Methode, die so unvergleichlich bei den Nachdichtungen der Shakespeare-Sonette zur Geltung kam. . . . Auch ich bediente mich bei meiner Nachbildung des 2. Sonetts dieser Methode, indem ich mich bei dem Versuch nicht ausschließlich an die deutsche Version von K.K. hielt; und der Genius der englischen Sprache, die der französischen in manchem etwas verwandter ist, hatte es ermöglicht, dem Original hie und da ein wenig näher zu kommen, als es meinem sonst viel besseren und schöneren deutschen Vorbild vergönnt sein konnte. Zur Briefstelle, Wien, 15. 16. März 1929 (Literatur): Nie—und wenn ich eine Ewigkeit lebte—würde ich jemals den Eindruck jener ersten Vorlesung von "Literatur" noch deren 'Verheerende" Wirkung vergessen! Das Wort 'Verheerend" ist fast eine Untertreibung: der Tumult an jenem Sonntagnachmittag im mittleren Konzerthaussaale war ein sich nicht legenwollender Orkan. (Ich kam zufallig—in einer der ersten Reihen—neben Loos zu sitzen, den ich nicht persönlich kannte, der damals anscheinend noch nicht ganz trüb geworden war.). . . In dieser Vorlesung konnte K.K. alle Farben seiner ungeheuren Vortragskunst spielen lassen—fast das Bewunderungswürdigste war, daß er es nirgends nötig hatte, seine Stimme zu verstellen, um irgendeine Gestalt unter so vielen darzustellen und von den anderen zu unterscheiden, eine Fähigkeit, welche mich bereits bei seinem Vortrag von Maß für Maß höchlich überrascht hatte. Hier—bei Literatur—war sogar die tragische Farbe nicht völlig abwesend; doch dominierte selbstverständlich die satirisch-komische durchaus. Noch nie habe ich so gelacht! Und wie dankbar stimmt es einen in den äußerst seltenen Fällen, die einem im Leben geboten werden, sein Gelächter auf einen rein geistigen Urgrund zurückführen zu können! (Unvergessen auch, wie die Vorlesung selbst, bleibt mir der Augenblick—und der Anblick —, da sogar der Vorleser das eigene Lachen verbeißen mußte. Ist Ihnen jene erste Vorlesung von Literatur nie weiter im Einzelnen beschrieben worden? Da ich jetzt weiß, daß Sie diese Premiere versäumen mußten—daß wir also damals in dem Saal nicht beide zugegen waren —, ist es 340 mir, als hätte auch ich etwas versäumt, was Ihnen wie dumme Schwärmerei klingen mag. Alle Wiener Freunde und Bekannten, die mir 1921 nicht einmal Namen waren, die ich erst nach vielen Jahren unter so tragischen Umständen kennen lernen sollte, dürften dabei gewesen sein—Sie fehlten, was wieder wie ein noch dümmerer Vorwurf anmuten könnte, aber weiß Gott nicht so gemeint ist.). . . Merkwürdig ist der Umstand, daß ich bei der Vorlesung—denn der gedruckte Text erschien erst später—doch alles verstehen und erfassen konnte, ohne auch nur mit der Hälfte der doch so wichtigen Jargonausdrücke vertraut zu sein. Noch heute sind mir die allermeisten nicht geläufig (ich habe mir seither den oder jenen von Wiener Freunden in New York erklären lassen)—wie auch sehr viele Ausdrücke des Wiener Dialektes. Solche Unkenntnis erschwert freilich, und oft sehr empfindlich, das Verständnis des an und für sich hinlänglich schwierigen Textes der Fackel (man ist eben dann nicht ganz "im Bild"), besonders für den Sprachfremden, der ich ursprünglich war, aber—wie sagt doch der Wiener—da kann ma halt nix machen. In Deutschland—jedenfalls in Süddeutschland, wo ich mein pied-ä-terre hatte (München) und wo ich mich während all der Jahre am meisten und am längsten aufhielt—scheint es überhaupt keinen Judenjargon gegeben zu haben, oder aber ich bin ihm nicht begegenet, wenn er vorhanden war. Die paar Juden, mit denen ich dort dann und wann zusammenkam, waren Kulturmenschen oder hatten wenigstens Gymnasialbildung genossen. Auf die wunderbare Rettung der Wunderbaren'. Daß diese Verse M.L. galten, freut mich, da ichs jetzt weiß. Denn nach ihren Schriften zu urteilen, ist sie ein ganz wunderbares Geschöpf—einzigartig^. Insbesondere freut mich, daß wir es Ihnen und Ihrem Bruder verdanken, daß uns, die wir diese Schriften, und den Geist, den sie hervorbrachte, lieben, deren bester und reichster Teil erhalten wurde. Ist es erlaubt, solchen, denen das Faktum sicherlich interessieren würde, hiervon Mitteilung zu machen? Die Photographien von M.L. und Johannes sind jetzt angekommen. Was sind das beide für schöne Menschen! Herzlichsten Dank. Hierüber, wie über manches andere, baldmöglichst mehr. "What's wrong", fragen Sie, "with nach Rückwärts". Es ist ein Pleonasmus—ein auffallendes Zuviel: Überfülle und abschwächende Wiederholung. Das Unterstrichene macht 341 den Pleonasmus deutlich. "Rückwärts" enthält schon den "Nach"-Begriff: deutet auf die Richtung = nach hinten = Rückwärts! Sehr Süddeutsch. Es hat mich immer gestört, ein ganz unlogische Bildung. Ich glaube K.K. hat in einer Sprachbetrachtung irgendeinmal darauf hingewiesen, aber im Zusammenhang mit einer anderen Fügung. Weiß es nicht mehr mit Bestimmtheit; habe nachgeschlagen, finde die Stelle aber nicht. Epigramm auffj Hochgebirge: Auch dieses haben wir Ihnen—wie so vieles andere—zu verdanken?! Wie unerschöpflich waren Sie doch an Anregung für den erhabensten Teil seines Werkes! Die glückliche Glückspenderin! Zu Romain Rolland: Eigentlich denselben Eindruck wie K.K.—daß er "doch ein Schwachkopf* sei—mußte ich unwillkürlich und ungern bekennen, aber schon ehe ich von Rollands Kriegshaltung etwas wußte. Denn lange vor dem Kriege hatte ich seinen immerhin stofflich interessanten aber sentimental-schmerzlichen Roman Jean Christophe und die ganz unzulänglichen Schriften Michelangelo und Beethoven gelesen. Gegen sein Herz, welches er stets auf dem rechten Fleck hatte, war nichts einzuwenden, nur allerhand gegen seinen Kopf. Sein edles Menschentum stand außer Zweifel. * Zu Trakl: Wie sich später herausstellte, hatte der Krieg—auch wenn Trakl nicht ein unmittelbares Opfer desselben war—doch seinen unverkennbaren Anteil an dem grauenhaften Ende des armen Menschen gehabt: in dem doch Trakls unmitttelbares Kriegserlebnis das Ende beschleunigte. (Das scheint aus Fickers Darstellung in dem viel später erschienenen kleinen Band: Erinnerimg an Georg Trakl klar hervorzugehen.) * Muß hier leider abbrechen. Nächste Fortsetzung hoffentlich recht bald. Alles Gute! AB 18. April 1948—in 10 Tagen haben wir den 28.! Wir werden beide an ihn denken, und ich an Sie! 342 Lawrence, 22. IV. 48 Meine liebe und gute Freundin, zunächst muß um Entschuldigung gebeten werden, wegen des gemeinen Notizblock- Papieres, welches ich aber vor dem mir verhaßten "airmail-notepaper" bevorzuge. Hoffentlich darf ichs weiter benutzen? Oder vielleicht ist mir gestattet, mich dann und wann meines fabelfhaft bequemen gelben Konzeptpapiers (fur Manuskripte) zu bedienen—es schreibt sich darauf so leicht! Selbst auf meinem von mir persönlich gewählten, bedruckten Korrespondenzpapier schreibe ich nicht besonders gern. Also bitte bitte! Für den lieben Brief vom 15. und die vier kleinen Photos (die ich im Gegensatz zu Ihnen sehr gut finde) herzlichsten Dank! . . . Das eine aber verstehe ich nicht: daß Sie jetzt, verlassen und allein, ganz ohne Freunde dastehen sollen. Ich will aber trotz der Versicherung hoffen, daß das nicht wörtlich zu nehmen ist, denn auf den Bildern sind der Gf. K., den ich, wie ich glaube von früher erkenne, und Dr. T., den Sie doch einmal, wenn ich nicht irre, als guten und treuen Freund bezeichneten. Und diesen haben Sie zu Ostern besucht. (Übrigens, ist dieser Gf. K. etwa mit jenem "Sascha K." verwandt, von dem in den Letzten Tagen ein paar mal die Rede ist? Irgendein Wiener Trottel—"Poldi Fesch"? will immer mit dem Sascha in der vergangenen Nacht gedraht haben. Nun soll dieser Brief hauptsächlich aus Antworten auf Fragen bestehen.—Zuerst, was die Farbe Ihrer Augen betrifft. Ich weiß nur, daß sie hell-grau oder blau, oder grau-blau oder grünlich-grau —, schön und sehr ausdrucksvoll sind. Nach einer Photographie kann man nur mit Bestimmtheit sagen—und auch dann nicht immer, daß Augen hell oder dunkel sind. Also, welche Farbe haben dann Ihre Augen eigentlich, oder spielen sie abwechselnd (wie die meinen) alle drei, oder alle drei z u s a m m e n ? . . . Schwerer (und zugleich leichter) zu beantworten, ist Ihre zwar nicht gestellte aber angedeutete Frage: wie mir das Gesicht M.L.'s gefalle. Mein Schutzengel Anna, die in M.L. als Geist und Schriftstellerin geradezu verliebt ist, verteidigt mit großer Hartnäckigkeit und guter Logik in jedem Bild jeden Zug. Nun, wenn man etwas verteidigt, muß ein Gegner da sein, der das zu Verteidigende angreift—und der Gegner bin diesmal ich. Zwar ist auf 343 diesen Bildern M.L. schön, sehr schön (wenn ihr auch auf dem einen der Hut, auf dem anderen die Frisur nicht zu stehen scheint)—das nimmt schon der erste, flüchtige Blick wahr. Nur ich bin weiß Gott kein Physiognom, und bilde mir keineswegs ein, aus den Gesichtszügen eines Mitmenschen unfehlbar Schlüsse auf seinen Charakter ziehen zu können. Es gibt aber Gesichter, die man auf den ersten Blick haßt, die eine spontane Aufwallung des Hasses gegen den Menschen selbst auslösen. (Das trifft hier natürlich in keiner Einzelheit zu.) wiederum gibt es Gesichter, die, ohne Haß oder Widerwillen zu erwecken, eine gewisse Unbehaglichkeit erzeugen, sogar ein wenig abschreckend wirken— und dies trifft allerdings hier zu, vorzüglich bei dem Profilbild in Abendtoilette. Es ist ja , trotz Frisur, ein wunderschönes Profil, aber man empfindet eine leise Angst davor (d.h. ich empfinde sie). Es ist etwas in dem Blick (welches in den beiden anderen Bildern gar nicht vorhanden ist), und in der hervorstehenden dünnen Oberlippe, die dem schönen und vor allem interessanten Antlitz etwas abstoßend Gieriges verleihen. Nun aber straft dieses Bild die zwei anderen Lügen: diese haben nichts Gieriges, nichts Abstoßendes; sie schrecken nicht ab, flößen keine Angst ein—sie sind bloß weniger "schön" als das andere; das eine (ohne Kopfbedeckung) wirkt mild und gütig, das andere (mit Hut) zeigt kontemplative "brütende" Augen. Aus allen drei Photos werde ich nicht klug; aber die Schriften geben mir völlig befriedigenden Aufschluß (wie in dem mir wesentlicheren Fall K.K.—nur daß in seinen Bildern kein Widerspruch zu finden ist). In dem Charakter M.L. 's sind gewiß einige Härten, aber kein Zynismus; und das Harte und Scharfe scheint mir immer von großer Liebe, von sicherer Erkenntnis gemildert zu sein. Der Autor von An der Leine, Der Stürmer, Kindheit—um nur die drei allerrührendsten Schriften zu nennen—ist nun einmal nicht diese Frau in Abendtoilette, die der Welt ein Harpyenprofil zeigt! (Ich bin zu glauben versucht, daß daran die Photographie schuld ist: das Bild wirkt eigentlich wie eine ungünstige Momentaufnahme.) Dieses Harpyenantlitz ist aber niemals meine—unsere—Mechtild Lichnowsky, das weiß ich, der sie nur aus ihren Schriften (und ein paar neutral-freundlichen Briefen) kennt. Von ihrem persönlichen Leben weiß ich nichts weiter, als daß sie die Gattin des deutschen Botschafters in London war und daß sie jetzt dort als Witwe [nach] einem britischen Offizier (das habe ich von Samek) lebt; auch, daß sie aus Niederbayern s tammt— 344 sonst nichts. Und anscheinend will sie nicht, daß ihre Leser von ihrem Privatleben mehr erfahren, als was aus ihren Büchern hervorgeht. Vor einiger Zeit fragten Sie mich, ob es denn hier überhaupt Lyrik und Lyriker gebe. Ich versprach, Ihre Frage gelegentlich zu beantworten, habe sogar ein paar zeitgenössische Sachen aus dem literarischen Beiblatt der New York Sunday Times für Sie ausgeschnitten; konnte mich aber nicht entschließen, sie Ihnen zu senden, da ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Mist nicht lenken und Sie damit nicht langweilen wollte. Auch ist der Gegenstand an sich so zuwider und so entmutigend, daß ich mich in einem Privatbrief (bei meinem gegenwärtigen Nervenzustand) über dieses Thema des Näheren zu ergehen, Ihnen lieber ersparen möchte—es brächte mich zu sehr außer Fassung. Gewiß, Versemacher zum Schweinefüttern gibt es hier—und erst recht ihre Verse—: geschickte und ungeschickte, dumme und aufgeweckte (dunkle Snobs und traditionelle, Reimklingler, Nichtskönner und Alleskönner, kurz, alle Arten von Versemacherei, gereimt und ungereimt (aber auch das Gereimte ist meist ungereimt)—nur fast niemals eine wortdichte lyrische Zeile. Dann und wann schon und natürlich hat dieses Land in vergangener Zeit ein paar Dichter hervorgebracht, die zwischendurch echte Lyriker waren. Das merkwürdige ist, daß es zwei amerikanische Dichter waren, die besonders in Frankreich, in Europa großen Einfluß ausübten: Poe, der kaum mehr als 50 Gedichte in seinem kurzen Leben geschrieben, der aber stellenweise ein wirklich wortverbundener Lyriker war, und Whitman, den ich als uninteressanten und großsprecherischen Prosaisten, aber in keiner Zeile als Lyriker betrachte, der jedenfalls immerhin etwas zu sagen hatte, wenn es mich auch, weil es mir schlecht gesagt scheint, kalt läßt. . . . Von den noch Lebenden ist kaum einer der Rede, geschweige denn der Kritik wert. Was ich von ihnen durch die Bank halte, finden Sie in meinem kleinen Versband kurz und konzis ausgedrückt. Lesen Sie's einmal nach, wenn es Sie interessiert: Sweet Singers, unter der Rubrik, "The Black City." Dies ist ein Zyklus von 75 Sonetten, satirisch-ironisch-polemischen Inhaltes und Geistes. Donnerstag, den 25. Das war nun also die zweite Unterbrechung! Es kam zweimal Besuch, dann kamen Briefe, die rasch erledigt werden mußten—uninteressanter, geschäftlicher Natur. Zuviel auf einmal 345 darf ich nicht schreiben. Jetzt aber sehe ich (hoffentlich) wieder ein paar freie Stunden vor mir. Der diesjährige Frühling kam spät; heut ist ein so trüber Apriltag—naßkalt! "alle Vögel sind schon da", aber heute schweigen sie in allen Ästen. Dafür steht auf dem Schreibtisch vor mir eine lieblich-graziöse chinesische Vase (grün) mit weißem Flieder gefüllt, und auf der alten Kommode rechts eine schöngläserne mit lila Flieder, "bridal-wreath" (Spiraea—kennt man das dort?) und Narzissen, auch Iris. Forsythia ist bereits vorbei, und die anderen frühen Blüten auch, sogar die blauen Immergrün-Blümchen. Aber in einem Monat sind wir wieder im Osten auf dem Lande; dort erwarten uns die vielen Wiesenblumen. Außer Glockenblumen und Gänseblümchen, kennen Sie "blackeyed Susans", "Queen Anne's lace", "Yarrow", "bee-balm" (nebst vielen anderen, welche mir im Augenblick nicht einfallen wollen)? Und im Spätsommer liebe ich besonders die Distell—sowie im Frühling den Löwenzahn. Um aber einen Moment auf Mechtild L. zurückzukommen: ich merke, daß ich gesagt habe, sie hätte etwas Zynisches. Das stimmt, aber dieses Wort wird von Trotteln immer mit dem Begriff "Skeptisch" verwechselt. Das Wort "Zynisch" gebrauchte ich natürlich nicht im altphilosophischen Sinn, sondern in dem schnöd modernen; und in dem guten (philosophischen) Sinn dürfte sie wohl einen Schuß von Zynismus haben. Auf jeden Fall ist diese bedeutende Künstlerin, wie es jeder denkende Mensch im heutigen Leben sein muß, Skeptikerin; und das kann man, wie niemand besser als ich weiß—an eigener Seele, am eigenen Geist habe ichs schmerzlich erprobt —, selbst bei unerschütterlichstem Gottesglauben sein: ja, man ist oft eben durch diesen Glauben geradezu gezwungen Skeptiker zu sein—man bezweifelt alles: es bleibt nichts übrig als Gott! So jetzt kann ich weiter. * Sie wollen wissen, welche die eigentliche Arbeit sei, die ich treibe. (Es soll Ihnen nichts vorenthalten werden, wenn Sie etwas wissen wollen; nur warte ich ungefragt nicht gern mit Privat-Tatsächlichem auf.) Also—ich bin Maler, und nichts als Maler. Habe mich immer nur ganz nebenbei mit Kunstgeschichte befaßt—wenns sein mußte oder weil mich die Hintergründe des Berufs interessierten; Gedichte und anderes Geschreibe entstehen nachts, 346 da ich für die eigentliche Arbeit Tageslicht brauche. Daß ich mit ca. 25 Jahren nach München statt, wie ursprünglich beabsichtigt, nach Paris kam, wurde von einem nicht sehr interessanten Zufall dirigiert. Seit Jahren danke ich Gotte dafür. Wäre ich nach Paris gegangen und dort geblieben, hätte ich wohl K.K. nie kennegelernt (und als Folge solchen Versäumnisses auch Sie—wie sicher andere nicht); hätte wahrscheinlich heute kaum ein Wort Deutsch radbrechen können. Also bin ich, wie gesagt, Gott für jenen Zufall dankbar— der wohl eigentlich kein Zufall war: Ich spüre die lenkende Handl Die zeitgenössische deutsche Malerei hatte mir nicht allzu viel zu geben; so konnte ich, da ich schon "ausgebildet" hierher kam, mich, meist unbekümmert um die Produktion meiner deutschen Umgebung, durch Jahre ruhig weiter ausbilden, und wurde mit der Zeit von Kennern und solchen Malern wie Franz Marc als ein[en] vielversprechend[en] Künstler angesehen, obgleich ich es drüben kaum über das Stadium des Experimentierens gebracht habe; und allmählich wurde ich in den sogenannten Kunstzentren immer mehr bekannt. Dann auch außerhalb Deutschlands. Überall lud man mich als Aussteller ein, einiges von mir kam in europäische Museen, vieles in Privatsammlungen (wenn ich das meiste nur wieder erwischen könnte, um es zu vernichten!); und als ich endlich in die Heimat zurückkehrte (vor 27 Jahren), entdeckte ich zu meinem Erstaunen, daß ich hier zuhause durch meine kleinen europäischen Erfolge "berühmt" geworden war—d. h. in Künstlerkreisen. Da gab es dann auch gleich in New York eine große Kollektivausstellung meiner Bilder, wovon damals und später allerhand in Privatbesitz und Museen überging (den Rest aber habe ich seither zum größten Teil zerstört, da er mich nie recht befriedigt hatte)—kurzum, wenn ich nur ein "vernünftiger" Mensch gewesen wäre, und aufgelegt, die so günstige Chance auszunützen, anstatt, angeekelt von dem saudummen und saudreckigen amerikanischen Kunstbetrieb, mich zurückzuziehen und mich zu verkriechen: wer weiß, ich wäre im hiesigen "Kunst"leben heute vielleicht eine "Nummer", eine große Kanone und würde darin eine ausschlaggebende Rolle spielen, (von welcher Vorstellung mir immer speiübel wird). Ich glaube aber, aufrichtig gesprochen, daß mir solche Gefahr nicht ernstlich drohte; denn ich konnte nie Mitmacher sein, weder im akademischen Sinne, noch im Sinn der fashionabel gewordenen modernen Kunstmode; und allmählich kam man dahinter, daß ich eigentlich überhaupt kein "Modemer" sei, sondern im Grunde konservativ-traditionell, mit einer kaum 347 verborgenen Neigung zum Klassischen, die sich allerdings in dem Idiom—wie in meinen Versen—des heutigen Tages ausdrückt. Ich habe mich also mehr und mehr zurückgezogen, und man kümmerte sich immer weniger um mich. Freilich gibt es durch all die Jahre eine kleine aber erlesene Anhängerschaft, die jetzt sogar im Wachsen begriffen zu sein scheint, und mich teils richtig einzuschätzen imstande ist, mich aber zum anderen Teil überschätzt, indem ich ihm als [den] größten lebenden amerikanischen Maler" gelte—was mich aber selbst dann nicht größenwahnsinnig machen könnte, wenns hier (oder auch sonstwo) wirklich große gäbe; denn ich weiß schon was ich bin, und kenne meine Kräfte besser als sonst einer. . . . Ja, werden Sie nun wohl fragen: wie kommt denn ein Maler dazu, Universitätsprofessor zu sein? Nichts leichter als das, in Amerika, wenn man die Berufung erhält. In den verschiedenen Universitäten, insbesondere in den staatlichen, ist die Kunstakademie, das Musikkonservatorium, u. dgl. der Universität angegliedert, genau wie Jus und Medizin; und so ist es auch hier. Als ich mich entschloß, dem Kunstbetrieb mich möglichst fernzuhalten, trat ich, um zur Not für mich und meine Angehörigen sorgen zu können, eine Lehrstelle in Chicago an, die mir auf meinen Ruf hin vor 26 Jahren angeboten ward. In den amerikanischen Großstädten habe ich mich aber die längste Zeit nicht wohlgefühlt, kann dort auch nicht ungeniert und ungestört arbeiten; so nahm ich, wo nicht gern, so doch dankbar vor 25 Jahren den Ruf hierher an, wo ich bis zu meiner Emeritierung im Sommer '47 als Vorstand der Abteilung für Malerei in der School of Fine Arts mit dem Titel eines ordentlichen Professors fungierte. . . . Das Gedicht Megalomenia in der kleinen Sammlung wird Ihnen, so ganz im allgemeinen, über meine Haltung als Künstler zur Mitwelt Aufschluß bieten, wenn Sie es nachlesen wollen. Nun bin ich Ihnen aber lange genug in den Ohren gelegen, und will endlich schließen. Es ist inzwischen Montag geworden! Mit allen lieben Wünschen und Grüßen — God be with you! AB And now there are violets on my writing-table! 348 Please let me know when you will want cigarettes again, or may I send them to you at certain stated intervals. I should be most happy and thankfiilful to do it, if you will only tell me how often to send. VI. Fortsetzung der Anmerkungen K. B. Heinrich; 2. Dez. '14: Was mag eigentlich aus diesem anregenden Schriftsteller geworden sein? Ich erinnere mich dunkel, daß er vor vielen Jahren einer der Redakteure des Simplicissimus war, später gelegentlicher Mitarbeiter des Brenner, noch später—während des ersten Krieges und nachher—in der Schweiz ansässig. Offenbar ein edler, tief religiöser Mensch—religiös aber nicht im vernagelten konfessionellen Sinne (wenn ich mich da nicht irre). Seine Schrift über K.K. kenne ich nicht, es sei denn, daß in der Fackel bei Gelegenheit einmal sie stellenweise zitiert ward; um mich dessen zu versichern, müßte ich nachschlagen, weiß aber nicht, in welchem Jahrgange. Rodin; 3. Dezember '14: Wer der 'Trottel" war und worüber er "recht" hatte, kann ich natürlich nicht wissen. In einer der Kriegs/fcc.te/n wird die Angelegenheit wohl kommentiert gewesen sein, da Sie das Gelesene zurückgeben sollten, weil der Trottel "aufgegeben" werden m ü ß t e . . . . Nebenbei halte ich Rodin als Plastiker für nicht weniger berühmt als die meisten der sogenannten Kunstfreunde und der Kritik von dazumal (und auch von heute noch). Seine Skulpturen sind mir zu sehr "Literatur", nähern sich auch sehr gefährlich dem Geist der Malerei. Sein Werk ist ein Gemisch; die Reinheit seiner Mittel hat er über die "Idee" (über das zu behandelnde Thema) zu sehr außer Acht gelassen—wie eben Michelangelo, der als Maler eher Plastiker war, als Plastiker eher Maler; den ich aber von seiner Tiefe und seines fanatischen, unbestechlichen Ernstes willen immer lieben und verehren werde. Auch Rodin war ein unübertrefflicher Könner und Meister der handwerklichen Technik, ein Mensch von großem Ernst und ungeheurem, echtem Wollen, welches leider nicht selten zu einer bedauerlichen "Kraftmeierei" ausartete, die seine "Tiefe" als etwas angemaßtes erscheinen ließ. Man muß ihn aber achten und bewundern, obgleich 349 mir die Werke von Maillol und etwa Bourdelle, vielleicht auch von Despiau persönlich mehr zusagen. * Liegler; 23.Z23. Sept. 75 : Von welcher Swift Biographie war da die Rede gewesen? Ich kenne leider keine, wenngleich ich mit dem Werke Swifts im Großen und Ganzen ziemlich gut vertraut bin. (Um Biographien und die Briefe berühmter Menschen habe ich mich übrigens mein Lebtag nie besonders gekümmert.) Auszug, 20. Juli 15: Tief ergreifend! Der Brief an den Baron L. über Ficker müßte—wenn das Original noch existiert—unbedingt eines Tages (wenn noch weitere Tage dieser Düsternis folgen sollten) vor die Öffentlichkeit! Oder wo nicht, der Auszug dessen, der in Ihren Händen sich befindet. Kaum etwas, was ich je von K.K. gelesen habe, zeigt so sehr, so hell und klar, sein heiliges, großes, selbstloses Herz, wie eben diese wenigen Zeilen, (und nichts sein fürchterliches Leiden an dem Erlebnis jener Tage.) Als persönliches, privates Eintreten für einen wertvollen Mitmenschen, scheint mir dieser Brief von fast größerer Macht und Wucht, als das noch so mächtige, wuchtige öffentliche Eintreten für die gesamte Menschheit. . . . Hier geht er buchstäblich für einen betteln, was seiner stolzen Seele immerhin doch Überwindung gekostet haben muß. (Vielleicht bewahrt Ficker noch eine Abschrift jenes Schreibens an den Baron L.? Sicherlich besitzt er noch den Brief, welchen K.K. an ihn selbst gerichtet hat, der in dem Auszug vom 20. VII. 15 kurz mitzitiert ist und ebenso wichtig sein dürfte wie jener an den Baron.) Franz Janowitz, 16. Nov. 17: Fast noch furchtbarer als die Klagen und Anklagen, als die Trauer und die Empörung, deren die Kriegsfackel voll war, erschüttern einen solche Privatäußerungen wie diese und ähnliche in anderen Briefen. Kein Mensch auf dieser Erde war imstande, so unter dem Kriege zu leiden wie eben jener alleredelste, und wieviel haben wir, die wir ihn lieben, diesem ungeheuren Leiden zu dankenl Oft schämt man sich geradezu, daraus für die eigene Sache, für den Geist Nutzen gezogen zu haben; und vernichtend ist noch dazu die Erinnerung, daß man damals bei so vielen Stellen und Wendungen nicht einmal daran dachte, sich das Lachen zu verbeißen, daß man sich, ohne zu 350 erröten, an Gedankengang, Satzbau und Witz ästhetisch-heiter delektieren konnte, als ob man sich dabei weiter nicht das Geringste vorstellte! Heute, nach diesem zweiten, weit schlimmeren Kriege und vor dem unerbittlich herannahenden allerschlimmsten—heute darf man sich etwas unbedenklicher dem Genuß der Lektüre jener alten Kriegsfackeln, der Letzten Tage und des Weltgerichts hingeben. Aber man schämt sich doch immer wieder, wenn man zurückdenkt. Zu Claudius; 19. Nov. 16: Ich stelle ihn, in manchem rein lyrischen, sogar über Goethe. * Goethe; 4. Nov. 17: Diese zwei Verse: "Ein großer Kahn ist im Begriffe . . .", scheinen mir, seit ich sie kenne—also schon länger als ich die Fackel kenne—das Wundervollste, das Unvergleichlichste an reiner Wortmalerei zu sein, das mir j e begegnet ist. Man sieht förmlich, wie sich das große Schiff uns langsam, majestätisch nähert. Zum Kapitel "Hellseher Schermann ": Höchst interessant, aber ganz unheimlich! Der Fall steht völlig außerhalb der eigenen Erfahrung, und bleibt mir deshalb unvorstellbar; so durchaus fremd, daß einem kein Wort dazu einfallt. Ein mir absolut unerklärliches Phänomen. Man glaubt—und schweigt. Zur ttFrisuränderungi,i 20. Nov. 15: Da ist mir eine Wendung unverständlich: "Die Stirn ist nicht gut, sondern keck, weil sie es ohne Zustimmung tat." Was tat die Stirn ohne Zustimmung? Darf man es wissen? . . . Wissen Sie übrigens, warum K.K. sich damals die Haare in die Stirn gekämmt hat? Sicherlich nicht aus einem trivialen Trieb, "aufzufallen". Eher das Gegenteil wäre zu vermuten: um die mächtige Stirn etwas zu verdecken, daß sie nicht allzusehr auffalle. Vielleicht war also das die "Keckheit" der Stirn: daß sie ohne seine Zustimmung—bevor er sie zudeckte—doch auffiel? . . . Die damalige Haartracht stand ihm gut—ich hatte ihn ein paarmal von weitem gesehen; es ist mir aber nicht eingefallen, den Verdacht aufkommen zu lassen, er hätte sie um der "Apartheit" willen, wegen des Andersaussehenwollens sich erfunden. 8. - 9. Mai 1948 351 And now, my dear, to my great regret, I must discontinue these annotations for the time being, hoping to be able to resume them very soon, and also to send you a letter again that may be worth reading. Meanwhile I have to thank you for your dear letter of the 5th. I was just going to drop you a line, to ask if all were well with you—I had had no word in some time and, since I am always concerned about my friend, was beginning to be troubled again. I have also to thank you—among other things—for your very dear exposition of your ideas about the locution of "nach rückwärts"; and I am not at all sure that you may not be quite right (and I all wrong), though—forgive me—your argument does not really convince me (even though K.K. uses the very same words in a letter to you: in a letter, mind you, for I believe one would seek in vain for them in his published works). For me the expression remains pleonastic, or, worse still: redundant and tautological. I have never come across this form; either spoken or written, except amongst people of the South Geman speech areas, but to meet with it in the books of as fine a writer as Mechtild Lichnowsky—and to find it persistently recurring—has always been rather a shock. The most flagrant sinner in this respect, I believe, was Peter Altenberg; and one example of his use, or misuse, of "rückwärts" illuminates better than any reasoned argument I could put forward my unalterable dislike (which may be, as you suggest, nothing more valid than prejudice, founded upon an inborn necessity of thinking in the English idiom)—this example of P.A. 's misuse of the word illuminates, better than anything else I could advance, my objection to this South German speech-habit. P.A. says somewhere "nach rückwärts" laufen (oder laufend). That phrase has always remained uncomfortably stuck in my ear and memory. The tautology here is obvious, it "jumps in the eye"; for Altenberg could have meant only rückwärts—or nach hinten laufen. I myself should prefer nach hinten, for "rückwärts laufen" has for my ear quite a different shade of meaning: it does not convey to it the sense of running back, but of running backwards, that is, the quite ludicrous notion of facing forward while running back—as children do, or used to do, in certain games. Now heaven knows, I do not set up to be an authority on proper German speech usage, nor should I dare to call such a writer as M.L. to account for her use of the expression, though, if I knew her better, I might have sufficient courage—if we could ever meet—to discuss it with her orally, if only for the sake of having my doubts cleared up. 352 The letter about the "Lawine"—I had not forgotten it, but I looked it out in the Fackel of April 16, and reread it, with K.K.'s beautiful comment—a comment worthy of the beautiful and touching little letter. Something else to thank you for! Not forgetting my gratitude for your drawing it to my attention. How enchanting your park and gardens must have been throughout the spring, but how saddening to know that, though your eye was aware of it, it could awaken no echo in your heart! But to paraphrase one of his most beautiful stanzas: Segen deinem stolzen Schritt in die fernste Richtung. Nahm er deine Seele mit, bewahre Du die Richtung! In other words: Couragel Love you have; never lose Hope and Faithl (These are all we have left, these four. And the greatest of these is—which? I don't know. At this moment they all seem equally important.) There are iris in our flower-bowls now. Everything else has gone. And an evil blight has struck our beautiful elms. Your letters reach me within three or four days of posting, at most within five. But to be quite certain that there be no delay in forwarding them from here: my address after the beginning of June and until late September will be Falls Village Connecticut I am hoping for a restful, quiet summer among my beloved N e w England hills. The photographs of your brother and of M.L. were posted today. The parcel was registered, and I trust that it reaches you promptly and in good condition. Thank you again for letting me see the pictures. Your Johannes was an extremely attractive and appealing young man. May all be well with you in all ways. AB 10. May 1948 Zigaretten gefällig die Dame? 353 Montag, d. 17. Mai, nachts Liebe, gütige, gnädige "S"—ja warum denn auch nicht? Wenn sie sich andauernd so unterschreibt, darf man sie auch einmal so anreden, nicht wahr? . . . Eigentlich wollte ich heute bloß den Empfang der letzten Sendung von Briefstellen bestätigen und dafür danken, wie auch ftir die lieben Begleitzeilen vom 7. (ich hätte es früher tun sollen, wollte es auch, kam aber leider nicht dazu—es gab, wie immer, Briefe zu schreiben, Besuche, die man nicht gut abweisen konnte, neuerliche klinische Untersuchung,* Besorgungen für die bevorstehende Abreise—in a word a confounded messl) Ihre Briefe geben aber immer so viel Anregung, daß es sich leider bei der beabsichtigten flüchtigen Zeile nie bewenden lassen will—auf die Gefahr hin, daß man Sie langweilt, und das will ich nicht. Sie schreiben diesmal nur einige Zeilen, aber eine jede könnte ganze Absätze auslösen; und wenn ich in der Folge gesprächig, oder sagen wir geradeheraus: geschwätzig werde, dann haben Sie es sich selbst zuzuschreiben. Aber ich will mir—wie so oft!—Gewalt antun, und nur ein paar Punkte berühren, hoffend, daß ich mich dabei möglichst kurz fassen kann.** Die erste Lektüre der jüngsten Auswahl von Briefstellen hat mich fast einen ganzen Tag beschäftigt; und nur so viel ist im Augenblick zu sagen: daß sie mich so bewegt haben und mir zu allem so viel eingefallen ist, daß ich—wie ich es jetzt sehe—kaum imstande sein dürfte, ein Wort davon zu Papier zu bringen. Aber das werde ich erst wissen können, wenn ich einmal dazukomme, denn vorerst sind noch viele andere Stellen zu kommentieren, die ich früher erhalten habe. Heute nur soviel: tief-innigsten Dank! Ihr andächtiger Fleiß bei dieser selbstauferlegten Aufgabe läßt mich immer wieder die eigene Würdigkeit bezweifeln, und noch dazu abermals befürchten, daß Sie sich damit, bei Ihrer knappbemessenen Zeit {und Nachtruhe), allzu sehr anstrengen und Gefahr laufen, Ihre Gesundheit zu schädigen. (Das würde er keinesfalls gutheißen; und wie soll dann ich es verantworten?) Es bedrückt mich j a sowieso mehr als genug, da ich weiß, wie Sie jetzt dort allein sind und alle Gartenarbeit—von der Sie sich ernähren—ganz ohne Hilfe besorgen müssen, und da Sie mir jetzt auch sagen, daß Ihnen noch dazu die so notwendigen Behelfe von Wasserleitung und Gartenspritze (von den verdammten Deutschen wohl mutwillig zerstört) fehlen. Ich bitte Sie 354 also inständig, sich zu schonen. Ich wollte um keinen Preis die unverhoffte, unverdiente, aber so glückliche briefliche Beziehung zu Ihnen aufgeben, und die Abschriften aus seinen Briefen möchte ich weiß Gott nicht missen; aber entsetzlich ist mir doch die Vorstellung, daß Sie sich fur mich Nächte hindurch die Augen austippen. Ich weiß, ich weiß: Sie tun es j a auch für sich und für ihn; und daß Ihnen diese Arbeit in schwerer Zeit ein großer Trost bedeutet, den ich ja nicht geschmälert wissen will. Ich will Sie ja nur bitten, Maß zu halten. Ihren Briefen sehe ich immer mit Freuden entgegen: so schreiben Sie mir wann immer Sie die Lust dazu anwandelt, aber niemals aus Pflichtgeföhll (Denn eine Pflicht mir gegenüber besteht nicht.) Und die Briefstellen—ein paar Seiten auf einmal—schicken Sie bitte wann Sie können und wollen. •nothing to worry about; just a damned nuisance **Ich habe mich "möglichst kurz" gefaßt, und wie lang ist es geworden—um nicht zu sagen: langweilig! Am anderen Tage Nun zu den anderen Punkten; und da sehe ich mich leider genötigt, meinen Widerspruch zu Ihren Ansichten, wenn nicht geltend zu machen, Ihnen doch bekanntzugeben. Im Voraus meine Bitte um Verzeihung; auch will ich hoffen, daß Sie mich wegen meiner Objektivität (oder kaltblütige Grausamkeit) nicht verdammen mögen, mich weder hassen noch verachten werden. Immer am 28. April und am 12. Juni (auch an meinem Geburtstage) finde ich als die Hauptopfergabe meines mit mir alle Freude, alles Leid teilenden Schutzengels, besondere Vasen mit Blumen gefüllt vor. Man nimmt sie wo man sie eben findet her—an meinem Geburtstag sinds meistens nur mehr Wiesenblumen*, welche wir beide lieber nicht gepflückt sehen würden; aber die Wiesen können ihre Blumen leicht und gern hergeben: Sie kommen immer wieder. Dasselbe gilt j a eigentlich auch für Flieder, Forsythia, Spriaea (wovon wir zwei Arten in unserem Garten haben), und ähnliche[n] Sträucher[n]: diese sind j a doch auch eine Art von "Perennials", in jedem Frühling kommen sie immer wieder, Gott sei Dank. Und es sind davon so viele, daß man gar nicht genötigt ist, mit ihnen Raubbau zu treiben; es bleiben auf den Büschen immer mehr als genug übrig, und den Gewächsen schadet das 355 Pflücken doch nicht—im Gegenteil, wie man versichert (ich verstehe davon nichts) das Abpflücken der Blüten soll ihnen eher zuträglich sein. Und Blumen in den Zimmern, auf Tischen und Kommoden gestellt, sind doch etwas so Liebliches, sie beleben und erheitern die ganze Atmosphäre des Hauses—auf mich wirken sie immer als ein Segen, im Hause fast mehr noch denn im Freien! (Und schließlich kann man doch nicht seine ganze Zeit draußen verbringen; gerade ich sitze meist hinter meinen Wänden.) So wollen Sie uns in diesem Punkte nicht allzu streng beurteilen! . . . Nebenbei, ich kenne die botanischen Termini der Blumen und Pflanzen nicht (bin kein Gärtner), nur die allgemein bekannten oder volkstümlichen Namen derselben, die mir unter allen Umständen weit mehr sagen würden als die wissenschaftlichen. So kann ich Ihnen leider die lateinischen oder griechischen Bezeichnungen unserer Blumen nicht mitteilen, um zu erfahren, ob man sie auch dort kennt. Und werden Sie mich jetzt auch noch "Freund" nennen wollen oder können, wenn ich Ihnen sage, daß mir Ihre liebevollen, trotz meinem Einwand ergreifenden Gewissensbisse wegen der getöteten Ameise doch ein wenig übertrieben erscheinen? Ich glaube, daß kaum einer das Töten an sich mehr haßt, das mutwillige Zerstören irgendeines Lebewesens mehr verabscheut als ich—der ich kein Vegetarier bin.—und doch ist das Töten unschuldiger Tiere oder Insekten allzu oft geboten. Bei Insekten, wie auch bei Ratten und Mäusen (welche letzteren doch so liebliche, niedliche und schöne Tierchen sind!) sehe ich mich gezwungen, mich von der Erkenntnis leiten zu lassen, daß sie—im Hause—Ungeziefer sind und dort unter keinen Umständen zu dulden, (freilich, verirrt sich, wie so oft im Sommer, ein Nachtfalter ins Haus, so ist man, so gut es geht!, emstlich genug beflissen, das arme Wesen zu retten und der Nacht wiederzugeben—ob das die Natur so will, weiß ich nicht.) Aber auch im freien wehre ich mich was ich kann gegen Schnaken, Gelsen, Moskitos und Fliegen; auch gegen Ameisen, die angreifen und erbarmungslos beißen, wenn man ganz harmlos im Gartenstuhle sitzt. Sonst fallt es mir gewiß nicht ein, einem Insekten in seinem Naturelement etwas anzutun: selbst solche Plage, wie die Fliege im Zimmer, zu beseitigen, kostet mich Überwindung. Schließlich ist ja der Mensch ebenso lebensberechtigt auf Gottes Erde wie der ganze Insektenstand, der ihm, ganz unschuldig, den Garaus machen würde, wenn der Mensch nicht dagegen auf der Hut wäre, und wie zum Beispiel der Bazillus, der ebenso 356 unschuldig darauf aus ist, das ganze Menschengeschlecht zu vertilgen, und es längst getan hätte, wenn wir nicht immer nach und nach die heutigen Gegenmaßregeln zu entdecken im Begriff wären. . . . Nun, bin ich also, weil ich nicht überempfindsam bin, ein kaltblütiger Rohling? Dort bei Ihnen ist es jetzt lange nach Mitternacht. Liebe Seele schlafen Sie wohl! AB Bitte: liest sich das alles wie albernes Offene-Türeneinrennen? Ich wollte Ihnen nur einiges ganz nüchtern und logisch zu bedenken geben. Sicherlich aber wissen Sie es alles ebenso gut wie ich, wenn nicht weit besser. . . . Ein katholischer Pfarrer sagt irgendwo bei G.K. Chesterton: "Yes, I'm fond of dogs; but men are too often tempted to spell Dog backwards" Ich zitiere aus dem Gedächtnis, also wahrscheinlich falsch: aber der Gedanke wäre richtig wiedergegeben: Der Mensch darf die Tierwelt nicht über sich erheben, sie nicht anbeten, als wäre sie Gott. Nicht immer teile ich die Ansichten Chestertons, aber hier hat er entschieden Recht. •weil wir im Spätsommer auf dem Lande selten Gartenblumen haben. Falls Village, Connecticut Donnerstag, den 10. Juni 48 Liebe Sidi—"Hochverehrte gnädige Frau" — Der vielleicht dumme Scherz wegen des unterschriebenen "S" war keine versteckte Forderung der Erlaubnis, den Vornamen bei der Anrede gebrauchen zu dürfen—ebenso wenig wie die wiederholt ausgesprochene Befürchtung, durch Gesprächigkeit zu langweilen (weil ich eben meine Sätze nicht kurz und knapp bilden kann), ein "fishing for compliments" ist. Da sei Gott vor! 357 Seit wir wieder hier sind, ist das Wetter fast ununterbrochen naßkalt, und ich sitze hier mit thränenden Augen, weil das holzbrennende Öfchen unentwegt raucht, und mit Flannelhemd und Sweater angetan. Aber schließlich kann doch das hartnäckige Sauwetter nicht endlos dauern, und bald muß ja der Sommer seinen Anfang nehmen. Vorläufig keine Blumen, weder Wiesen- noch gepflanzte Blumen (auch habe ich noch keinen Schmetterling gesehen, nur einige Nachtfalter: aber "alle Vögel sind schon da"—nur sehe ich sie nicht durch das Zimmer schweben, weils nicht mein Zimmer ist, sondern ein Bestandteil eines gemieteten Häuschens, worin im Winter andere wohnen). Dafür aber steht das Häuserl von einem Hain großer, schöner Bäume umgeben, durch welche man in ganz weiter Feme die Spitze eines hohen Hügels sehen kann—d.h. von meinem Platze hier in einer behaglichen Fensternische —; am Hause vorbei rinnt ein Bacherl, und das Gebäude selbst steht mitten in einem langen und breiten Rasen, von hier aus gesehen ist er wie ein grüner Sammet—unglaublich grün! Überhaupt dieses Grün hier! Ich erinnere mich noch so gut—so wehmütig!—als ich noch richtige Spaziergänge machen, stundenlang bergauf, bergab gehen konnte, wie ich immer wieder meiner Begleiterin (dem geliebten, alles zu verdankenden Schutzengel) zurief: "grün, wie ich's niemals sah!" Denn mein Karl Kraus hat in meinem Leben an allem Anteil!) Von dem gegenwärtigen, unmittelbaren Aufenthalt habe ich leider keine Photographien—wir bewohnen das Häuschen erst den zweiten Sommer; letztes Jahr war ich noch sehr kränkelnd, und niemand dachte an Bilder — ; aber wenn später der ältere Sohn, mit Frau und Enkelchen, zu Besuch kommt, wird er wahrscheinlich welche machen; dann sollen Sie Abzüge bekommen. Zuhause haben wir eine Menge von dem früheren Sommeraufenthalt, ca 1 km von hier—mitten in einer großen Wiesenlandschaft, von Bergen, vielmehr großen Hügeln umgeben*. Davon werde ich im Herbst neue Abzüge herstellen lassen und sie Ihnen schicken. Femer gibt es zwei alte Aufnahmen von mir, vor etwa 20 Jahren gemacht, in meinem Zimmer am Schreibtisch sitzend, welches ich Ihnen im Herbst auch senden kann. Eine sehr gute Aquarellzeichnung (nicht von mir), die Schreibtischecke meines Zimmers darstellend, befindet sich im Besitze eines New Yorker Freundes. Ich habe ihn gebeten, davon eine Photographie machen zu lassen und mir einige Abzüge zu überlassen (nebst Film). Auch von diesen sollen Sie einen erhalten. Von meinem Hause in Lawrence gibt es keine Abbildungen: das Haus, bei aller annehmbaren Bequemlichkeit und "modernem 358 Komfort", ist viel zu hässlich (und nebenbei baufällig); wir bewohnen es seit 25 Jahren, und weiß Gott wie lange es schon stand, als wir es bezogen. Das ist natürlich kein Alter, aber die vollkommen unsolide Bauart der nur so zusammengeworfenen Struktur gibt ihm das Aussehen eines hinfälligen Armeleutehauses. Leider war, als ich in Lawrence 1923 ankam und mich rasch einrichten mußte, nichts anderes zu haben. Seither habe ich manches ausbessern lassen und ein Atelier draufgebaut* Jetzt aber, da ich pensioniert bin, ist an weitere Ausbesserungen nicht zu denken. Aber immerhin habe ich meine glücklichsten Jahre dort verlebt, dort meine besten Bilder gemacht und fast sämtliche Gedichte—denn die Lyrik setzte bei mir, wie eben bei Karl Kraus, sehr spät ein. . . . Dagegen sind vor einigen Wochen eine Reihe von (Amateur)Aufhahmen in meinem Atelier gemacht worden, und sobald ich Abzüge machen lassen kann, sollen Ihnen welche zugehen. Einstweilen die paar Ansichtskarten.. . .*** Nichts ist Ihnen mit Absicht vorenthalten worden, nur kommt es mir selten in den Sinn, Persönliches aufzutischen (so wenig wie Ihnen), wiewohl ich auch oft genug zögere etwas zu sagen, da ich nicht ohne weiteres annehmen darf, daß das, was mir nahegeht oder -steht, auch andere interessieren wird. Das Band zwischen Ihnen und mir— der Bund—ist eben ursprünglich Karl Kraus gewesen, den ich nicht persönlich kannte und dem ich persönlich fernstand. Sie dagegen standen ihm nahe—ja am nächsten von allen —; und alles, was Sie mir von Ihnen und ihm erzählen können und wollen (anfangs, weil es ihn mir vielleicht näher bringen konnte), nehme ich dankbar, mit tiefstem, lebhaftestem Interesse in mich auf. Es wäre von mir eine unverzeihliche Überhebung gewesen, hätte ich bei Ihnen ein analoges Interesse an mir vorausgesetzt. Wer und was konnte ich Ihnen denn mehr und anderes sein, als eben ein anonymer "Verehrer" von K.K. (der ihn freilich auch verstand)? Jetzt aber, da das ursprüngliche Band wie gesagt ein Bund geworden ist—das verbindende Glied aber nach wie vor die große gemeinsame Liebe zu jenem erhabenen Geist, das gemeinsame Verständnis für sein hohes Wollen und Trachten —, und da aus diesem Bund eine liebe Freundschaft gewachsen ist, eine so reine und edle Freundschaft, so ist bei mir nun jedes Zögern verschwunden, und, wie ich unlängst angedeutet habe: Sidi hat nur ungeniert ihre teilnahmsvollen Fragen zu stellen, und was Sie von mir und über mich wissen will, soll ihr gern und ohne Rückhalt, mit aller Bereitwilligkeit beantwortet werden. . . . Also Maler bin ich halt! Und wenn ich von meinen neueren Bildern (Erzeugnisse der letzten 15-20 359 Jahre) Aufnahmen hätte, oder anständige in einem Nestchen wie Lawrence erhalten könnte, sollten Sie auch von diesen von Herzen gern Abzüge kriegen. Indessen habe ich leider keine, nur einige gänzlich mißratene, die von den Originalen einen total falschen Begriff vermitteln; und die zeige ich nicht her—auch Ihnen nicht! Meine Art ist weder hochmodern noch akademisch, wiewohl die Malweise fest in der Tradition ihr Fundament hat.**** Vor 30-40 Jahren, als ich meine eigentliche Richtung noch nicht gefunden hatte und in allerhand Experimentiererei verwickelt war, galt ich für sehr "modern", für einen Expressionisten (lächerlich), für was weiß ich, und wurde daher von den berühmtesten "Modernen" anerkannt und aufgenommen, eingeladen und [be]fördert, wie ich dann auch von Sammlern und Kunstschriftstellern akklamiert wurde. Seither habe ich mich mit Fleiß unbekannt werden lassen, wenngleich sich dann und wann dieser oder jener, der in der Kunstentwicklung der letzten 40 Jahre bewandert ist, zu meiner großen Überraschung, meiner entsinnt. . . . Es sei nicht leicht, behaupten manche Verständige, in meine Bilder hineinzukommen, und allerdings könnte man sie "abwegig" nennen, wenn ich gleichwohl Stilleben, Landschaften, Figurenkompositionen male, wie jeder andere: nur aber, daß das Resultat—weil ich halt nichts dafür kann—eine vollkommene Vergeistigung***** des Dargestellten darstellt. Anderen wieder—und das sind die wahren Kenner, meine treusten Anhänger (und deren gibt es erstaunlicherweise noch immer einige)—sind meine Bilder etwas ganz und gar Selbstverständliches, wie eben mir selbst: bloß daß sie den Freunden stets besser gefallen als dem Erzeuger! . . . Mein letztes Werk, im Frühjahr fertiggeworden, heißt trauernde Mütter (Kriegsnachklang; Dimension ca 125:95 cm). Es ist nicht gerade das, was es hätte sein sollen, darf aber bis auf weiteres als das, was es nun einmal geworden ist, gelten. Erst während des Malens als es schon zu spät war—habe ich entdeckt, wie das Bild hätte gemalt werden sollen; und jetzt weiß ich, wie ich es im kommenden Jahre auf neuer Leinwand hoffentlich durchführen kann. . . . Da wir nun aber von Malerei sprechen, habe ich Ihnen für das letzte Bildchen (im Atelier des "Nationalmalers") zu danken. Sehr lieb! Störend sind nur das gemalte Portrait auf der Staffelei und das Konterfei des neben der Staffelei stehenden Malers, der, mit seinem selbstgefälligen Lächeln, charakterloser Hand, Vollbart und Wuschelhhaar, der geborene Kitschier zu sein scheint (ganz abgesehen von dem Zeugnis des gemalten Porträts).—Es gab 360 vor Jahren in Prag einen Maler Wil l i Novak—vor dem ersten Weltkrieg der mitunter sehr gute und anregende Bilder malte. Was aus ihm nur geworden sein mag? Ihr letzter lieber Brief vom 22724. Mai (Poststempel 26.5.) mit den 3 Blättern von Abschriften (1916) ist mir ers t vor einigen Tagen aus Lawrence hierher nachgesendet worden, aber weil wir noch nicht ganz eingerichtet waren und manches Unvermeidliche dazwischen kam, konnte ich nicht sogleich Ihnen die Bestätigung schicken. Heute—den 72.—schreibe ich bereits (wegen Unterbrechungen) den dritten Tag an meinem Dank an Sie; und hoffentlich kann er morgens endlich abgehen. Ich darf eben nicht zu viel, oder zu lange auf einmal schreiben; es strengt zu sehr an.—Aber an diesem 12. Juni lächeln mich auf dem Tische keine Blumen wehmütig an. Denn leider, wie gesagt, sind die Wiesenglocken mir nicht dem Feld entsprungen, weil wir heuer soviel früher als sonst nach dem Nordosten gekommen sind; und der Frühling war ein sehr später. Aber nicht weniger andächtig knien wir, mit vielen anderen, an jenem Grabe, das von Liebes- und Rechtswegen hätte in Janowitz sein sollen, und das sich trotzdem und trotz allem in aller Ewigkeit in Janowitz befinden wird (O Gott! jetzt wirds wieder regnen. Ich sitze noch immer in Sweaterjacke und Flannellhemd eingehüllt. Abscheulich!) Zu den neuesten Abschriften vorläufig nur eine Bemerkung: Es nimmt mich wunder, daß ihre liebe May May ein so gutes Deutsch (an K.K.) geschrieben hat. Freilich weiß ich, daß sie wohl den längsten Te i l ihres Lebens bei Ihnen verbracht hat; aber wir Englischsprechenden bringen es , trotz allen günstigen Umständen, mit fremden Sprachen höchst selten so weit, daß wir uns in einer von diesen mit so natürlicher Korrektheit wie May May auszudrücken vermöchten. (Im Laufe des Sommers hoffe ich weitere Anmerkungen zu Ihren Exzerpten zu senden; möchte es aber nicht geradezu versprechen, da sich eine ganze Reihe von Gästen aus New York und anderswo angesagt haben und ich außerdem verflucht ruhebedürftig bin und leider viele Briefe schreiben muß.) Ihr wunderschöner, lieber, langer Brief gibt soviel Stoff zum Nachdenken, so viel, das beantwortet (teils bejahend, te i ls widersprechend) werden will, daß ich kaum hoffen darf, in diesem mit ihm fertig zu werden—Vor allem: ein Widerspruch: Daß Sie nur fühlen, nicht 361 denken können, ist—mit Verlaub—Unsinn. Jede Zeile, die Sie mir schreiben (auch wenn sie dann und wann einen Schreibfehler enthält), liefert den Gegenbeweis . . . . Und dann zu dem Gedicht The Skeptic. Meinen Sie denn nicht, daß Sie hier vielleicht—wie so viele—den Skeptizismus mit dem heute allgemein überhandnehmenden Zynismus verwechseln? (Ich spreche hier natürlich nicht von der ehrwürdigen antiken Philosophie der Zyniker, nur von deren modernen Verbilligung.) Und kann es Ihnen denn wirklich entgangen sein, daß das Gedicht eigentlich ein Gebet und daß der "Skeptiker" trotz allem Zweifel ein unerschütterlicher Gottesgläubiger ist? Freilich nicht im kirchlichen Sinne, denn ein Kirchencbxist bin ich seit Jahren nicht mehr (war es eigentlich nie), wenn ich auch dem Glauben des echten, überzeugten Kirchenchristen meine hohe Achtung nie vorenthalten habe. Samek habe ich auf der Durchreise in New York gesehen, und wir verbrachten einige Stunden zusammen. Ihren Gruß an ihn, und die Botschaft: er solle nicht so schreibfaul sein, konnte ich, weil ich Ihren Brief erst einige Tage später erhielt, nicht mündlich ausrichten, habe aber beides durch einen dortigen Freund brieflich später nachgeholt. Aber wenn Samek nicht schreibt, sollen Sie ja nicht glauben, daß er nicht an Sie denkt; denn wir sprachen selbstverständlich von Ihnen, und im Laufe des Gesprächs gestand er mir, mit sehr bekümmerter Miene, daß er um Sie sehr besorgt sei.****** (Ich auch! Und in diesem Zusammenhang, will ich mir eine Frage gestatten: Müssen Sie den alle Gartenarbeiten ganz allein machen? Und haben Sie auch gar keine Bedienimg, nicht einmal eine alte Wärterin im Hause, die für das Kochen, Aufräumen und sonst nötiges Reinemachen und -halten sorgt? Diese Zweifel bedrücken mich jetzt schon seit einigen Monaten; aber Sie beklagen sich so wenig—nur gelegentlich über Ihre Einsamkeit —, daß ich mir nicht erlauben wollte, anzufragen—außerdem hätte es so wenig Zweck, da man von hier aus leider nicht helfen könnte.) . . . Und nun ist es bereits Montag (14.) geworden! Gestern hatte ich Pflichtbriefe zu schreiben (nicht weiter aufschiebbare), und heute scheint endlich die Sonne wieder, so daß ich auch eine Zeitlang im Freien mich bewegen konnte.******* (Übrigens habe ich die Gelegenheit benützt, eine Schachtel von 200 Zigaretten an Sie abgehen zu lassen. Hoffentlich kommen 362 sie bald und in gutem Zustand an. Wohl bekomm's!) Nun will ich so gut es geht, Schluß machen, sonst wird der Brief endlos. Bitte meine Bemerkungen zu den Photographien der M.L. nicht zu mißverstehen. Die eine— im Profil—gefiel mir nicht; aus den beiden anderen konnte ich nicht klug werden. Auch wenn ich es hätte können, ist zu bedenken, daß die menschliche Physiognomie nicht immer, sogar sehr selten, eine untrügliche Inhaltsangabe bietet. Aus ihren Werken kenne ich Mechtild Lichnowsky viel zu gut, um mein Urteil über ihre Menschlichkeit von irgendwelchen Photographien beeinflussen zu lassen. Der Autor von An der Leine, Der Stimmer, Kindheit, Der Lauf der Asdur, Delaide u.s.w., kann unmöglich eine harte, gefühllose Egoistin sein. Sie ist und bleibt mir ein lieber, wertvoller Geist, und ich freue mich immer unbändig über ihr scharfes, witziges, niemals hämisches Urteil. . . . Ich bin ihr jetzt zwei Briefe schuldig (weiß Gott wann ich dazu komme!), der letzte ein besonders liebenswürdiges, warmes Schreiben. Nein, ich lasse nichts auf meine Lichnowsky kommen; selbst durch mich nicht! When did I ever curse in a letter to you? Ich weiß, daß ich mich im Gespräch oft sehr "blasphemisch" ausdrücke, wenn ich erregt bin oder über Dummheit und Schlechtigkeit in Zorn gerate; denn ich bin alles eher als geduldiger Natur—duldsam, j a (bis da hinaus), aber sehr zum augenblicklichen Jähzorn geneigt. Nach und nach dürfte man meine viele[] Schwächen entdecken, und mich nicht mehr überschätzen. . . . Zum Arbeiten werde ich wohl diesen Sommer kaum mehr kommen. Zwei angefangene bzw. steckengebliebene schriftliche Arbeiten, die jetzt lange rufen, habe ich hierher mitgebracht; ebenso Zeichenmaterial für neue Bilder entworfen. Bin aber so ruhebedürftig und im Augenblick so sehr zum Faulenzen geneigt (d.h. die Natur anschauen und in mich einfangen, dann sehr viel [L]esen), daß wahrscheinlich während diesen vier Monaten weder ein Strich noch eine Zeil[] zu Papier gebracht werden dürfte. My love to you, my dear. May all be well with you. AB *wo wir jahrelang den Sommer zubrachten. ** d.h.das oberste Stockwerk in ein Atelier umbauen lassen. 363 ***und die soeben entdeckten 2 alten Photos ****Sie läßt sich nicht Etikettieren, in kein bequemes Register einschalten (und nirgends "gleichschalten"); so bin ich manchen zu altmodisch, klassisch-traditionell, anderen wieder zu "revolutionär, abseitig, abwegig, mystisch-mysteriös u. dgl. mehr. *****Z)wrcAgeistigung der Materie, das greifbar Gegenständliche verwischend. Meine Bilder haben oft etwas mit der Lyrik Trakls gemein; meine Lyrik hingegen ist, wenigstens der äußeren Form nach, rein traditionell. ******Samek hat mir in New York den 107 Seiten langen Brief an Jaray zum [n]achlesen mitgegeben. Eine anscheinend unentwirrbare Angelegenheit. Kennen Sie den Brief? Der Ton Sameks gefallt mir nicht immer (und die Art seiner Beweisführung ist manchmal kleinlich. Im Großen und Ganzen wird er natürlich [r]echt haben. *******Schmetterlinge und Wiesenblumen (aber noch keine Glocken) jetzt zu sehen. Gestern sogar einen Admirall Und es war noch keine Sonne. Heute einen Trauermantel Falls Village, Connecticut 23. Juni 48 Für die neuen Abschriften (1916-17) und die lieben Zeilen vom 18. haben Sie, meine liebe Sidi, innigsten Dank. Irgendwie scheinen diese neuen Exzerpte trotz der Kürze der meisten, ergreifender als viele der vorigen auf mich zu wirken. Erklären kann ich mir das nicht, umsoweniger als manche von ihnen mir ziemlich unklar sind, auf welchen Umstand ich in meinen späteren Anmerkungen zurückzukommen gedenke. Einstweilen diesen eiligen, aber nicht weniger herzlichen Dank. Inzwischen werden Sie meinen langen Brief von letzter Woche bei Ihrer Rückkunft aus Prag wohl vorgefunden haben. Sie dürfen aber bitte nicht bange sein, wenn [sich] dann und wann unvermeidlich ein Brief von mir auf sich warten lassen muß. Für den Fall eines neuerlichen plötzlichen Erkrankens, oder dessen für meine Freunde traurige Folge, ist Vorsorge 364 getroffen, daß Sie sofort benachrichtigt werden. Also Bangesezw gilt nicht! Sie haben j a vollkommen richtig erraten, warum der erwartete Brief diesmal ausblieb. Ich sagte, als ich ihn schrieb, daß Ihr letzter soviel zu beantworten enthielt, daß ich kaum hoffen konnte, auf alles zu reagieren; und tatsächlich ist mir nachträglich eingefallen, daß ich eine direkte Frage übersehen hatte, weshalb ich um Entschuldigung bitten muß. Also: am 2. August habe ich Geburtstag. Auch: nie habe ich auch nur andeuten wollen, daß ich der einzige Lyriker dieses Landes sei. Im Gegenteil: dann und wann stoße ich auf einen Vers, eine Strophe, sogar—selten genug—auf ein ganzes Gedicht, das mich entzückt (wofür ich immer dankbar bin); nur daß das allermeiste ein aufgelegter Schund ist, oder anspruchsvoller Kitsch und dergleichen, und daß ich mich seit so vielen Jahren um Neuerscheinungen in der amerikanischen und englischen Literatur (wie auch Malerei) überhaupt nicht mehr kümmere, und mir darum wohl manches entgeht, was ich vermutlich billigen und dankbarst zu würdigen wüßte. Es herrscht hier ein andauerndes Matschwetter! Man könnte sich fast ins Tirol versetzt fühlen, mit dem tagelang erduldeten Hausarrest! Aber glücklicher Weise funktionieren endlich (nach dem reichlich verspäteten Besuch des Kaminkehrers und des Installateurs) der Zentralheizofen und der kleine Ofen im Nebenzimmer, sodaß man jetzt wenigstens im Hause nicht mehr frieren muß. Inzwischen arbeite ich so oft und soviel ich kann an Zeichnungen und Entwürfen zu neuen Bildern, welche möglicherweise nie ausgeführt werden, denn der Vorrat wächst ständig, und im Atelier zuhause wartet ein ganz[er] großer Haufen solchen Zeugs auf Ausführung.—Dann wird viel gelesen—liebe, altvertraute Sachen —, viele Briefe geschrieben (leider unerlässlich): am meisten aber gefaulenzü (und von den scheußlichen Weltereignissen beharrlich weggesehen und -gehört—Gott sei Dank haben wir kein wireless h ie r ! ) . . . So—nur rasch diese paar Zeilen des Dankes und der innigsten Grüße und Wünsche; dann muß ich Mittagsschläfchen halten (auch leider unerlässlich). Alles liebe und herzliche, Ihr AB 365 Die Handschrift wird mit jedem Tage schlechter und undeutlicher. Ich bitte um geneigte Nachsicht. (Man wird halt alt—was sich aber merkwürdigerweise beim Malen und Zeichnen gar nicht zeigt.) Falls Village, 8 July 1948 My very dear friend Sidi— You will be thinking me a neglectful, ungrateful beast, I fear—though I fervently hope you won't. There have been visitors here—also "duty"-letters, which I loathe but cannot escape (not to mention letters of a "business" nature, which I loathe even more). And I have often been tired and have had to be careful, which is always a nuisance. Hence, this is my first proper opportunity to acknowledge and thank you for your most pleasant note of the 21st of last month with its grateful enclosures of the two sheets (25 & 26) of excerpts from the letters of 1917, about which, eventually, I hope to have something to say. Let me beg you now, though, if, as you fear the copying out of the letters 1918-21 will depress and sadden you, rather to let them go uncopied. Of course, I quite understand: "es gehört zum Ganzen", but I cannot contemplate calmly your making yourself suffer anew on my account. So, if you have not already begun work upon them, please reconsider your intention. I am most happy to learn that you have adequate, or at least competent help in your household, and that you are not dependent entirely upon your own nerves and muscles in your gardening. I need not say how it relieves my mind to know that. I don't believe that Jaray bequeathed to Samek his interest in the Kraus inheritance. He seems to have dallied, dawdled and delayed in legally signing away his rights—and then he died. Nor did he live to receive that very long letter of Samek's . The whole matter seems at the moment to be at a complete standstill. And no-one seems to see any way out of the hideous mess. A dreadful, dreadful pity. Everybody makes slips of the pen at times. I do it all the time; and the older I grow, the more I make. Why shouldn't you make one now and then? But I don 7 swear at them (only at my own). As a matter of fact, I don't even discover your occasional slips until at a second or third reading of your letters. So don't let it worry you. This sentence, however, I do not understand: "Jetzt wieder: Ist Donnerwetter keine Blasphemie? (Schreibfehler?)—Wieso Schreibfehler: und wieso Blasphemie? "Donnerwetter" ist eine Redensart, weiter nichts; ein 366 zwar unfeines aber ausdrucksvolles Kraftwort, welches ich gern von den Süddeutschen übernahm. I do hope that your contemplated Schloßbesuche made a pleasant temporary variation in your daily course of living and that you have meanwhile returned from them somewhat relaxed in nerves and body, and with an easier mind and heart. I am enclosing a few snapshots, some of them not very good, though all of them together may give you a general idea of the subject. There will be more later on, I think; and I have been promised photographs of the "writing-corner" of my room in Lawrence soon, made from the water-color I once mentioned. The weather has turned very beautiful at last, though there are still almost daily occasional showers. And there are now bluebells in the meadows and at the roadsides!—My love to your canary bird. I am fond of them. And my love to you, with all good wishes and most fervent hopes. AB Can you read this English scrawl? Page 1: What number did my last commentary on the letter-excerpts of K.K. carry, please? 20. Juli 1948 Gütigste theure Freundin, mitten in einer so hoffnungslos traurigen Welt ein so lieblich-schöner Sommer! Und um das Maß des Schmerzes voll und übervoll zu machen: die letzten 5 Blätter der Abschriften! Kommentar weiß Gott nicht nicht überflüssig, aber unmöglich. Ob ich mich jemals dazu aufraffen werde können, insbesondere den langen, erschütternden Auszug vom 15./16. Nov. '19 wieder durchzulesen, erscheint mir im Moment sehr zweifelhaft. Was mir aber vor allem weh tut, ist die große Selbstqual, der Sie sich unterziehen müssen, solche Auszüge 367 abzuschreiben. Und Sie dürfen sich nicht immer wieder "hassen und verachten" ("hate and despise myse l f ) Sie wissen j a längst , daß alles verziehen ist, daß da nichts zu verzeihen war. Muß man immer wieder bi t ten: Sidi möge um Gottes willen "Vernunft" annehmen (oder sie nicht verlieren) und stets n u r der unermeßlichen Schönheit des Vergangenen und seiner Erinnerung leben—von nun a b , bis ans Ende! (unddarüber hinaus.) W i e lebt sein Geist immer neu, sich immer wieder erneuernd, in mir! Und bei jedem Wort, da s ich zum hundertsten male lese, w ie klingt die schöne, helle Stimme mir im Ohre! Die St imme in der Wüste eines Weisen, eines Heiligen—des weisesten Geistes des Jahrhunderts. Ich habe außer Gedichten und Untergang d. Welt d. schwarze Magie nur zwei Jahresbände diesen Sommer mitgebracht; ganz zufällig sinds die Jahrgänge 1913 u. 14, und im letzteren Band finde ich unter einem Frühlingsdatum eine Berichtigung irgendeiner Albernheit des Prager Tagblattes: "z.ZJanowitz"! E s dürfte sein erster Aufenthalt dort gewesen sein.— Ahnen Sie denn, wie ich durch d ie plötzliche Ansicht dieser paar Worte—mir so lange bekannt, aber doch unerwartet wiedergesehen—in das damalige Beisammensein hineingezogen, ja zugelassen mir vorkommen mußte? Und da entsank das Buch meinen Händen in tiefer Trauer um Sie u n d ihn—ein ganz anderer Schmerz als dieses immer gegenwärtige, nie nachlassende 12jährige Nachtrauern. Mir ist es fast als ob seit bald einem Jahr eine andere, eine zweite " D r e i " sich gebildet hätte! Ist aber diese Empfindung eine Anmaßung, so wollen sie mich bitte völlig ungeniert zurechtweisen. Ich kann aber nichts mehr und nicht anders, als ihm immer wieder die Wunderworte nachweinen: Segen deinem stolzen Schritt in d i e fernste Richtung! AB 368 Falls Village, 19. VIII. 48 Edle Freundin! Für die höchst willkommenen (und lang erwarteten) Zeilen vom 10. mit den beigelegten 6 Blättern der Abschriften haben Sie herzlichsten Dank. Daß ich zu den Abschriften während des Sommers einige Anmerkungen werde schreiben können, scheint mir leider doch ausgeschlossen. Es kommen hier immer wieder Unterbrechungen und unüberwindliche Hindernisse, die die Ausführung irgendeines Vorhabens fast unmöglich machen. Während dieser ganzen Zeit war so viel Besuch da, dem man sich doch (wenn auch meistens sehr gern) widmen mußte, und das Häuschen ist so klein, daß es, wenn andere da sind, nicht angeht, sich ganz zurückzuziehen, um für sich zu arbeiten oder auch nur harmlose Pflichtbriefe zu schreiben. Wir bleiben bis Ende September hier; es wird aber noch mancher Besuch erwartet, und die erste Oktoberwoche verbringen wir in meiner Geburtsstadt St. Louis, auf Besuch bei meinen Geschwistern; so dürfte ich kaum vor Mitte oder Ende Oktober dazu gelangen, einen langsamen Anfang wieder zu machen. Inzwischen war mir auch immer wieder nicht wohl und ich zu gar nichts imstande; muß infolgedessen tagsüber auf dem Canapö eine oder mehrere Stunden liegend verbringen. Das ist alles äußerst lästig; im allgemeinen aber geht es mir gesundheitlich recht gut. ''Nicht wahr, Sie werden bald wieder schreiben?" Das hat mich tief ergriffen und mein armes Gewissen mit unverdientem Schuldgefühl beladen. Seien Sie bitte überzeugt—ein für allemal —: tritt eine längere Pause zwischen meinen Briefen ein, dann kann ich aus irgendeinem zwingenden Grunde nicht schreiben. Auch bitte ich zu glauben, daß mir an dem Aufrechthalten einer so innig-schönen Brieffreundschaft ebenso viel wie Ihnen gelegen ist. Was mich immer wieder Wunder nimmt, ist, daß Ihnen überhaupt daran gelegen sein kann! Dafür aber, wie für alles, bin ich von Herzen dankbar. (Sie glauben: "nie gab es gefühltere Worte, nie schönere Briefe" als eben jene, in die Sie mir so gütig Einsicht gönnen. Und da können Sie noch Wert auf meine Briefe legen? Mir unverständlich!) I fervently hope that the projected visit to England during the coming autumn may come about. I have been much concerned about you all these months, and though you do not 369 complain, though the conditions of your daily life seem so much more favorable than I had dared to imagine, and you try so kindly to allay my fears and anxiety, I cannot prevent their continuing. Soeben höre ich aus New York, daß sich die Angelegenheit Kann-Fischer zum Besseren zu wenden scheint. Bald dürfte Samek des Näheren mehr mitteilen, wohl auch Ihnen. Einstweilen weiß ich nur dies. Habe jetzt die Jahrgänge 1913-14 wieder einmal durchgelesen (der Einfluß des eben gefundenen Segens beginnt sich leise bemerkbar zu machen—mir erst jetzt!), und bin im Augenblick mit Untergang der Welt durch Schwarze Magie wohl zum dutzendsten male beschäftigt. Mit den Jahren seit '36 steht er nur immer lebendiger vor mir (und wieviel tragen nun auch Ihre Briefabschriften dazu bei!); und die Liebe und Verehrung, die damals nie größer hätten werden können; sind stets im Wachsen begriffen. Mit wiederholtem innigem Dank und allen lieben Wünschen, AB Am anderen Tag, den 20.: Soeben Zettelchen vom 17. mit den 7 Blättern der Fortsetzungen erhalten. Noch keine Zeit zum Lesen gehabt. Innigsten Dank! Auch für die erfreuliche Mitteilung, daß An eine Heilige Mechthild Linchnowsky gilt. Freitags, den 10. IX. 48 Noch immer Falls Village, aber binnen eines Monates gehts wieder nach Lawrence zurück. Zur Abwechslung fühle ich mich heute einigermaßen elend (das klingt fast wie Nestroy!), aber ich darf nicht säumen, den Empfang des lieben Zettels und der 10 Blätter, welche vor ein paar Tagen eintrafen, zu bestätigen und dafür innigst zu danken. Ja, es jährt sich nun bald der Anfang dieser schönen Beziehung, einer einzigartigen Brieflfreundschaft—wie hat sie mich berreichert und wie bin ich der gütigen Geberin für ihr Vertrauen und ihre selbstlose Offenheit zu unauslöschlichem Dank verpflichtet! Ein Vertrauen, das mich weit über einen 370 rühmlichen Verdienst ehrt, eine Offenheit, die mir das Herz erdrückt. Es muß einmal die Zeit kommen (wenn ich sie noch erlebe), da ich mich zu den jüngsten herzzerreißenden Sendungen—insbesondere zu jenem unsäglich grausam-gütigen Brief 360—äußern kann: da ich mich dazu imstande fühle, d.h. seelisch imstand. Körperlich tauge ich heute zu gar nichts. Auch geistig nicht! Hier haben Sie—leider nur zur Ansicht, da ich keine anderen erhalten habe—einige Photos, die Ihnen einen vagen Begriff von der hiesigen Umgebung gewähren. Es sind ein paar darunter, die nicht hier aufgenommen wurden. Die angedeutete Stimmung Ihres Briefes bedrückt mich sehr und hat die große Sorge um Sie nur noch gesteigert. Wüßte man nur Rat! Könnte man nur irgendwie helfen! . . . Wie wird es doch von Tag zu Tag finsterer auf Gottes schöner Erde! Mir ist Angst und bange—über das Grab hinaus: Es wird hier die Hölle geben und ich werd' nimmer leben! Der Eibsee, der Eibsee! Schade, daß Ihr damals dorthin nicht konntet. Es ist der schönste Erdenfleck, den ich kenne—alles andere drum herum ist bloß Gebirgsszenerie dagegen, Ansichtskartenzeug. Der Eibsee aber ist ein Juwel, ein Kleinod von Gottes Hand gefallen zwischen hohe Felswände. Eine meiner geliebtesten Erinnerungen. Ich war einmal dort, aber ganz allein, und so war's mir recht. Ich hätte keinen anderen, und keine andere, zu damaliger Zeit dort brauchen können. Das sind nun an die 40 Jahre her! Wegen der Zigaretten tut es mir außerordentlich leid. Der Postbeamte zweifelte sehr, wollte fast abraten, als ich die Schachtel absandte. Ich versicherte aber, daß eine frühere gut angekommen sei. Vielleicht kommt auch diese endlich einmal an. Ich will's hoffen. Kann jetzt nicht weiter. Alle lieben Wünsche, mit der inständigen Bitte, guten Mutes zu sein, daß Glaube und Hoffnung nicht ganz verloren gehen! Gruß und Dank! AB 371 Falls Village, 15. IX. 48 Kann kaum schreiben, in letzter Zeit fast andauerndes Unwohlsein—eine wahrscheinlich unbedeutende aber äußerst lästige Unpäßlichkeit. Die liebe Wortkarge sei überzeugt, daß der "Schweigende" niemals schweigt, weil er nicht schreiben will, immer nur, weil er es nicht kann.* Er kann es eigentlich heute auch nicht, muß aber, gemäß seines gegebenen Wortes, Empfang der Sendung vom 11. bestätigen und dafür herzlich danken. (Es ist kein Besuch da; und für diese paar Zeilen reichts noch eben.) Äußerst traurig, daß nächste Sendung die letzte sein wird; es wird dann etwas sehr wichtiges in meinem Leben fehlen. Und wie recht Sie haben! Mir ist wahrlich keine Silbe von ihm, keine Ortsbezeichnung, keine "Belanglosigkeit" ohne Bedeutung, auch wenn ich nicht immer "im Bilde" sein kann (oder darf). Werde mir erlauben bei späterer Gelegenheit (Anmerkungen zu Briefstellen) hie und da um Aufklärung zu bitten—wenn gestattet. Wäre unendlich dankbar, wenn ich einiges Authentische über seine letzte Krankheit—die anscheinend während einiger Jahre im Anrücken begriffen war—und deren Vorgeschichte endlich erfahren könnte. Die unmittelbare Todesursache soll eine Gehirn-Embolie (blood- clot in the brain) gewesen sein. Darüber scheinen die meisten einig zu sein; über die Vorgeschichte aber widersprechen sich die meisten Ansichten. Samek, z.B., kann oder will nichts Näheres angeben. Die Nichte behauptete, die Krankheit habe ihren Ursprung in einer ganz kleinen, unscheinbaren Verwachsenheit des Halses oder der Schulter gehabt, was mir durchaus unglaubhaft klingt. Mir schien er ebenso gerade gewachsen zu sein wie sonst einer. Viele Menschen sind hochschultrig, ohne irgendwie "verwachsen" zu sein. Mir ist der Zustand seiner letzten Jahre in Nebel verhüllt. Also bitte gelegentlich einmal, wenn Sie es über sich bringen können. Es grüßt Sie herzlichst der stets Dankbare 372 Auch hier sind die letzten Sommer- und ersten Herbsttage von unaussprechlicher Herrlichkeit, nur daß ich sie leider nicht recht genießen kann. *aus dem einen oder dem anderen Grund. Sehr selten wegen Krankheit. Falls Village Unmöglich, liebe Seele, jetzt zu schreiben. In einigen Tagen fahren wir weg, unterwegs zwei Aufenthalte—wenn ich inzwischen nicht neuerlich erkranke —, und so dürfte ich wieder um den 10. X. in Lawrence zu erreichen sein. Es geht mir noch immer nicht gut, aber doch immerhin etwas besser. Einstweilen will ich nur in aller Eile für die neueste (letzte!) Sendung danken, sowohl für die Abschriften wie für die unendlich traurigen paar Zeilen—allerinnigst! Leider so niederschmetternd—und doch so schön! . . . Meine Anfrage bezüglich der letzten Krankheit dürfte jetzt, nach Studium dieser Briefstellen, zum großen Teil überholt sein. Nun aber, da die Abschriften leider ein Ende genommen haben, wird die edle Gönnerin den neuen Freund nicht ganz fallenlassen? Sie sei ihm, mit allen schönsten Wünschen und Hoffnungen, von Herzen gegrüßt! AB 23. September 1948 Wenn Worte nur aufrichten, ermuntern und ermutigen könnten! Ich finde sie aber leider nicht. 373 [Poststempel 10. November 1948] Liebes Wesen! Daß es nicht Gleichgültigkeit, nicht Nachlässigkeit war, die an dem langen Schweigen schuld sind, muß ich hoffentlich nicht erst versichern. Nur Krankheit; und nicht nur die eigene. Kaum waren wir wieder zuhause, da überfiel uns alle eine Erkältung—am schlimmsten mich Unglücklichen, und nach einigen Tagen stellte sich heraus, daß ich mir eine nicht allzu gefährliche Lungenentzündung zugezogen hatte, die mit Hilfe des Wundermittels Penizilliums ziemlich rasch vorüberging. Doch mußte ich beinahe 3 Wochen liegen und erhole mich nur sehr langsam und allmählich, und weiß nicht, wann ich wieder soweit bei Kräften sein werde, um Ihnen das alles zu schreiben, was ich Ihnen zu sagen habe. Für den letzten, so herzlich und schmerzlich lieben Brief vom 6. Oktober, will ich aber jetzt in Eile endlich und innigst danken. . . . Nun war ich vor 10 Tagen wieder so weit hergestellt, daß ich mich mit Mühe und Not von einem Zimmer ins andere schleppen und sogar zu den Mahlzeiten hinuntergehen konnte. Als die arme Dame des Hauses plötzlich von fürchterlichen Herzkrämpfen befallen wurde; und seither liegt sie hilflos im Hospital, wo ich sie sooft als möglich besuchen muß (und will)—was aber viel Zeit in Anspruch nimmt. In ihrer Abwesenheit, da wir jetzt fast gänzlich ohne Bedienung sein müssen, wußten wir nicht, was wir in dem Durcheinander ohne unseren lieben Schutzengel anfangen würden. Eben bin ich schon so weit, daß ich mich seit 3 Tagen auf ein paar Stunden in meinem Arbeitszimmer aufhalten kann, ohne bisher viel geleistet zu haben. . . . Die arme Frau hat sich zu unserer Freude überraschend gut erholt, muß aber noch wochenlang liegen—solche Herzzustände brauchen eben viel Zeit. Sobald es nur irgend möglich, schreibe ich wieder, hoffentlich einen viel längeren Brief— wie gesagt, hätte ich manches zu besprechen. Alle lieben Grüße stets Ihr AB 374 Am kommenden 1. Dezember, falls ich inzwischen nicht zum Schreiben komme, werden meine schönsten Gedanken bei Ihnen mit allen herzlichen Wünschen sein. Lawrence, den 11. Dezember 1948 Sidi, gnädigste! Der 1. Dezember mußte leider vorübergehen, ohne daß sich mein inniger Wunsch, ihn brieflich zu gedenken, erfüllen ließ. Daß aber an jenem Tag das liebe Geburtstagskind meine Gedanken erfüllten, wird sie hoffentlich ohne meine Versicherung wissen Es sind schlimme Wochen, die wir hier durchleben. Noch immer liegt meine arme Frau im Krankenhaus—jetzt sinds 6 Wochen! — , doch dürfen wir nunmehr hoffen, daß sie bis, oder sogar schon vor Weihnachten wieder zuhause sein kann, vorerst allerdings noch leider bettlägrig. Man kann sich da leicht denken, wie furchtbar wir anderen in all der Zeit in Anspruch genommen sind, und wie viel auch weiterhin es zu besorgen gibt, welche Gänge es zu laufen gilt, usw. Seit unserer Rückkunft vor 2 Monaten haben wir drei buchstäblich keinen einzigen normalen Tag verlebt. Endlich sende ich Ihnen in rasender Hast diese paar Zeilen heute abend; aber nur weil ichs nicht über mich bringe, Sie länger ohne Nachricht zu lassen—es müssen jetzt notgedrungen nämlich alle Korrespondenzen der Reihe nach erledigt werden; dieser Brief aber wird außer der Reihe gekritzelt. Und immer kommen neue Korrespondenten, oft wildfremde Menschen. So unlängst drei Briefe. Der eine von einem Frauenzimmer in Chicago: Sie macht auf der dortigen Universität ihre Doktorarbeit—ja, worüber? Über wen denn? Richtig, über K.K.— und ich soll ihr dabei behilflich sein! Soll ihr "Material" liefern, sie brieflich beraten, womöglich die Arbeit edieren und korrigieren. Natürlich ausgeschlossen. . . . Ein anderer— in Heidelberg—bittet mich, ihm meine Nachdichtungen aus Worten in Versen (1930) sowie das Gedichtbändchen Ventures in Verse und die Schallplatten zu senden. Auch die letzten 375 Tage wären ihm willkommen. Sind das Zumutungen! Dann lebt in Lüneburg ein sehr freundlich liebenswürdiger, hochkultivierter Studienrat, der, durch einen gemeinsamen Freund auf meinen Gedichtband aufmerksam gemacht (die früheren Nachdichtungen kannte er bereits), mit mir darüber und über K.K. korrespondieren möchte—er schreibt übrigens ein tadelloses Englisch. (Aber leider verfüge ich über keine "vierte Umschlagseite", auf die ich mich berufen könnte; so müssen wann irgend möglich alle solche Briefe nach und nach beantwortet werden.) . . . Daß Sie nun solche Aufzählung im geringsten interessieren könnte, glaube ich gewiß keinen Augenblick. Es sind aber immerhin Beispiele. Den liebsten Freunden hier zuhause schreibe ich diese ganze Zeit überhaupt nicht—ich komme nicht dazu; und das arme Schutzengerl, das dabei womöglich mehr in Anspruch genommen wird als ich, muß sie fur mich mit Kartengrüßen vertrösten. Und ein paar allzu kurze Stunden für die eigene Arbeit muß ich jeden Tag doch irgendwie abringen, sonst gehe ich unfehlbar zugrunde. . . . Aber Sie, liebe Seele, die Sie mir durch so viele Jahre so unendlich viel gegeben haben—und erst in diesem letzten wie unermeßlich viel!—werden niemals glauben, daß ein längeres Schweigen bloße Vernachlässigung bedeutet. Ihnen schreibe ich solange als wir beide noch auf Erden sind, und so oft als möglich—oder bis mir bedeutet werde, daß weitere Briefe unerwünscht seien. Was ich Ihnen alles zu sagen habe und mit Ihnen besprechen will—ja, wenn ich nur wüßte, wo anfangen (und wann)! Aber vielleicht kommen in absehbarer Zeit wieder ruhigere, sorgenfreiere Tage, und mehr Muße. Das meiste und wichtigste wird wohl die Briefstellen betreffen. Vorläufig aber nur diese eine Frage: Können Sie mir von Frau Lichnowsky Nachricht geben ? Wie es ihr im allgemeinen geht, wie sie lebt, ob sie gesund ist? Vor vielen vielen Monaten habe ich ihr in einem Paket einiges Erwünschte schicken dürfen. Sie bedankte sich in einem überaus liebenswürdigen Schreiben sehr herzlich, klagte mir aber dabei ihr Leid (nicht in Jammertönen), beklagte insbesondere ihre gegenwärtige—wohl vorübergehende—Vergessenheit als Autor und die Schwierigkeit, ihre Arbeiten anzubringen. Ich antwortete, und versuchte, meines Erinnerns, sie mit der großen Liebe, welche sie bei ihren Lesern erweckt hat, taktvoll zu trösten: daß sie in unserem Gedenken niemals verschollen sein könne, usw. Das war im Frühjahr; seitdem höre ich kein Wort. Es beunruhigt mich. Ich frage mich jetzt die ganze Zeit, ob denn mein "Trost" vielleicht nicht 376 eher taktlos war, ob ich möglicherweise etwas geschrieben habe, woran sie Anstoß nehmen konnte. Der weit schlimmere Verdacht, daß es ihr elend gehe, daß sie erkrankt sei, will ich nicht aufkommen lassen. Schließlich aber könnte der Grund ihres Schweigens ein durchaus harmloser sein und es sind ihr meine immer kurzen Briefe auf die Dauer halt zu dumm, oder sie hat einfach keine Zeit für so einen hergelaufenen Kunstakademiker, der sie durch ihr Werk liebgewonnen hat. (Vom "Kunstakademiker'5 aber weiß sie nichts: das reibe ich keinem, der mich nicht als solchen schon kennt, unter die Nase.) Da ich vermute, daß Sie mit ihr noch immer in Verbindung stehen, wende ich mich mit der Bitte um Beruhigimg an Sie. Und nun haben wir bald wieder Weihnachten, und schon stieren uns die drohenden Glotzaugen des neuen Jahres an. . . . Was ich Ihnen zu[m] Weihnachten wünsche, wünsche ich jedem Ihrer Tage: es ist nur Gutes und alles Liebe.—Dem neuen Jahre aber zum Trotz, wollen wir unentwegt und immerzu hoffen, unerschütterlich glauben—was da auch kommen mag! AB Die "paar Zeilen" sind leider ein langer, langweiliger Brief geworden. Sorry! Im heiligen Gedenken des nahenden 28. April, der 75. Widerkunft des Geburtstages Karl Kraus. Grüßt mit fragenden Augen ein tief-traurig Verstoßener. den 19. April 1949 377 4 May 1949 "Wer also ist 'verstoßen'"? Neither the one nor the other. There seems to have been a misunderstanding, both on your part and my own, for which I am most sorry. But, I ask you, what was I to think or imagine, when, after a letter written months ago (und zwar kein "kurzer" Brief, wenn er auch kein sehr langer war), no reply of any kind came, not even to direct questions which required an answer? (You may remember that I was troubled by the long silence of Frau Lichnowsky, who has never acknowledged my last letter, written about a year ago?) And though I cannot remember at this distance of time just what I wrote, I am sure that I couldn't conceal from you my disturbance over your own situation. Was not that worth an answer or at least a word of solace to ease a troubled mind? Moreover—though it is perhaps petty even to mention it —, I believe that my last letter was intended primarily as a word of birthday greeting and good wishes for the first of December—und dafür dankt man doch wenigstens, auch wenn man aus triftigen Gründen zu keinem längeren Brief aufgelegt ist? . . . Can you really wonder, then, in view of all this, that I should have felt upset & rather "verstoßen? And now, about your own mild and gentle reproach. It would be quite valid, if I had never told you of my own desperate situation here. But you knew of it, though you did not yet know the worst, for the worst had not yet visited us. It has been a winter of almost unrelieved horror and all but unbearable strain; a winter of constant illness (including, even today, my own), some of it of the gravest nature, involving those most near and dear to me, without one single day of normal and quiet living. The winter is over at last, but the evils it brought are still with us. By the grace and blessing of God (quite undeserved, I assure you) I was often able to retire for a few hours at a time to my workroom upstairs; and despite all obstacles and interruptions, was able to accomplish more work than I had any right to hope. But other things—important matters, too—were bound to suffer neglect. It may seem strange, but writing has always put a greater nervous and physical strain upon me than painting; and I have been warned so often of late years that I simply must be careful. So since there is a 378 choice to be made, I have naturally chosen to concentrate upon the work which is not only more important to me than any other, but which requires less exertion. In these circumstances it will surely be clear, why my comments upon the beautiful letters of K.K. had to be laid aside to await an expected and hoped-for favorable opportunity. If, in that last letter I wrote you, I neglected to state this specifically, I ask you to forgive me and to believe that this was no mere oversight, but the result of my natural assumption that our period of trial would soon be past and that I could resume my labor of love upon the letters, as I had fully intended doing, before very long. My "labor of love" I call it. It is that, in the most literal sense of both words. A fascinating labor indeed, most interesting and enjoyable, and entered upon in a spirit of purest devotion and self- surrender, but: hard labor and most confining and exacting labor. And I have not been well enough to undertake it. The summer is at the door, and I must rest if I can.* It seems even that I shall not be able to escape from the killing heat of these regions this year, when more than ever I need to be away from it. The doctors have warned me all too frequently.... So there you have my explanation. Aber: Zwischen Freunden, die, wenngleich fern von einander, in sonst so großem Einverständnis leben, sollten solche Erklärungen und Aufklärungen kaum nötig sein. You have been often in my thoughts, much upon my mind; and I have been greatly troubled. Zu verzeihen habe ich nichts. You have been kind, you have given me much; I have tried to be worthy of it, and hope that I still may prove so. In closing, let me echo your own words: Gebe Gott, daß die täglich erhoffte, täglich enttäuschte Erfüllung Ihres Begehrens, die ersehnte "größere Nähe" bald eintrete! In sorgenvoller Treue AB •But of course I could not let the 28. April and certainly not this year, pass without a word of commemoration. 379 Am Sonntag, den 12., werden zwei Herzen wieder an einem Grabe niederknien. Gemeinsam, Hand in Hand. Dies zu versichern, ist wohl kaum nötig Die Liebe zu jenem im wahrsten Sinne heiligen Geiste erwächst in beiden Herzen mit den Jahren, in diesem einen wächst sie stetig so lange als es ihn kennt, und das ist fast so lange wie ihn seine über alles geliebte Sidi kennt—wenngleich meine tiefe Empfindung für das Passende und Geziemende es mir auferlegt hatte, jeder Gelegenheit, jeder Möglichkeit, seine persönliche Bekanntschaft zu machen, auszuweichen. Ich habe diese heilige Scheu nie eigentlich zu bedauern gehabt, denn mit der Zeit wurde ihm meine unverwandelbare Liebe und Treue klar bewußt, Karl Kraus kargte nicht mit seinem Dank, mit seiner Anerkennung für das Verständnis des ihm Unbekannten; und dieses Wissen um meine Liebe, um mein Verständnis macht mich noch heute stolzer als alles Ehrenvolle, das mir je in meinem Leben sonst zuteil worden ist. Und die schöne Bereitschaft Sidis, mich um seinetwillen als vertrauten Freund aufzunehmen und mir solch wunderbare Beweise ihres Vertrauens zu bestätigen, ist ein Hauptbestandteil solcher Ehre; denn sie, besser als sonst einer, kennt seine Wünsche, weiß um seine Erlebnisse: und hier kann sie nicht fehlgehen, weil sie es seelisch nicht darf. Gütiges Herz, sei immer wieder bedankt! Es geht jetzt besser, wenn ich mich auch noch immer in ärztlicher Behandlung befinde und nach dem höllischen Winter noch immer erschöpft und zu nichts imstande bin. Daher dürfte der Brief schlechter als sonst ausgefallen sein, wie er körperlich schlechter als sonst geschrieben ist. Man bittet darum um Entschuldigung und gütige Nachsicht. Am 11. fahre ich wieder nach dem Osten des Landes zu meinen geliebten Hügeln, wo ich mich, so Gott will, gehörig ausruhen werde. Gegen Ende September bin ich hoffentlich wieder hier. Die Adresse ist aber diesmal eine andere—leider. In die altgewohnte Gegend können wir diesen Sommer nicht zurück. Konnten das frühere Häuschen, aus guten Gründen, diesmal nicht beziehen, und es ließ sich in der Nähe sonst nichts Passendes finden. So nehmen wir heuer notgedrungen Vorlieb, und hoffen das Beste. Die Adresse—für den Fall, daß man mir vielleicht einmal eine Zeile dort zukommen lassen will, lautet: 380 per Adr. Varga Mount Pleasant Ulster County N.Y. * Ich höre, daß in Wien der 75. Geburtstag öffentlich gefeiert wurde, mit einer Ausstellung im Rathaus und "Festreden" vom Herrn Bürgermeister und anderen. Dazu als Festgäste Viertel und—Kokoschkai Also bitte! Der Freund, der mir die Mitteilung machte, setzte als Kommentar das einzige Wort "Unglaublich . . ." hinzu. Ich aber gehe weiter, und sage, nach einem ellenlangen Gedankenstrich und dem viel zu wenig unterstrichenen Kokoschka: Also bitte! . . . Wo aber bleiben der Fischer mit seiner Kann (das klingt schon fast wie ein Vers der Lorelei])! Aber das macht nichts: Unter den Breitmäulern befand sich ein Anhänger der Frau K., ein wohlmeinender Schwachkopf namens Haiti Herzlichst, der stets Ergebene. Lawrence 3.Juni 1949 381 Sidonie Nädherny von Borutin Briefe an Albert Bloch 1. Oktober 1947 bis 9. September 1950 382 1947(6) 1. Oktober 18. November 23. November 5. Dezember 19. Dezember 31. Dezember 1948(31) 10. Januar 14.Januar 26.Januar 28.Januar 29./30. Januar 5./6. Februar 10711. Februar 18. Februar 1948 25. - 27. Februar 28729. Februar 29. Februar 10. März/12. März 18. März 29. März 172. April 15. April 3. Mai 7. Mai 22. Mai 24. Mai 6. Juni 18.Juni 21.Juni 12. Juli 10. August 17. August 30. August 11. September 13./14. September 6. Oktober 15. November 1949(9) 27. April 15.Juni 18. September 20. Oktober 23. Oktober 13. November 22. November 5. Dezember Abschriften zu Gedichten in Worten in Versen, Bd. I Rest der Abschriften zu Gedichten Abschriften über Menschen und Werk (24) Blätter über Menschen und Werk (Rest) Gedichte "Ski und Fiedel", "Zum neuen Jahr" Beilage Berichtigung/Beantwortung Beilage Helene Kann/Testament Beilage Briefe Fortsetzung 1914 Noten zur Ballade vom Papagei Briefe 1915 Briefe 1915 (?) 14 Blätter Abschriften zusammen mit 22. Mai abgeschickt Beilage 2 Blätter Beilage 5 Blätter Beilage 6 Blätter Beilage 7 Blätter Beilage 10 Blätter Beilage 7 Blätter (letzte Abschriften) 383 15. Dezember 1950(9) 5. Januar 20.Januar 8. Februar 27. Februar 12./13. April 8. Mai 9. Juni 20. August 9. September Insgesamt: 55 Briefe Vrchotovy Janovice, 1. Oktober 1947 Sehr geehrter Herr Professor, Unlängst, ganz zufällig, ein Buch in einer der vielen Kisten suchend, in die meine Bibliothek verpackt wurde, als die SS. mich nötigten, das Schloß zu verlassen, fiel mein Blick auf Ihren blauen Band, auf "Poems of Karl Kraus", u. als ich "Kansas" las, dann wusste ich plötzlich alles. Ich sah sein Zimmer vor mir, in dem er mir öfters Briefe von Ihnen vorlas, ich erinnerte mich, dass er öfters von Ihnen mit aufrichtiger Hochschätzung sprach (aus der Menge der verschiedenen Zuschriften fühlte er stets mit unbeirrbarer Sicherheit wahres Verständnis heraus) und wie konnte ich vergessen, dass er selbst im März 1931 mir Ihr Buch mit seiner Unterschrift schenkte? Er muss es genau durchgesehen haben, denn im Epitaph for a little dog machte er zwischen den Zeilen 7 u. 8 ein Verbindungszeichen (}), weil da kein Absatz, keine neue Strophe sein soll. Zurückdenkend, erkläre ich mir diese unentschuldbare Vergesslichkeit damit, dass ich gleich nach Erhalt des Bandes es, ohne es gelesen zu haben, einer Engländerin borgte. Bald danach traf mich schwer der plötzliche Tod meines Zwillingsbruders (wir hatten zusammen gelebt). So geriet das Buch in Vergessenheit. Dann kam Sein Tod, der mein Leben abschloss, und dann kam der Tod der Vielen. Ihr Name war mir nie recht ins Bewusstsein gekommen, (Sie waren der Professor aus Kansas), so dass er mir jetzt ganz neu war. Und ich las Ihre Gedichte - ventures in verse - u. sie erschütterten mich, denn sie sind anders, sie sind ein Muss, sind niemals Worte ohne Gedanken, sind ein Kämpfen, Lieben, Leiden, ein Sichwehren, ein Suchen, ein Bejahen und Verneinen. Sie dringen direkt in mein Herz, ich fühle ihre Grösse u. ihren Emst, ihren tiefen Emst, der niemals lügt noch vormacht. In jedes Wort ist das Empfinden gebannt, das Wort ist das Empfinden. Wie bei K.K. Schrieb er die einfachste Zeile nieder: Der Himmel ist blau, so war sie so hingesetzt u. umrahmt, dass nie ein Himmel blauer war, nie ein Himmel endloser. Ich habe jetzt Ihren ersten Band gelesen (und Dr. Samek schon vor einigen Wochen meine blöde Vergesslichkeit berichtet). Trotz der Schönheit vieler Zeilen, der unübertrefflichen Widergabe der Stimmung, der Gedanken, des Rhytmus, verstehe ich, gemessen an den letzten Übersetzungen, dass Sie sie teilweise umgearbeitet haben u. erwarte ich mir einen grossen Genuss. Es muss Freude machen, sich 385 nie zufrieden zu geben u. mit so Grossem sich zu befassen u. es in Vollendung einer anders sprachigen Welt bekannt zu geben! Heute nur dies, damit meine Bitte um Entschuldigung meiner Gedächtnisschwäche bald Sie erreicht. Vielleicht entschliesse ich mich, Ihnen einmal die wahren Manuscript-Titel u. Daten aller mir gewidmeten Gedichte zu senden, auch seiner 2 letzten noch ungedruckten. ("Man frage nicht" schrieb er hier am 13. 9. 33 u sein überhaupt letztes, wie sein erstes mir gewidmet, am 1. 10. 33). In einem Band zusammengefasst, würden sie eine biographische Lebensgeschichte darstellen. Ihnen als Dichter, Ihnen als Unbekanntem, Ihnen als Erstem. Vielleicht aber auch nicht. Der Welt gegenüber will ich immer anonym bleiben. Vielleicht aber sollte ich, bevor ich sterbe, Sie beurteilen lassen, ob eine solche Zusammenstellung von Wert wäre. Es wären ihrer 50, eventuel einige wundervolle Prosa. Aufsätze von dichterischer Kraft. Freilich ist in den Gedichten vieles erhalten, was eigentlich niemand, ausser mir, ganz verstehen kann, weil sie sehr Persönliches beinhalten u. Preisgabe ausgeschlossen ist. Doch dies ist j a auch nicht nötig. Allein die Zusammenstellung ergäbe ein geschlossenes Bild u. spräche ihre Sprache jedenfalls nur in englischer - als Paravent. Mit freundschaftlichem Gruss und Dank für Ihren Brief Sidonie Nädhernä Vrchotovy Janovice Posta, Telegraf, Telefon 1. Stanice Drähy Olbramovice 18. November 1947 Sehr verehrter Herr Professor, Ihr lieber langer Brief vom 8. 10. wäre schön längst beantwortet, hätte er mir nicht die Anregung gegeben, Ihnen aus seinen Briefen alle die Gedichte betreffenden Stellen herauszuschreiben; denn Ihr Brief gab mir das sichere Gefühl, dass Sie der einzige Würdige 386 sind, sie kennen zu lernen. Aber da es sich um 260, meistens sehr lange u. in winziger Schrift geschriebene Briefe handelt, nimmt das Heraussuchen viel Zeit. Ich notiere mir auch, um es Ihnen zu senden, interessante Aussprüche über seine Werke u. über Menschen, Dichter u.s.w. Vorerst aber werde ich Ihnen das "Dunkel" einiger Gedichte aufklären, nur habe ich wenig Zeit u. muss ich die Nächte dazu benützen. Es ist übrigens seltsam, wie sehr Ihre Schriftzüge den seinen gleichen. Nur sind sie deutlicher. Und ob er lustig sein konnte! Er sprudelte oft voll spitzbübischer Ausgelassenheit u. war dann stundenlang kein ernstes Wort mit ihm zu reden. Er war ein vortrefflicher Imitator u. nichts war komischer, als wenn er z.B. meinen Bruder, dem er innig zugetan war, in dessen Gegenwart haargenau imitierte. Er versetzte sich gem in die Person des Betreffenden u. in seine Gedankengänge. Freilich nur in intimem Kreis Hess er sich ganz gehen, dann aber kannten sein Witz, Humor und Temperament keine Grenzen u. man kam nicht aus dem Lachen heraus. U. wie herrlich er selber mitlachte. Es gab nichts Anregenderes als seine Gesellschaft. Und welche Güte, welches Mitfühlen! Er hatte das weichste Herz. Er konnte weder Mensch noch Thier leiden sehen u. war immer hilfsbereit. Aber die Bekannten seines Umgangs (die ich mied) kannten ihn nur im Düster der Kaffeehäuser (die ich nie besuchte), wo er nie er selbst war. Dies war er nur in seinem Zimmer oder in Janovitz oder in der Natur, die sein Element war. Schwimmen war für ihn Seligkeit, sich unter einen Wasserfall stellen (wie in Tierfehd) oder sich in einen Bach legen war ein Glückstaumel, ebenso ein Wiesenhang. Ihm genügte zum Glück eine kleine Wiese u. ein Stück Himmel, dies sagte er mir oft, u. er brauche keine andere Landschaft. Am Rücken liegend u. in den Himmel schauen, wie oft traf ich ihn so. Und fand er Glockenblumen auf der Wiese (wie hier), war er selig wie ein Kind. Oder gar Schmetterlinge. Nicht nur Admiral und Tagpfauenauge, auch Zitronenfalter waren seine Lieblinge. Und willkommen war ihm stets die Gesellschaft einer meiner Hunde. Ich selbst musste bei allem dabei sein, sonst war er nicht zufrieden. Selbst wenn er schrieb u. dichtete (als stille Hörerin). Oft sagte ich ihm lächelnd, er sei ein eigensinniger Kindskopf, was er gerne zugab. Was da nachträglich eine Helene Kann über ihn plauscht, das ist einfach erlogen, ist niemals er. 387 U. nun zu Ihrem Brief vom 24. 10. Ich kann Ihnen garnicht sagen, wie es mich rührt, dass Sie daran dachten, mir den Lac de Joux zu senden. Welche Erinnerung an glückliche Tage wird da lebendig. Einen ganzen Sommer waren wir in unserem kleinen Wagen (ich immer die Lenkerin) durch die Schweiz gefahren, planlos, Wiesen und Bäche suchend, u. kamen so nach Vallorbe u. zum Lac de Joux, das Glück aber war wieder eine Wiese in ihrer Nachbarschaft, der Zauber waren die Namen. Ebenso kamen wir nach Tierfehd, wo wir einige Wochen blieben u. er an den Letzten Tagen arbeitete. Die Photographie ist noch nicht eingetroffen, aber ich danke im Voraus aus ganzem Herzen. Ich werde sie neben sein Bild aufhängen. Als Zeichen des Dankes sende ich Ihnen 2 Bilder von ihm mit Bobby u. eines auf der Wiese im Park. Ferner eine Park-Aufiiahme u. das Stiegenhaus des Schlosses, sein Lieblingsaufenthalt. Nannte er doch Janovice "die Wiege meiner Lyrik." In Fimdverheimlichung 2. Teil ist es derselbe Bobby, der in St. Moritz zurückgeblieben war bei der Engländerin, die Sie mit Hut auf der Wiese sehen. Demnächst sende ich Ihnen noch Bilder von Tierfehd (die er eingerahmt in seinem Zimmer hatte, ebenso wie die Bobby- Bilder u. von den Nazis vernichtet wurden). Ich muss sie erst kopieren lassen. Sie haben Recht, dass eine Wiedergabe in engl. Sprache wenig Sinn hätte, es war eine dumme Vogel-Strauss Idee. Aber ich liebe die englische Sprache u. man hat gelernt, gegen die deutsche eine Abneigung zu haben. K.K. hätte sie auch gehabt. Seine war eine Himmelssprache. Wie gerne würde ich ihm vom Lac de Joux erzählen - Es ist 3 U. nachts geworden. Mit herzlichem Gruss Ihre Sidi Nädhernä P.S. Eine Prager Univ. kommt überhaupt nicht in Frage. Dann schon eher Harvard. Es bedrückt mich Ihre Erwähnung, "krank geworden" zu sein. Sie wären hier wärmstens willkommen. Aber ich bin keine gute Erzählerin, nur Hörerin. Seit Jahren lebe ich einsam u. schweigsam. Und bevorzuge Hunde-Gesellschaft. 388 Dear professor, The picture of the sweet lac de Joux came yesterday & I thank you once more for the kind attention. Each evening I am taking notes for you from his letters, all in all 442 letters (many of them many pages in tiny handwriting containing all his thoughts, feelings, in short his whole life from 1913, when first I met him), 465 telegrams, some as long as a letter & 163 postcards. I love to gaze at the lac de Joux. Believe me yours very sincerely Sidonie Nädhernä A happy Christmas! Vrchotovy Janovice, 23. November 1947 Vrchotovy Janovice, 5. Dezember 1947 Sehr verehrter Herr Professor, Hiermit sende ich Abschriften aus Stellen seiner Briefe im Zusammenhang mit den persönlichen, mir zugedachten Gedichten (8), und zwar vorerst aus dem I. Band. Successiv dann aus den anderen Bänden. Ich habe noch die Elegie hinzugefugt. Zuletzt werde ich seine Äusserungen über andere Gedichte, Werke, Menschen, Weltgeschehen u.s.w. abschreiben u. Ihnen senden. Darüber dürfte der Winter vergehen. Es galt mir vor Allem, das Wesentliche seiner Art zu arbeiten, zu denken, zu fühlen und somit auch die Gedichte für den würdigsten Nachdichter verständlich zu machen. Für Leser ist dies nicht nötig, wohl aber für den Nach-Fühlenden, Wieder-Erlebenden. Es ermöglicht Ihnen, Einblick in sein Privatmenschentum, und zwar in das alleredelste, zu gewinnen. Zwar habe ich nur einen winzigen Bruchteil aus der unendlichen Fülle herausgeschrieben, nur gerade das, was mir zum Verständnis nothwendig erschien, aber er dürfte ein klareres Bild 389 ergeben, als eines der Kombinationsgabe überlassenen. Trotzdem fürchte ich, den Eindruck zu erwecken, als wollte ich mich in den Vordergrund rücken, obzwar ich hunderte von Briefzeilen unerschöpflicher, unvergleichlicher dichterischer Schönheit, Leidenschaft u. Gefühlsstärke, die sich aber nicht direkt auf die Gedichte beziehen, verschweige. Bitte, zu glauben, dass ich mir jederzeit meines Unwerts und seiner Illusionskraft bewusst bin. Es gab Zeiten, in denen er mir täglich, manchmal stündlich schrieb, mir jeden Gedanken mitteilte und der Reichtum seiner wundervollen Briefe u. ihr unermesslicher Werth sind in jeder Richtung unvollstellbar. Sie sind der Erste, dem ich Einblick gewähre; dies möge Ihnen meine Zurückhaltung beweisen und wie streng ich sie während all der Jahre vor Menschenblicken behütet habe. Aber auch mein Vertrauen in Ihre unbedingte Diskretion, gewonnen aus Ihren Briefen u. aus Ihrer Hochachtung für den Unvergesslichen. Es wäre mir schrecklich, wenn auch nur ein Satz dieses Heiligtums public werden würde. Nun geht es einen weiten Weg. Aber es ist mir leichter, es in die Ferne als in die Nähe zu leiten. Vielleicht täte ich auch dies nicht, aber es war mit seiner Zustimmung (die er auch öfters in Briefen erwähnt) dass ich die schönsten Stellen herausschrieb (weil seine Schrift schwer zu entziffern ist,) zwecks eventueller Veröffentlichung nach unserem Tod. Also bin ich auch diesmal seines Einverständnisses sicher. Die ganze Briefsammlung stellt einzigartige Dokumente dar eines einmaligen Geistes, eines einmaligen Herzens. Erschütternd in Leid u. Schmerz, wie jedes Wort von ihm, berückend in Witz, Humor, Kritik u. Haltung, ob lobend oder verdammend. Vollkommen rückhaltlos, ohne Reserve die er sonst stets Anderen gegenüber sich auferlegte. Ein nur mir geäusserter Freimut. (Deshalb kannten selbst Freunde u. Bekannte ihn nicht völlig in der Unbedingtheit seiner ganzen, grossen Wahrhaftigkeit.) Es hat nie einen reineren, edleren, gütigeren Menschen gegeben. Und selten einen verkannteren. Weil der Umfang solcher Einheit verwirrt u. unfassbar ist. Und diese Hilfsbereitschaft jedem Leidenden gegenüber. Er konnte nicht Schmerzen - ob physisch oder psychisch - mit ansehen. Wie oft sah ich bei solchem Anblick seine Augen sich mit Thränen füllen, denn der Nachsichtslose gegen jedes Übel hatte das weichste Herz. Während des Wiederlesens seiner Zeilen fühlte ich mit aufgerissener Wunde, wie furchtbar, 390 wie unersetzlich ich verarmt bin. Sein Lebensabschied schloss das meine ab. Geblieben sind nur Gebete - zu ihm. Während ich schreibe, fühle ich so deutlich, wie er mir lächelnd zusieht. Ich sehe dieses so oft gesehene Lächeln: voll Güte, mit einer Mischung von Zärtlichkeit u. Zustimmung, manchmal kam Nachsicht hinzu, manchmal Stolz u. Anerkennung. Ich muss Sie wohl nicht erst bitten, die Abschriften streng vertraulich zu behandeln u. muss nicht wiederholen, dass ich sie keinen anderen Augen preisgegeben wissen möchte. Aber bitte senden Sie mir gleich Ihr Urteil. Mit freundlichem Gruss Ihre Sidonie Nädhernä P.S. Ein seltsamer Zufall wollte es, dass ich gerade an meinem Geburtstag seinen Geburtstagsbrief - vor 32 Jahren - für Sie abschrieb. Vrchotovy Janovice, 19. Dezember 1947 Sehr verehrter Herr Professor, Heute nur in Eile beilieg. 4 Bilder, damit sie rechtzeitig zu Weihnachten mit den besten Wünschen u. mit nochmaligem Dank für Lac de Joux eintreffen. (Ich Hess sie für Sie kopieren u. erhielt sie erst heute.) Diesmal sind es leider keine Bilder von ihm, sondern nur von mir u. von dem Wagen, den er so sehr liebte, weil er uns jeden Sommer während des 1. Weltkriegs durch die schönsten Landschaften der Schweiz führte. Ihren Brief (3. 12.) - es ist, als ob wir uns schon lange kennen würden - beantworte ich bald, vorerst möchte ich noch die Abschriften aus s. Briefen Gedichte betreffend vollenden, eine Arbeit, zu der Sie - ahnungslos - den Antrieb gaben u. die mir Glück und Schmerz ist. Gebannt u. in Erinnerungen verloren, alles wieder erlebend, merke ich nicht, wie die Nacht 391 vergeht, bis das Krähen eines Hahns mich zur Besinnung bringt. Den ganzen Tag lang, während den Pflicht-Beschäftigungen, die die Führung eines grösseren Landbesitzes mit sich bringt, freue ich mich auf die Nachtstunden, die mir gehören. Wie recht hatte Ihre Freundin! Ich bin übrigens an wenig Schlaf gewohnt u. an das Ausnützen der Concentration, die die Nacht bietet. Bobby gehört einer alten u. heute sehr seltenen Hunderasse an, sie wurde in Deutschland gezogen u. heisst Leonberger (nach der Stadt Leonberg). Mein 2. Bobby starb vor 2 Jahren u. seither bin ich nicht imstande, einen Nachfolger aufzutreiben. Sie haben ganz recht, wenn Sie eine Ähnlichkeit mit einem Neufundländer feststellten, denn der Leonberger ist eine Kreuzung von Neufundl. u. Pyrenäenhund. Seine Farbe ist braun (Löwenfarbe). K.K. liebte auch sehr meinen Neufundländer (Rover), den ich nach dem 1. Bobby hatte. Der 2. Bobby war ein Baby, als K.K. starb. Ich habe schon alle grossen langhaarigen Hunderassen besessen, aber keine gleicht an Charakternoblesse u. Menschlichkeit den genannten 2 Rassen. Sie sind unvergleichlich. Einen Neufundländer (ebenfalls sehr schwer zu finden) hoffe ich endlich im Frühjahr aus d. Schweiz zu bekommen, aber es ist noch unsicher. In England soll überhaupt kein Neufundl. zu bekommen sein. Ob in Amerika? Gute Nacht. Meine Einsamkeit - ich erinnere mich nicht, sie erwähnt zu haben - soll Sie nicht bedrücken. Auch wenn ich sie nicht leugnen kann. Das Schicksal - oder eine höhere Gewalt - wollte es, dass jedes Wesen, das mir theuer war, ob Mensch oder Hund, vorzeitig vom Tod mir entrissen wurde. Nichts und niemand ist geblieben. Nur die Sehnsucht. Ich glaube, die französ. Form der Adresse ist richtig u. kann keinen Anstoss erregen. Ich denke nie über solche Dinge nach. 392 Vrchotovy Janovice, 3 1 . Dezember 1947 Sehr verehrter Herr Professor, Nun, nachdem ich Licht in das Dunkel gebracht habe, und das Dunkel noch dunkler geworden ist, nun, da Ihr Urteil mein Todesurteil auszusprechen berechtigt wäre, bin ich mir bewusst, dass Sie mich nicht mehr "lieb haben" werden. (Eines aber möchte ich von mir sagen - seinetwegen: Ich war immer unbedingt wahr. Wahr wie die Natur. Darin hatte sich der Wahrheits-Fanatiker nie getäuscht.) Aber die Aufzeichnungen sollen Ihnen ihn, sein edles Herz und die Grösse seiner Persönlichkeit u. seines Charakters nahe bringen; ich bleibe dabei Nebensache. Nur da ich die Adresse war u. der einzige Mensch, dem er sein Herz u. alles Denken rückhaltslos aufschloss, bin ich das einzige heute noch lebende Wesen, das Ihnen Auskunft geben kann über sein Privatmenschentum. Und dieses und sein Künstlertum waren eine unteilbare Einheit und jenes nicht minder gross, nicht minder einzig. Oft sprachen wir darüber, dass wenn der Mensch lügt, lügt auch der Dichter. Wir hatten uns überzeugt, welch Lügner Werfel war; von diesem Augenblick war er für K.K. als Dichter abgetan. Er lehnte solche Widersprüche, vor Allem im Höchsten, in geistiger Sphäre, kompromislos ab. Ich erinnere mich, dass Rilke, mit dem ich befreundet war, mir einmal ein längeres MS. sandte mit dem Ersuchen, K.K. möge es in der Fackel abdrucken. Es war eine Verherrlichung Werfeis! In obigem Sinn notierten wir die abschlägige Antwort. Rilke aber bewunderte ruhig weiter! (Ich besitze das MS. Welch ein Fund wäre es für die eifrigen Verleger!) Bezeichnend für den Ästheten ist Folgendes: nachdem er ihn einmal persönlich kennen gelernt hatte, war er von seiner abstossenden Hässlichkeit so beeindruckt, dass er mir erklärte, er könne Werfeis Gedichte nicht mehr laut lesen. Also nicht die Charakterhässlichkeit, sondern die physische (die ja nicht sein Verschulden war) lehnte er ab; nur was das Auge des Ästheten sah, nicht was das innere Ohr des Dichters hätte hören müssen. Sie sehen, auch ich kann "schwatzhaft" sein. Aber man ist es nicht, so lange man sich etwas zu sagen hat. So empfand ich es in Ihren Briefen. Was Ihr mir vollkommen verständliches Zögern während des Lesens des durch all die Jahre gehüteten Heiligtums betrifft, seien Sie bitte überzeugt, dass Ihr schliesslich gewonnenes Gefühl der Mitberechtigung das richtige ist: ich weiss ganz bestimmt, dass er, wie stets in 393 solchen Fällen, es meinem Fühlen überlassen hätte, und stände er neben mir (ach, wenn dies möglich wäre -) und sagte ich ihm mein Vorhaben, er würde antworten: "Thue es ." Hätte ich auch nur den leisesten Zweifel, nichts auf der Welt vermöchte mir das Geheimnis zu entreissen. Aber plötzlich empfand ich, seitdem mir bewusst wurde, wie intensiv Sie sich mit seinen Gedichten befasst hatten, als dürfte ich Ihnen den Einblick in die Fülle u. Tiefe seines Herzens nicht vorenthalten. Ich empfand es fast als Sünde, solch einzigartige Schönheit mit ins Grab zu nehmen, verborgen vor jedes Menschen Auge. Ich begriff, dass Sie der einzige mir bekannte Geist sind, sie aufzunehmen, sie zu verstehen, sie zu vergöttern, sich in sie zu versenken. Wahrscheinlicn hätte ich gezögert, wenn ich Sie persönlich (besser gesagt: Sie mich) kennen würde; it would increase my shyness. Ich glaube erwähnt zu haben, dass ich auf seinen Wunsch die Briefe abschrieb, zwecks eventueller späterer Veröffentlichung. In welcher Form blieb noch zu erwägen. Aber jedenfalls sollte diese grosse Dichtung, dieses wunder- und leider wundenvolle Bekenntnis ebenso wie seine Gedichte der Welt geschenkt werden. Wenn ich also aus allen Kennern und Verstehen! von K.K. Sie ausgesucht habe, so geschah es mit seiner Zustimmung. Und jedes Wort in ihrem Brief bestätigt mir, wie richtig mein Empfinden war, wie recht mein sicheres Gefühl hatte. Ich fühle Ihre Erschütterung und Ihre Ehrfurcht. Vieles, vieles habe ich ausgelassen, vor Allem Sätze, in denen immer und immer wieder das eine Wort vorkommt, das heiligste, alles umfassende. Vielleicht, bis ich mehr Zutrauen bekomme, schreibe ich noch andere Briefstellen heraus, aber vorerst könnte ich es nicht und muss warten, bis mein Gefühl es mir eingibt. (Es war immer stärker als jeder Vorsatz, daher vermeide ich Pläne.) Dies möge Ihnen beweisen, dass ich nicht mehr preisgebe, als ich verantworten kann - ihm gegenüber. Was Sie mir über Wert und Unwert des Objekts schreiben, deckt sich vollkommen mit seinen Äusserungen. Ja, keiner wusste es besser als er. Wozu ich aber bemerken möchte: Wäre das Objekt imstande, seinen Wert "in den Augen des Liebenden zu ermessen oder auch nur zu erfassen", würde es immer ganz auf der Höhe des Wertes bleiben. Und nun, nachdem Sie mich beruhigt haben, dass kein Auge, ausser dem Ihren, so lange Sie leben die Abschriften aus seinen Briefen sehen werden, bitte ich mit denselben u. mit meinen Briefen wie folgt zu disponieren: sie sollen, bis Sie einmal, nach vielen, vielen Jahren, nicht mehr da sind, ungelesen an mich zurückgesandt werden. (Ebenso disponierte K.K. in seinem 394 Testament über meine Briefe.) Sollte ich Ihnen vorsterben, dann ungelesen an Dr. Jan Turnovsky, Praha XIX., Belcrediho 80. Ich kenne seine Diskretion, seine innere Reinheit, seine Gewissenhaftigkeit u. Correktheit, sein Verständnis, und seine Verehrung für K.K., der ihn sehr schätzte. Dr. Turnovsky arbeitete uneigennützig u. aufopfernd für ihn und ich höre, wie K.K. nie anders von ihm sprach als "der rührende Dr. Turnovsky". Er besucht mich öfters und stundenlang sprechen wir von ihm. Trotzdem habe ich ihm nie Briefstellen gezeigt, nie ihm Gedichte erklärt. Aber nach meinem Tod überlasse ich am liebsten ihm die Briefe; er erscheint mir geeigneter als Dr. Samek, mit dem er sich j a dann immer - u. auch mit Ihnen - ins Einvernehmen setzen kann. Ich vertraue seiner Beurteilung, das Richtige zu treffen. Fremden, lieblosen Augen (Universität, Forschem u.s.w.) sie auszuliefern vermöchte ich nicht. Sind Sie einverstanden? Es würde mich interessieren zu erfahren, ob Sie die 51 Gedichte in ihrem Zusammenhang erkannten; als an dieselbe "Quelle" gerichtet. (Was ich Gegenständliches über andere Gedichte weiss, werde ich das nächste Mal berichten.) Plötzlich, während ich schreibe, ist mir klar geworden, was ich in meinem 1. Brief an Sie undeutlich ausdrückte: die Gedichte in chronologischer Reihenfolge in englischer Sprache herauszugeben; als letztes "Der Gärtnerin". Das "Weltgesindel" wird sich nicht auskennen, aber Sie und ich - und er. Es wäre ein Siegel. (Deutsch geht es vorläufig nicht - zu viel Uneinigkeit und Streit.) Was sagen Sie dazu? Ich glaube, Sie haben bisher 21 übersetzt? Sie wünschen mir - als wüssten Sie, wie ich darum ringe und wie das Wiederlesen der während des Kriegs verborgen gehaltenen Briefe mich neuerlich aufgewühlt hat "Frieden des Herzens und der Seele." Ich glaube, ich werde ihn nie finden. Gleichzeitig mit Ihrem Brief kam ein Schreiben einer Dame, die mich unlängst besucht hatte, mit den Worten: "In Ihren Augen ist oft ein so trauriger Ausdruck, selbst wenn Sie lächeln; diesmal wieder. Und Sie sahen müde aus, wie nach durchwachten Nächten". Und wünscht ihnen Frische im kommenden Jahr. K.K. schätzte sie. Der Tag verging mit Gesprächen über ihn. Aber dies grenzt wieder an das Geschwätzigwerden, was wir Beide nicht lieben. Und überhaupt, der Hahn hat schon gekräht u. die Morgenstunde will ich Ihnen nicht verraten. Also schnell nur dies: Dass Sie während des ganzen kommenden Jahres gesund bleiben müssen u. dass Kranksein in dem alten Jahr zurückzubleiben hat. 395 Und die Bitte: mir wieder gleich den Erhalt dieses Schreibens zu bestätigen - und mir zu verzeihen. Mit freundlichen Grössen Ihre Sidi Nädhernä Die Tatsache, dass es Abschriften seiner 2 letzten Gedichte gibt, irritiert mich. Meines Erinnerns habe ich sie nur Dr. Samek gezeigt, als er mich einmal hier besuchte. Ich gab sie nie aus der Hand u. ich lehnte sein Ersuchen ab, sie abzudrucken. Natürlich betrachte ich Ihre Information als vertraulich, aber es hätte nicht geschehen sollen (ich meine das Weitergeben meiner damaligen Abschrift). Vrchotovy Janovice, 10. Januar 1948 Sehr verehrter Herr Professor, Mit Herzklopfen öffnete ich Ihren Brief. Wegen des ewigen Schuldgefühls. Aber gleich Ihre ersten Worte, "gütig u. gnädig", beruhigten mich, dass auch Sie mir verziehen haben. Dann aber erst entdeckte ich meinen Irrtum: Ihr Brief bezieht sich auf die eingesandten Bilder, die ich längst wieder vergessen hatte. Das Herz klopft also weiter. Die Bilder sollten hauptsächlich die Landschaft u. unseren treuen Freund ("der kleine Opel, der eine grosse Seele hat") zeigen, mich nur nebenbei. Ich werde suchen, ob ich ein altes Bild finde; ich bin nicht eitel u. habe mich nur selten aufnehmen lassen, zuletzt vielleicht vor 30 Jahren. (Dies soll aber nicht besagen, dass ich mich meiner Erscheinung zu schämen brauche. Seinetwegen muss ich schnell diesen eventuel erweckten Schein dementieren. Vielleicht mit Worten aus einem Brief von K.K.: "Soll ich veranlassen, dass Schermann Deine Schrift zu sehen bekommt? Aber er wird eben so wenig wissen als ich. Hier scheitert ein Hellseher. Er würde höchstens feststellen: das ist eine, die sich nicht bemüht hat, schön zu sein, und der es gelungen ist." 396 Die Widmung des VI. Bandes wird Ihnen inzwischen klar geworden sein. Hätten Sie Woodie's Sterbedatum angesehen, besser gesagt, wäre es Ihnen in Erinnerung geblieben, sollte Ihnen ebenso klar geworden sein, dass ich damals weder K.K. noch Woodie kannte. Was mich berührt ist, dass bei so grosser Entfernung wir fast das gleiche Leben führen: Sie verbringen wie ich die Feiertage allein in Ihrem Zimmer. Sowohl die Weihnachts- und Silvesternacht verbrachte ich bis in die Morgenstunden mit seinen Briefen, und als das Neue Jahr sich näherte, sagte ich mir: die Zeile, die ich gerade zu Mittemacht lesen werde, wird bedeutungsvoll sein für das ganze Jahr. Ich konnte dies leicht wagen: denn ich wusste, dass jede Zeile Liebe, Güte u. Schönheit schenkt. Im Dorf hatte gewiss jede Familie ihren Christbaum. Seit dem Tod meines Bruders gibt es weder Weihnachten noch Baum für mich. - Sie haben Gespräche in Sybaris erhalten. Ich auch, nur früher. Ihr Urteil über diese Schrift würde mich interessieren. Ein feines, geistiges Kleinod, das aber wenig gelesen werden wird. Die Autorin ist meine fast einzige Freundin. Sie führt einen schweren Lebenskampf, materiell u. physisch, in einem kleinen Zimmer in London S.W. 6, 14 Barclay Road (Mrs. Peto Lichnowsky). Im Krieg hat sie ihre wertvollsten MSS. verloren, was sie sehr beklagt. - Sie blättern wie ich in den Weihnachtstagen im dicken Band über Kokoschka. Der Vater der Autorin, Camille Hofmann, war jahrelang es. Konsul in Berlin, wo ihn dann die Deutschen umbrachten. K. K. stand mit ihm in Verbindung u. schätzte ihn. Das Buch der Tochter hätte er weniger geschätzt. Ich bin über das Durchblättern (aus Neugierde u. persönl. Interessen) nicht hinausgekommen - es war mir geliehen worden - u. hatte keinen Wunsch, mich durchzuarbeiten durch das Gestrüpp u. es zu lesen. Interessanter ist vielleicht, was K.K. über diesen Maler als Dichter und über andere in dem Buch Erwähnte schreibt. Ich habe es für Sie heute nachts abgeschrieben. Jeder Satz belebt mich. Ich fieng um 8 nach dem Souper zu schreiben an und plötzlich war es 4 Uhr früh. Jetzt ist es Mittemacht, ich muss heute bald schlafen gehen. Also: Gute Nacht! Mit freundlichem Gruss SidiNädhernä 397 Sehr verehrter Herr Professor, Hier sende ich die Fortsetzung über seine Werke. Dank für das gefühlte Gedicht von Fr.P. Die Erwähnung der Hunde macht mich stutzig, als wäre auch ihm "Immergrün" bekannt. Danke auch für die umgehende Empfangsbestätigung. "Gerade jetzt!"? "Ja wieso denn?"? Haben Sie eigentlich den Wiener Aufruf zur Gründung einer K.K. Gesellschaft genauer gelesen? Mir wurde sie natürlich nicht zugeschickt, ich habe sie aber "schwarz" gesehen u. konnte meinen Augen nicht trauen über solche "Probe absolut geistiger Zielsetznng". Welche Schmach sind Deutsch u. Stil für einen Liegler, der ihn kannte u. sein Werk genauest. Wollte er beweisen, dass auch die Sprache tot sei?! K.K. wusste warum er vor Jahren den Verkehr mit ihm abbrach. Man fasst es nicht, dass Solches möglich sei! Ich höre K.K. den Aufruf vorlesen u. das nicht enden wollende Lachen im Saal! Alles darin ist abstossend, nicht nur Worte u. die Öde der Sätze, aber auch Richtung, [Vorhaben], Gedankengang. Übrigens ist einer der Unterzeichneten (Matejka), nach seinen Briefen zu urteilen, ein ausgesprochener Österreich. Trottel. Nicht einmal sachlich genau: Es wird verschwiegen, dass K.K. die Ausgewählten Gedichte schon herausgegeben hat. Nach "beispielgebender Kraft" (kann sie das sein?), "beispielloser Abfall", "beispiellose Auseinandersetzung", "beispielhaft demonstrieren" hören Sie weiter (aber nicht lachen, weil es zum Weinen ist): Teilhabe am öffentlichen Gewissen greifbare K. Schriften das im Privatbesitz lässt sich nicht lenken das Leben in Ungebrochenheit zu sehen Bindung an eine Lebenshaltung! demonstriert, zwar gar nicht in erster Linie vom Gesichtstspunkt her wahrzeichenhaß aufbewahren soviel an Glaube herausholen als nur geht Gewichtiges, wovon einem manchmal die Augen voll Tränen ein richtig gefasster Kulturbegriff nur denkbar in Hinsicht auf eine kulturschaffende- und tragende Gemeinschaft!! 398 Redaktionsstab (das ihm!) Personalunion! Anregungen über Plane möglichst glatt erwogen die physische Hinterlassenschaft solidest gearbeitete Biographie Mitgliedschaft bei der Gesellschaft Mitglieder sind gebeten Vermehrung des Wissens über K. K. dienlich ist mit Rührung erinnert, irgendeinen gekannt zu haben in den Bann getreten zu sein Ausmass der Verpflichtung zu klären u. nach Maximen zu handeln Bekenntnis zur Idee Europa vereinbar (nur China!) geistig allverbrüdertes Österreich!! soll uns in uns selbst sichern u.s.w., u.s.w, Sie fühlen doch, verstehen doch die Unmöglichkeit? Gute Nacht. S. Vrchotovy Janovice, 14. Januar 1948 Vrchotovy Janovice, 26. Januar 1948 Mein lieber Freund - (ich darf Sie doch so nennen?) Selten hat mich etwas mehr erschüttert, als Ihr Einfühlen in Karl Kraus; nein, nicht Einfühlen, nicht Kenntnis, sondern mehr: sein, er zu sein. Sie erwähnten in einem früheren Brief von einer Ihnen bewussten Ähnlichkeit: jener der Denk- Gefühls- und 399 Betrachtungsweise. Statt Ähnlichkeit würde ich Gleichheit sagen. Sie müssen sich gar nicht bemühen, ihm geistig und sittlich zu gleichen: Sie sind - seit jeher- von der Schöpfurg so gewollt und wäre er nie gewesen, er. Im tiefsten Fühlen und Erkennen, in der Art Ihrer Geistigkeit und Auffassung, Ihres Ernstes, Ihrer Liebe, Ihres Absehens, Ihrer Güte, Ihrer Kritik, Ihrer Wahrhaftigkeit, Ihrer Sicherheit u. Kompromislosigkeit, wo es um die höchsten gottgewollten, unwandelbaren Dinge geht. Das fühle ich aus jedem Ihrer Worte. Klar wurde es mir zum Bewusstsein gebracht in Ihrer Stellungnahme zu dem "Verzeihen". Denn nicht anders war es. "Er hat mir verziehen", war irreführend, Sie mussten glauben, es geschah in Worten. Es geschah in wieder erwachtem Glück, in selbstverständlicher Fortsetzung des gewohnten Einverständnisses, im unbedenklichen Anknüpfen an frühere Erlebnisse. Die 4 verwaisten Jahre waren wie ausgelöscht. Denke ich zurück an unser erstes Beisammensein nach langer Trennung: weder damals noch nachher, auch schriftlich nie, war von Verzeihen die Rede. Selbst unser Vorhaben, einander alles aufzuklären, wurde, als wir uns wieder in die Augen sahen, plötzlich nebensächlich. Es war so natürlich, dass wir einander wieder gehörten. Nie bat ich um Verzeihung, nie sprach er sie aus. Es war nicht nöthig. Er nahm mich zu sich auf. Da ich wiedergekommen war, gab es auch nichts zu fragen. Er wusste, wie mein Herz litt, dem seinen wehe getan zu haben, es musste nicht ausgesprochen werden. Ein anderes Schuldbewusstsein meinerseits oder Vorwurf seinerseits gab es nicht, konnte es nicht zwischen mir und ihm geben. Wenn die Wiedervereinigung keine Lyrik bezeugt (ausser die 2 letzten Gedichte), nur Briefstellen wie die schon citierte: "Innigstes Gedenken an jene und jede Zeit, in der Du warst und bist", so lag dies an den unglücklichen Zeiten, die ihn lähmten. Schon während unserer Trennung hatte er sich in Vorlesungen geflüchtet, die ihn belebten. Sie waren ein Ersatz für den Schreibtisch. In der letzten Zeit, als er öfters Schmerzen hatte (im Kopf, im Bein, in der Hüfte, bei dem Herzen), sagte er mir oft, dass am Podium jeder Schmerz aussetze. "Nur auf dem Podium ist das Leben schön". Teile seines letzten, noch ungedruckten, Werkes diktierte er mir in Janovice in die Maschine oder gab sie mir zum Abschreiben. Für die Sprachlehre bereitete ich alle Hefte vor, die dieses Thema behandelten. Diese immer ersehnte Zusammenarbeit in Janovice - nun, da ich seit dem Tod meines Bruders meine ganze Zeit ihm widmen konnte - machte ihn glücklich. Das zuletzt geplante Diktat, nicht ganz vier Wochen vor dem Ende, blieb unausgeführt. 400 Um aber zurückzukehren zur Verzeihung: Wenn ich Sie darum bat, so geschah dies aus dem Gefühl, dass man leichter einen Schmerz entschuldigt, der einem selbst widerfahrt, als einen einem geliebten Menschen angetanen. Aber Sie sind gross und stark wie er, Sie kennen Liebe, Einsicht und Natur. Wären Sie kleiner, könnten Sie mir sagen - und ich müsste es schweigend hinnehmen - kennen Sie den hilfesuchenden, flehenden Bl ick des leidenden, vertrauenden, schweigenden Hundes? -: Sie mussten jedes Opfer bringen, ihm sein Glück und seine Illusion zu erhalten. Sie durften es nicht wagen, dass aus der Wunderwiege seiner Lyrik ihr Grab werde. Sie wussten, dass sein Leben und sein Werk Ihnen geweiht waren u. Sie sind "grenzenlos im UngefühP' über sein Herz geschritten". Ich verstehe so gut, kann es nachfühlen, wie Sie nach meinem Brief beinahe sich fürchteten, die Briefstellen zu lesen. Gottlob, dass Sie aufatmen! Wissen Sie, dass mir bange war nach einem Schreiben von Ihnen? Es verging mir der Wunsch weiter abzuschreiben, so ins Leere. Es fehlte mir die Adresse. Vielleicht ist das Frauenart. Und ich merkte, wie dankbar ich Ihnen bin, eine Adresse, und diese Adresse gefunden, beinahe entdeckt zu haben. Jetzt erwarte ich Ihre Notizen - welch guter Gedanke! So wird alles verwoben sein: er und Sie und ich. Ich weiss, ich werde sie lieben. Und alles, was Sie mir sagen u. Sie mir aufschliesst, gibt mir den Mut und das Vertrauen, nun auch daran zu gehen, die persönlichsten Briefe abzuschreiben. Ich werde nicht mehr Sätze mit dem heiligen Wort "Liebe" auslassen (nur Intimstes u., ohne Kenntnis des Zusammenhangs, Unverständliches). Ich versuche zu erforschen und mir zu erklären, was mich bisher hemmte, jene tiefsten und herrlichsten Gefühle preiszugeben, und j e tiefer, desto grösser die Hemmung. Ich glaube aus dem Gefühl der Unmündigkeit - bitte nicht böse sein - u. der Unverdientheit, der Anmassung u. dem Schein der Überheblichkeit, des Einheimsenwollens von Ehre und Rechten, des Protzens - kurz Dinge, die ich verabscheue, gepaart mit angeborener Zurückhaltung (nicht im Fühlen, nicht in Leidenschaft, aber in Worten), die vor Allem ein Heiligtum - welches Liebe und Geschlecht immer für mich war - nicht betastet wissen will. Selbst den mir Nächsten hätte ich nie ein Wort über diese überirdische Sphäre fallen lassen. So kommt es, dass in diesen 34 Jahren, seit ich ihn kenne, nie eine Andeutung, was wir uns waren, Anderen gegenüber über meine Lippen kam. Die Grenzen der sichtbaren tiefsten Freundschaft blieben Geheimnis. (Mit Staunen merke ich oft, wie anders die Welt 401 heute zu solchen Dingen sich verhält, wie viel ärmer.) Ich blieb auch stets fern seinen Kreisen, nie sah mich ein Künstlerzimmer, nie ein Kaffeehaus. Und auch er war einverstanden, sein Kleinod - Einodis - zu verbergen und von seiner Umwelt getrennt zu halten. Ebenso fern hielt ich mich, als ich nach seinem Erlöschen mit Schaudern erfuhr, er werde "aufgebahrt" mit all den üblichen Konventionen u. dass die Wehrlosigkeit des Toten missbraucht werde, in sein Privatleben einzudringen: der geliebte Kopf zur Schau gestellt. Und die Totenmaske - the child-smile - im Auslagfenster eines Buchgeschäftes, begafft von Solchen, die er hasste, war eine Qual. "Before his death mask". Ich kann Ihnen in Worten nicht sagen, wie dieses Gedicht mich erschüttert - wie wundervoll es ist. Zeile für Zeile. Und wie er lebt in jeder "Light inconceivable". Und wie er nicht, nie mehr ist. Truth unbelievable. Es ist ein Wunderwerk. Wort für Wort. Nur knieend zu lesen wie es entstand. Wenn ich mich mehr als sonst nach ihm sehne, lese ich es, und nie ohne Thränen, Sie werden sie auch auf diesem Papier entdecken. Ich sehe kaum zum Schreiben. Ich weine sonst nie. Ich bin dankbar, wenn ich weinen kann. Zu viel ist in mir verschlossen. Es gibt Tage u. jetzt wieder, in dieser langen dunklen Nacht - Must me alone grieve through the night till morning? -, dass ich meine Vereinsamung kaum ertrage. Im Haus nur bezahlte Menschen u. ausserhalb der Parkmauern eine fremde, grabbling Welt, die ich verachte. Sie alle reden eine mir nie geläufige Sprache. Und niemand, nirgends, auf der weiten Welt. Keine Zuflucht. Sie werden lachen: als ich heute zu Tisch gerufen wurde, nahm ich mir ins Speisezimmer Ihren Brief mit u. legte ihn vor mir: nur um die Schriftzüge eines warmen Herzens u. einer geistesverwandten Seele in meiner Nähe zu haben. So arm bin ich geworden. - Aber ich bin weit abgeint von dem Thema "Cordelia schweigt" (wie es oft in seinen Briefen heisst, oder "Meine Cordelia"). Es ist höchste Zeit, dass ich es verlasse. Ich rede so lange nur über mich selber. Aber Sie wollen j a so viel als möglich über die Menschen seines Umgangs hören. Über die seiner Bekanntschaft muss ich einen Irrtum aufklären. Er kannte Rilke nur sehr wenig. Und zwar durch mich. Ich wollte, dass er mithelfe, R. unterzubringen, damit er nicht an die Front müsse, was auch gelang. Zu Rilke's Ehre muss ich sagen, dass er im Kriegspressequartier jedwede Helden- oder Heldentaten-Beschreibung ablehnte u. dort nur gewöhnliche Schreiberarbeiten ausführte. "Rainer" und "Maria" nannte er ihn nur in Briefen an mich, da ich auf dem "Rainer" Fuss mit ihm war. Ich kannte ihn seit [1908] von Mendon 402 her, wo er bei Rodin eine Art Sekretär war u. wo seine Frau, Rodins Schülerin, unter Rodins Aufsicht eine Büste von mir machte.* Werfel: Nach dem 2. Brief vom 1. Juni fehlt die Jahreszahl 1916, d.h. sie gilt für alle. Seine besten Gedichte waren aus der Tasche seines Nachbarn im Schützengraben, des Dichters Franz Janovitz, gestohlen. Das weiss ich vertraulich. Kokoschka: er hatte nie etwas für ihn übrig ("er lallt wie ein Bauernjunge") u. Hess sich nur aus Gutmütigkeit, auf Drängen des Kok. Propagandisten Loos, porträtieren. Für das Bild hatte er gar kein Interesse u. sagte der H. Kann, wenn sie Geld brauche, solle sie es ruhig verkaufen, es liege ihm nichts daran. Ich staunte oft über seine gute Menschenkenntnis. Wir waren öfters uneinig, immer behielt er recht. Nur hatte er eine gewisse Nachsicht für die Fehler von manchen Menschen, die ihm sonst wertvoll erschienen. Z.B. verteidigte er immer, trotz anerkannter grober Fehler, H. Fischer: "eine Durchlässigkeit (durch Wertvolles), - bedingt durch Existenzfragen." Er irrte, als er ihn als einen der Herausgeber in seinem Testament einsetzte, er nahm diese Durchlässigekeit zu wenig ernst. Aber er hatte in seinem Umkreis eine sehr kleine Wahl. Er sah nicht voraus, dass ihm Geld wichtiger sein werde als die Obhut des Wortes u. das[s] sein Wertvolles stecken bleiben werde in leeren Phrasen. Mechtild L. schreibt (gestern) über Sybaris: So far Sybaris has not been accepted by a London or New York publisher, although the translation is all right. They are scared about the "greek setting"(!) & seem unable to see how modern it is!" Ein sehr interessantes, belebendes Buch, das sie jetzt vollendet hat (ich kenne teilweise das MS), wird im Gallus Verlag ("the owner is not at all what I should want my publisher to be. She is a "hochbusiger Geschäftsmann" with no understanding whatever about art & artist") erscheinen. Sie zeichnet mir neben dem Citierten eine köstliche Skizze dieser Geschäftsfrau auf. Es heisst: Worte über Wörter. (Eine Art "Sprachlehre".) Was mit meinen Abschriften geschehen soll, wenn Sie uns Beide überleben? Dann verfügen Sie nach eigenem Gutdünken. Ja: Belcrediho trida 80. - Ich sende heute weitere 12 Blätter, vorläufig die letzten über Menschen u. Arbeiten. Denn über solche sprachen wir oft stundenlang, u. seine Briefe waren natürlich in der Hauptsache über uns selbst. - Ich sende 403 auch Bilder von mir aus jener Zeit, als Dank fur To a lineament. Aber nur zum Ansehen. Ich muss sie zurück erbitten, es sind meine einzigen. Gute Nacht. Dieser Brief ist länger als der Ihrige! *K.K. hatte eine geringe Meinung von Rilke, half ihm aber im Geheimen financiel, als für ihn gesammelt wurde. Übrigens, in "Selected letters of RM. Rilke, London, Macmillan 1946" können Sie falls es Sie interessiert, auf S. 167/168 über mich lesen. Auch auf S. 258 u. S. 282 wird meine Wenigkeit erwähnt. Die 6 Bilder sende ich separat als Drucksache (rek.) u. nicht Air mail. Dear professor, Why naturally, always write to me in English, whenever you care to. And dont mind corrections & crossings-out, I'm accustomed to them from K.K.'s letters - & my own! Likewise to any srcribble. I can always decipher it. As to English, why it was my first language. I was brought up by an irish governess & I never spoke but English with my brothers till to their death. It is the language of my heart. I always stumble a bit over German & strangely enough, I'm generally taken for British by appearance, although I've not got a drop of British blood in my veins. I generally only read english books (at present: Bruce Lockhart, Comes the reckoning). Alas, I rarely hear english spoken now, except at the wireless. Not knowing english so well, how could I love & appreciate your poems as I do? The other day my glance fell on following passages in 2 letters: "27. 5. 16. ". . . über mir ist." (Mir, bitte: nicht "mich"!) Dies der einzige Fehler! "Oder müsste ich dann überhaupt alles durchstreichen?" Ganz gewiss nicht, um Gottes Willen! Und selbst das mich" will ich erhalten wissen und keine Bremse gegen solche Vorkomnisse anwenden." 404 "29.5.16." Ich dachte mir gleich, dass etwas nicht ganz richtig war mit dem mich nach über; ich sagte mir beides laut vor und entschied mich für das Falsche." Die Szene vergesse ich nicht, wiewohl ich nicht dabei war. In solchem Augenblick einmal ins Zimmer zu treten - ! Aber was macht das! Wie gern läse ich immer Fehler von dieser Hand!" My mistakes in German always amused him & I have copied it for you to amuse you too should you still be ailing. But I do fervently hope that you are well again. Your next letter must tell me so. No, you did'nt mention Matejka, Liegler etc. in a previous letter. Dont worry about my late hours of going to bed, for I'm a sound sleeper & now in the winter I sleep long into the morning. If it happens, that I several nights in succession only sleep 3 hours, I then make up & sleep 8-10 hours through. As passtime during yr. rest in bed I enclose 8 pictures of Rover & Bobby. Just look at the bewitching expression in their faces! I have got several better ones, but they are fixed in frames. Again I must request you to return them, as they are my only ones & I have not got the negatives. I hope you dont mind the trouble. I shall close now, after having been purposely "chatty" tonight, immagining if your "head is not up to much excertion", you might prefer "leichte Musik". Goodnight! 30. Januar 1948 My dear friend, I had just posted my letter today, when yours came. I must return your compliment: you write such excellent German, that I fancied it to be your native language. I really have no native language. English in the nursery, German at home with a teacher, the language of my country never properly. A real "Austrian" bringing up. I do not know, how far there is truth in your fears, but what you propose is the longing of many since the end of the war; a longing, which cannot be realized except as a beggar. Alas, I cannot write, as I should like to. (And alas, humbling as I feel it to be, I must ask you to be 405 careful in what you write.) In fact, this freedom, once so natural, is denied to us ever since the beastly Germans occupied our country. Our dreams of its renewal here after have remained - dreams. In words I cannot express the extense of my suffering, that all expectations should have been so bitterly overthrown, This is the reason why, as you will have seen in my long letter, I sometimes am on the verge of a breakdown, in a solitude, which becomes unbearable in midst of hostile surroundings. ("Von welch einer Menschheit ist Dein Heiligtum umgeben!" This was in 1932. What would he say today!!) Just in these days the law has been pronounced, that we are to loose all our estates-grounds which have been for centuries in the families - & already one is proceeding to divide them. At the most 50 ha are left to each individual, which naturally means half starving for such who, as myself, have no other income. But this troubles me the least. I was bom here & spent all my life here. My roots are in the fields, the meadows, the hills, the forests. He once wrote: ". . . aber Janowitz ist ewig." Am I to witness the ruin of castle & park, after having dedicated many years of my life to its beauty? (Its upkeep will be out of the question) After the death of parents & brothers I remained here alone. When my twin-brother died & left me heart­ broken, he wrote to me: "Du hast das Verlassene zu betreuen. Wir wollen zusammen diesem Wichtigsten uns erhalten". And then he was taken from me - 1 clung to this my tiny dominian within the parkwalls, which was all that had remained to me. I have noone in the wide, wide world - not even a dog. No shelter anywhere. Am I to go among strangers (formerly - with the knowledge of a Janovitz to return to - delightful) & forsake my only friends here: each stone, each tree, each grass blade, each flower in the meadows, the little birds & butterflies, with all of which I kept sweet communion throughout my life. We were a harmonious unity, cast of one mould, grown together. There is scarcely a letter of his in which the natural inseparableness of this place & myself is not expressed - and his deep love for it. This new law, unexpected in its haste, will create a great change in my life. I wish that it had come to a close before this last stroke, and that it would have been permitted to me to follow him sooner. But it was not to be. I have a respite till the 1. of Oct. Do not worry about me. There is no help. Except the one I grasp at, encouraged by your anxious letter: to be able to speak of the pent-up sorrow to a heart, to you - in his stead. Millions have suffered the same pain during the war - but was it for this continuation that "peace" was established? Worse, 406 far worse than the fact is the way, how culture is kicked out. It leaves me sick to the roots of my being. While writing this I cannot help remembering the dark hour when he, in a climax of desperation, one or two years before death called him away, desired to seek it together with me by free choice. He could no more endure what happened under Hitler, he foresaw no future & doubted the sense of his past work, he could not bear to condemn himself to silence, he saw destruction everywhere and Untergang. - 1 have never mentioned this to anyone, nor would I except to you, because you will understand even this. As your letter today is half in German & half in English, it gives me the hope that you are feeling better than when it was all in English. But in future neither of the languages may be a scale for good or bad health, but both must always mean perfect health! Felice notte! I suppose that at sight of my daily letters to you, servants & post office shall immagine, that I have fallen desperately in love! 29./30. Januar 1948 I have made a pause now in copying letters, as there are so many troubles to cope with. M y various faithfiill employees, who have been with me since many years, do not want to leave me. They declare, that they'll stay on, even if I should never give them a penny. I must say, that their attachment is touching. 407 576. Februar 1948 My dear friend, Um Ihr "trottelhaftes Gedächtnis" zu beruhigen, teile ich mit, dass Sie gleich, schon am 20. 1., meine Sendung vom 14. 1. bestätigt hatten. Bald werden wir Beide nicht mehr wissen, was wir uns eigentlich schon geschrieben haben und was nicht, weil man sich in Gedanken oft etwas sagt oder erzählt, und sich dann nicht erinnert, ob es zu Papier gebracht wurde. Dies kommt daher, dass unser weder komerziel noch advokatorisch noch sonst irgendwie pracktisch reagierendes Gehirn eine Aversion gegen typewriting hat (ich nehme dies auch bei Ihnen als Gottlob wahrscheinlich an), also fehlen uns Abschriften. Aber besser, man wiederholt sich, als sich hinter Maschinenschrift zu verbergen. Bei persönlicher Schrift, auch wenn man sich nicht kennt, sieht man sich in die Augen. Dass wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach nie kennen lernen werden (ich Sie besser, da ich nur Briefe schreibe, Sie aber sich ausserdem in Gedichten offenbaren), ist gleichgiltig, vielleicht gut. Abgesehen von dem Wagnis gegenseitiger Enttäuschung, bleiben wir einander unberührt vom Staub des Alltagslebens, fast unwirkliche geistige Wesen. Es fehlt der Gegenbeweis, aus welcher Region wir zu einander reden - ob nicht aus dem Himmel! Auch dann, wenn ich Ihnen Bilder sandte. Denn sie waren nicht gedacht als mein Ich Ihnen gegenüber, sondern als sein Ich ( u n d seine Hunde). Heute sende ich wieder eines, und wenn ich es betrachte, weiss ich, dass ich schon im Himmel war. Es stammt aus der glücklichsten Zeit: unser erster schweizer Sommer im neu erworbenen Wagen u. ist die einzige Aufnahme, auf der wir allein sind. Auch diese ist nicht scharf, da es Kopien nach den Bildern u. nicht nach den (verlorenen) Platten sind. Darf ich Dr. Samek fragen, auf welche Weise die 2 Gedichte, die ich nie aus der Hand gab, in den Nachlass kamen, um als Gabe von H. Kann weitergereicht zu werden? Unerhört finde icn es, dass H. Fischer vollkommen unberechtigt auf eigene Hand Theatern Aufführungs- Bewilligungen erteilt, (um Geld einzuheimsen). Umsomehr, da er über die Unzulässigkeit genau unterrichtet ist. Weiss Gott, was er jetzt wieder in Wien (als Sport-Reporter! nach St.Moritz gesandt) bei der Matejka-Clique anstellen wird. Was würde Karl Kraus zu den Verbrechern Kann und Fischer an seinem letzten Willen - und wäre er auch ungeschrieben 408 geblieben - sagen! Immer von Neuem empört mich dieser Verrat, dieses Ausnützen seines ewigen Schweigens. Dieses erbärmliche Umlügen und Verzerren. Gewiss ist Dr. Samek ein treuer Wächter, aber auch er wird manchmal wankend (wegen der grossen Verantwortung). Gelänge es doch, dass die Gesamtausgabe in Amerika zustande käme, es scheint mir das einzige mögliche Land. In Europa ist ein zu grosses Chaos. Die Antwort auf Dr. Sameks Gewissenserforschung ist doch so klar: Wie hätte Karl Kraus entschieden? Wer kann zweifeln, dass er die Gesamtausgabe niemals einem Matejka überlassen hätte, niemals einem von politischen Einflüssen abhängigen Konsortium, niemals einem der zuerst Christl.Soz. war u. dann Korn, wurde (ich kenne diese Sorte Menschen auch hier allzu gut), niemals solchen, die seine Verehrung für Dollfuss unterschlagen würden, ebenso seine Verachtung der Soz.Dem., niemals einem, der, wie ich jetzt durch Sie erfahre, ein Werfel-Verherrlicher ist, also auf keinen Fall ein Karl Kraus-Kenner. Vom Verstehen will ich gar nicht reden. Niemals einem, der einen solchen Aufruf erlässt. Wie kämpfte er in den Zeiten der Kriegs- Zensur für jedes Wort. Es gab sichtbare weisse Seiten. Hier aber waren die weissen Seiten unsichtbar. Tausendmal besser, geht es nicht anders, dass nichts erscheint, als ein "Redaktionsstab" "übler Spekulation." Jetzt werde ich Ihnen beweisen, dass ich Sie nicht Verschätze, sondern gerecht schätze; denn ich bin mit Einigem in Ihrem vorletzten Brief vom 28. 1. nicht einverstanden: 1.) Sie sagen, Sie wären nicht berufen, die "groben Stilfehler" ("solidest" ist kein Stilfehler, aber in geistiger Sphäre unmöglich mit Karl Kraus zu verbinden. Wer wüsste das besser als Sie?) zu verdammen, weil Ihr eigener deutscher Stil unsicher sei. Diese Argumentierung erscheint mir falsch. Gewohnt, Karl Kraus zu lesen, muss doch Ihr Blick im Beurteilen eines schlechten oder guten Stils ganz klar sein u. noch mehr Ihr inneres Hören sicher. Über meinen Stil denke ich gar nicht nach (ich schreibe ja keine Aufrufe - und gar für Karl Kraus!), ich weiss aber ganz bestimmt, dass wenn er diesen Aufruf vorgelesen hätte, der ganze Saal in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre. 2.) Ein Liegler durfte nie unter einen solchen Wisch seine Unterschrift setzen. Er, der Karl Kraus persönlich kannte! Krankheit entschuldigt hier nicht. - Wissen Sie, warum Karl Kraus mit ihm- schon vor Jahren - den Verkehr abbrach? Weil Liegler eine miserable Nestroy- Ausgabe verschuldete, in einem falschen, unangebrachten Wiener Dialekt. Solche Sünden 409 vertrug Karl Kraus nicht. Mein fragendes Umstellen Ihrer Sätze "Gerade jetzt! Ja wieso denn?" (Sie hatten geschrieben: "Ja wieso denn? Jetzt doch erst recht - gerade jetzt!") war von einem Lächeln begleitet, denn ich wusste schon Ihre Antwort. Wenn Sie mich persönlich kennen würden, hätten Sie gleich dieses Lächeln, auch in der Entfernung, gesehen. Sie dürfen mich nicht so ernst nehmen, d.h. Sie müssen wissen, wann ich lächle. Sie finden es unerträglich sich überschätzt zu fühlen? Was soll ich sagen, die immer wieder diese Erfahrung macht? Von untergeordneten Gehirnen ist es ganz gleich, aber es beunruhigt mich, wenn ich zu meinem Staunen entdecke, dass höher geartete Menschen mehr in mich hineinlegen als in mir, bei strenger und gerechter Prüfung, ist. Es fallt mir nicht ein, mich zu unterschätzen, aber ich frage mich dann, ob nicht die Schuld an mir liegt, dass ich einen falschen Schein erwecke, was gerade so arg wie falsche Bescheidenheit wäre. Ich glaube, wenn Sie mich persönlich kennten, Sie würden auch hereinfallen, wenn ich auch niemals Fallen lege. (Jetzt lächle ich.) Dass im Gespräch Ihre Gedanken nicht ohne Weiteres Sprache werden wollen, darin sind Sie mir ähnlich. Aber darauf kommt es doch gar nicht an, wenn ich erkenne, dass Sie ihm bei aller Verschiedenheit gleichen; das wissen Sie selbst. Wenn Sie aber durchaus viele Stufen heruntersteigen wollen, so würde ich sagen, dass Sie mein Minus u. sein Plus besitzen, dass Sie aus ihm und mir zusammengesetzt sind. Wie würden wir uns sonst so gut verstehen? 2 1/2 Uhr. Gute Nacht Ich hoffe, dass Sie nicht enttäuscht sind, dass ich keine Abschriften beilege, ich habe aber erst gestern wieder angefangen. Es ist auch beseer, Sie nicht in Ihren Aufzeichnungen, die ich für sehr wichtig halte, zu stören. Ich sehe ihnen entgegen, aber Sie dürfen sich nicht beeilen noch überanstrengen. Lieber warte ich; sie werden dann umso schöner sein. Englisch oder deutsch? Once more: Good night. Den beigelegten Zeitungsausschnitt, wenige Wochen nach unserer ersten Begegnung, erbitte ich retour. Das Bild aber bitte zu behalten. 410 Vrchotovy Janovice, 10./11. Februar 1948 Mein lieber Freund, Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, um Ihre kostbare Zeit nicht allzusehr in Anspruch zu nehmen, Ihnen erst zu schreiben, bis ich Briefabschriften mitsenden könnte. Denn sicher sind Sie enttäuscht, wenn immer wieder nur so ein leerer Brief über mich kommt, statt über Jenen, der uns verbindet. Aber ich kann nicht warten, denn Ihr gestern erhaltener Brief mit den Aufzeichnungen muss gleich beantwortet werden: weil Sie schnell wissen müssen, wie dankbar ich Ihnen bin für solch weihevolle Ablenkung von den quälenden Sorgen des Alltags; weil Sie überzeugt sein müssen, dass die Stunden, in denen ich mich mit Ihren Briefen und Aufzeichnungen befasse, eine Erlösung sind. Ich sehne die Nächte herbei, um ungestört u. concentriert mich diesem so viel wichtigere[m], so viel erträgnisreichere[m] Besitz widmen zu können: seinen Briefen und Ihren Worten, Gedanken, Gefühlen u. Anregungen. Wie sollte mir dieses Eingehen in die Ihnen nun aufgeschlossenen Gedichte, dieses neue uns verbindende Verständnis nicht teuer sein! Vergessen Sie nicht, dass es das erste Mal ist, dass ich einen Menschen gefunden habe, mit dem ich mich - nunmehr entschleiert - in sie vertiefen kann, der sie jetzt kennt u. versteht wie ich, der aber sie auch vorher liebte, als sie ihm teilweise noch dunkel waren; nie in ihrer reinen, dichterischen Schöhheit u. heiliger Glut, aber in ihrem Sinn des "lebendig Gegenwärtigen". Also bitte zögern Sie nie wieder! Ich bedaure nur eines: die Mühe und Anstrengung, die Sie mit dem Schreiben haben. Aber wenn Sie danken wollen, so könnten Sie mir keinen schöneren, beglückenderen Dank geben. Sie retten mich aus meiner Einsamkeit. Würde ich sonst nächtelang aufbleiben, wie ich es auch heute vorhabe, wenn es mir nicht Labsal, nicht Bedürfnis wäre? Vielleicht können Sie sich nicht das Doppelleben vorstellen, das ich führe: tagsüber sich befassen mit all den Verpflichtungen eines äusseren Besitzes, aber immer begleitet von einer Stinme, die niemand hört, die niemand ahnt, die mich lockt und ruft zu dem nächtlichen Fest. Und von diesem Fest trenne ich mich so schwer - weil ich den grauen Tag fürchte. Ich will nicht einschlafen, weil ich das Aufwachen furchte. "Lieber den Tod als nicht mehr zu leben". Wie gut Sie mich verstehen. (Aber fürchten Sie nichts! "ich will j a nicht weg, ich bleib doch da!") - Good Lord! I'm so sorry! What a mess Fve made! - - 411 "Anders werde dieser Streit geschlichtet und das Leben nur zum Teil gestorben!" Und jetzt wollen wir gemeinsam - denn die Nacht ist noch nicht weit fortgeschritten - Gedichte, Briefe und Aufzeichnungen besprechen. Es macht nichts, wenn ich von rückwärts anfange? Aber ich kann auch pedantisch sein!: Briefstelle 12. Nov. 15. Nicht ich, sondern er sagt "links vom Schreibtisch"! Und nun zur Aufklärung: Seit damals wurde das Zimmer öfters umgestellt. Damals stand der Schreibtisch vor dem Fenster und links vom Fenster, wo Sie jetzt A.K. [Annie Kalmar] sehen u, darunter eine Radierung von Fei. Rops, waren jene 5 von Ihnen erkannten Bilder, die auf Ihrer Photographie unter der Uhr sind (und die ich aus dem Rahmen nahm, um sie Ihnen zu senden u. die ich wieder hineinkleben muss.[)] Sie werden, als bester Leser, "das selige Lächeln, das von Musik verklärte", erkennen. Die Zeilen in der "Bangen Stunde" über mich "der Einen aber hier auf dem Bilde" in ihrer leidenschaftlichen Inbrunst kann ich nie lesen, ohne dass sich mir mein Herz zusammenkrampft. Ich glaube, es gab noch nie auf der Welt so viel Liebe. Und dann der Kontrast, der Schmerzschrei dessen, der sich ans Kreuz schlagen lässt, um die Welt zu retten, in der einen Zeile "und für mich selbst, o hör den unendlichen Jammer" - jener Himmel und diese Hölle - in den Briefen werden Sie öfters dieses Motiv finden. Aber wohin habe ich mich verirrt? Ich muss zurück zur Fensterwand, weil Ihnen so viel daran liegt:). Rechts von meinen 3 Bildern ist ein kleineres Bild von mir, u. das im ovalen Rahmen unter den Bildern bin auch ich. Früher war alles viel persönlicher, von ihm selbst aufgehängt. Ich hatte separate Ehrenstellen. Da kam Jaray u. in seiner Abwesenheit wurde zu seiner Überraschung - u. er änderte dann nichts mehr, um nicht zu kränken - gründlich geputzt, gemalt, umgestellt, neu aufgehängt, Fensterdichtungen angebracht u.s.w. Neben meinen Bildern sehen Sie auf dem Glaskasten stehen: ein Bild vom Park, eines von ihm, davor das kleine mit seiner Hand auf Bobby's Kopf, dann, abgewendet u. eigentlich unkenntlich, ein Bild von den "Drei" S. [Sidi] D. [Dora] K. [Karl] (es waren ihrer 2, ich habe sie hier), dann das Ihnen zuletzt gesandte Bild vom Auto mit ihm u. mir, dann das Landschaftsbild von Thierfehd. Irgendwo dort war auch das Bild vom alten Diener [Dvorak]. Dann erkenne ich nur noch ein Bild von Girardi auf dem Kasten. Links davon hängt unten das Grillparzer-MS. Darüber hängt glaube ich Nestroy. Und sein hängendes Kinderbild, ebenso wie die 412 Kinderbilder auf dem Regale werden Sie j a erkannt haben. Ich muss gestehen, ich habe auf Ihren Brief hin heute zum 1. Mal die Aufnahmen mit Vergrösserungsglas genauer betrachtet. Ich selbst besitze nur 2 (eines mit links die Bilderwand u. rechts der Schreibtisch, und das Schlafzimmer. [)] Es ist mir immer schmerzlich, die so wohl gekannten (u. in ihnen so viel Erlebtes) Räume verlassen - u. auf mich fremd wirkend - wiederzusehen. Früher war die Büste A. K. [Annie Kalmar] in der Ecke rechts vom Schreibtisch u. der Diwan, wo jetzt die Büste. Auf dem Tischchen unter dem Spiegel lagen kleine Geschenke von mir u. 3 Albums (meine Kinderbilder, Schloss- u. Park-Aufhahmen u. von mir ihm gegebene Burgtheater- Schauspieler). Was auf Ihrer Photographie [ist], weiss ich nicht. Auf meiner Photographie sehe ich auch nicht einen lieben Biedermeierstuhl von mir, in dem er oft sass. Im Schlafzimmer hängt links vom Spiegel jene Aufnahme von mir, die ich Ihnen ebenfalls sandte (aber nicht dasselbe Bild - dieses habe ich hier). Früher hing es allein für sich auf der anderen Seite des Bettes. Oben auf dem Kleiderkasten stehen 2 Bilder der Gfin. Dobrzensky u. irgendwo hieng auch Mecht. Lichn. Das ist alles, was ich Ihnen über die (ziemlich unschöne) Wohnungseinrichtung sagen kann. Abschied u. Wiederkehr. Das Lieglerbuch habe ich seit damals, als es erschien, nie wieder gelesen u. K.K. hatte gar kein Interesse dafür; nie sprach er davon. Ich würde es wieder ansehen, wüsste ich, wo es ist. Die ganze Schloss-Bibliothek - auch alle gebundenen Fackeln - liegt noch immer in Kisten verpackt, seit ich, von den SS. aus dem Schloss verjagt (sie errichteten einen Truppenübungsplatz in der ganzen Gegend, die Bevölkerung wurde evakuiert, die leeren Dörfer wurden dann zerschossen u.s.w.), sie mit dem gesamten Mobiliar in einen Meierhof deponierte, wo ich bis Kriegsende wohnte. Jetzt wohne ich in einem Gebäude im Park neben dem Schloss u. in den wenigen Räumen ist kein Platz für die vielen Bücher. Das Schloss selbst bedarf grösserer Reparatur, ehe es wieder möbliert u. bewohnt werden kann. Aus den 200 Kisten einzelne Bücher herauszusuchen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, obzwar ich schon damit angefangen habe u. es nach u. nach fortsetzen werde, Die liebsten - die Gedichtbände - u. sonst verschiedene habe ich natürlich bei mir, auch Ihren früheren Gedichtband. Haecker - ich glaube K.K. hatte keinen weiteren Kontakt mit ihm. - Kierkegaard - ich habe die gesammelten Werke -: "Es ist gross, das Ewige zu ergreifen; aber grösser ist es, das 413 Zeitliche festzuhalten, nachdem man es aufgegeben hat." Nur diese "Lobrede auf Abraham" in "Furcht und Zittern" ist mir in Erinnerung; ich habe öfters versucht, ihn zu lesen, kam aber nicht weiter. Der Brenner ist wieder erschienen, ist aber schwer verdaulich geworden, da fast nur hysterische Schreiber mit mystischem Katholizismus zu Worte kommen. Ficker, der gewiss ein feiner Geist ist u. ein edler Mensch, war seinerzeit empört, dass auf seinem Begräbnis kein Priester zugegen war. Mir genügte der Schmetterling, der ihn segnete. Im Namen seiner Ahnen. Wie schön das ist, dass ich so zu Ihnen sprechen kann in dieser unserer Geheimsprache, die sonst niemand verstehen würde. Auch bedauerte Ficker das Fehlen eines Kreuzes auf dem Grab. Ich auch. Aber aus anderen Gesichtspunkten. Ich hätte ihm ein altes Steinkreuz des Gekreuzigten aufgestellt. Wie erschütternd ist doch der zerschossene Christus am Kreuz in den L.T.dM. "er war nicht so". Nein, er war zu tiefst fromm. Wenigstens gelang es mir, in letzter Stunde einen echten Stein durchzusetzen. Geplant war ein Kunststein! Er und eine Imitation von Echtem!! Sein mir oft geäusserter Wunsch war, im geliebten Park von Janovitz, von mir betreut, begraben zu sein. Dieser Wunsch, trotz meines Kampfes, wurde natürlich von der Wiener Clique missachtet (weil er nicht im Testament war). Erst, als es zu spät war und die Deutschen schon eingebrochen, gaben mir die Erben die Bewilligung. - Lasker Schüler. In ihren halb verrückten Briefen redete sie ihn immer als "Kardinal" an. Er liebte ihren "alten Tibetteppich" u. ich besitze noch die Verse, die er mir aus dem Gedächtnis niederschrieb. Ebenso einmal 4 Zeilen von Otto Stoessl, seine einzigen wertvollen; aber ich kann sie nicht finden u. weiss sie nicht mehr. Ich glaube es war über den Tod. Irgendeine Wiederholung von "vier". Wenn ich mich nur entsinnen könnte. Ist "Epistle to Weidlingau" gedruckt? Why have I not got it? Wissen Sie, dass Prof. Jaray am 29. Nov. gestorben ist? An einer septischen Erkrankung. Gestern erhielt ich diese Nachricht von Dr. Samek. Es scheint, dass Jaray es unterliess, seine Rechte an de[n] K.K. Nachlass dem Dr. Samek, wie vereinbart, zu hinterlassen, was neue Komplikationen mit sich bringt. Obzwar Sie so geringschätzig vom amerik. Geisteszustand reden, glaube ich doch, dass K.K. dort und nicht in Europa zu Worte kommen sollte. Es muss doch von deutschen Emigranten wimmeln, die ja vielfach bessere Menschen waren (ich meine die, die nicht aus Furcht, sondern aus freier Wahl die Emigration vorzogen). Ich selbst hatte nie, u. habe nicht, den Wunsch Amerika kennen zu lernen, ich weiss, dass ich dort entwurzelt wäre. Es wäre auch 414 nicht durchfuhrbar - ausser als Bettlerin. Ich selbst hatte auch einen Augenblick den Gedanken, erkannte aber sofort die Verzweiflung. England läge mir viel näher, eventuel Frankreich. Aber ich werde wohl mein Leben beenden, wo ich bin. Legende! Ich liebe sie. Ich teile die Kidheitserinnerung an Nashornkäfer. Nie wieder sah man sie. Ich glaube, sie sind ausgestorben. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich auf die Wiederholung jenes Schmetterlingmotivs aufmerksam machen; es war mir nicht aufgefallen. Motive aus Jimgen Tagen werden Sie schon in Briefstellen 1914 finden. Das Briefabschreiben geht langsam. Ich hatte vor, nur die schönsten und wichtigsten abzuschreiben, aber wenn ich so lese, ist oft nur ein Satz, nur ein Wort, von höchster Wichtigkeit, gibt so sehr sein ganzes Wesen wieder, so sehr seine ganze Liebe u. seine einzige Eigenart u. seine grosse Wahrheit. Vielleicht, für die meisten Menschen, wären die Wiederholungen langweilig. Nicht aber für Sie. Das weiss ich. Denn jedes Wort ist Gedanke, Leben u. Glut, das werden Sie fühlen[.] wie ich. Und ich schreibe j a nur für Sie. Ich sende demnächst eine Probe, ich werde abschliessen mit dem letzten Friedenstag 1914. Und Sie sagen mir dann, ob ich ebenso [weiterfahren] soll. Vielleicht, als die Beteiligte, habe ich nicht den rechten Blick. But I hate to drop a word. Silvaplana: das Wort ist eine geographische Bezeichnung (und Wind bläst dort immer!) Wenn Sie in Andrees Atlas nachsehen, werden Sie den Ort finden zwischen St. Moritz u. Maloya (gegen Italien - Comosee). Zuerst kommt Campfer, dann Silvaplana mit See, dann Sils mit See (wo Nietzsche lebte), und gerade dort ist das Val Fez. Wie traurig, Liebes-Offenbarungen verbergen zu müssen, vor Allen mit dem Bewusstsein des Besten und Schönsten. An eine Falte (ich glaube, ich liebe dieses Gedicht noch mehr als alle anderen), Jugend u. Todesfurcht sind wundervoll nachgedichtet, einzigartige Schöpfungen. Sie mussten doch Aufsehen erregen. Das fast Unmögliche ist mir bewusst, ebenso dass es nur Ihnen gelingen konnte. Die Ballade vom Papagei mit Noten kam doch separat heraus. Wenn ich es fände, würde ich es Ihnen schicken. Dass der Papagei diese immer wieder vom Thronfolger Franz Ferdinand wiederholten (verzweifelten!) Worte nachzusprechen gelernt hatte, erzählte uns ein Herr bei Hof. Es ist nicht erfunden. 415 Bobby! Das ist ja das Schreckliche, dass ich zum 1. Mal in meinem Leben - gerade jetzt sind es 2 Jahre - ohne Hunde lebe. Meine letzten, deren Bilder ich Ihnen sandte, starben während des Krieges, beide in meinen Armen. Rover war erst 5 Jahre alt. Es ist mein fast unheimliches Schicksal, dass alles, was mir theuer war, mir frühzeitig durch den Tod geraubt wurde. Daher bin ich jetzt so einsam u. verlassen. Ich habe das so oft erfahren, dass ich beinahe jeden warnen möchte: mich nicht lieben und nicht von mir geliebt werden. Es fieng mit meinem Vater an, als ich 8 Jahre alt war. Er starb mit 47 Jahren, meine Mutter mit 55, Johannes 29, Charlie 46. Dies ist nur Familie. Aber Alle, alle anderen, gleichaltrigen, die mir oder ich ihnen nahe [standen], sind jung gestorben. Dora 35, fiance (Rom) 40, Gatte, den ich freilich nach 1920 nie mehr sah, 43. Ich nenne nur die, von deren Existenz Sie wissen, es sind ihrer viel mehr. Kurz, Alle. Als Bobby im Februar 1945, 89 [Jahre] alt, an Lungenentzündung u. Herzschlag plötzlich starb, verlor ich das letzte theure Wesen, das ich besass. Seither kann ich diese selten gewordenen grossen Hunde nicht auftreiben, und andere will ich nicht. So gehe ich meinen Weg allein weiter. Nur bei einem einzigen geliebten Wesen machte das Schicksal eine Ausnahme: bei Miss Cooney. And who is she? Quite right, Irish! She came to me from Ireland when I was born, as nurse & governess & remained with me ever since till to her death 1942, 85 years old. Poor darling, she only lived for me, I was her God, she cared for noone else in the world. I called her "Sweetheart" & she me ["Donie"]. She was paralysed the last months. I never left her bedside. The last weeks her mind was not clear, she kept calling my brothers & sending me to bring them. I was all alone with her in the big castle with only 1 servant, as the Germans had taken all the rest to work in factories. The last while she slept continually. Once she awoke & asked me: "Donie, am I dying?" & fell asleep again. They were her last words. A week later, in a long dark January night, while I knelt at her bed, longing that once more she might open her lovely blue eyes & look at her Dorie, she passed away - and I was once more alone -surrounded by Germans. I burried her beside my brothers in the park. On her tombstone are the words she wished: Nearer my God to thee, nearer to thee. When I had to move out of the castle, I requested the SS. Kommandant to see to it, that the soldiers may not destroy the grave of a so-called enemy; he answered: "Was glauben Sie denn von uns? Wir sind ein Kulturvolk!" (To which I have no answer!) 416 Ach! der Dativ und der Akkusativ- wer kennt sich da aus! Sehr interessant wird Mechtilds neues Buch Worte über Wörter sein, eine Art Sprachlehre. Ich erinnere mich im MS. an ihre Verurteilung des Wortes "Feindflug" u. die Begründung. Feindflug! Wer fliegt zu wem? Fliegt der Feind zu uns oder fliegt man zum Feind? Übrigens, was diese schrecklichen Wortzusammenstellungen, Abkürzungen u. Sprachsünden betrifft: Benelux! Ich dachte zuerst, es sei ein neues Putzmittel. Es ist aber die Verbrüderung dreier Länderl Vielleicht doch ein Putzmittel! Yes, I did smile at Old Vienna with a Cocktail Bar! Dieser Brief u. diese Nacht sind die längsten geworden. Es ist 5 Uhr. Aber ich muss Ihnen noch schnell 2 lustige Verse von ihm abftypen]. Sie werden lange brauchen, diesen Brief zu lesen, Sie Armer, Sie müssen es büssen, dass ich sonst Niemandem Briefe schreibe u. die [Tage] im Schweigen verbringe. Das Postporto bringt mich um, u. Sie verlangen noch schwerere Couverts! Alle Wünsche SidiN. Sind Sie furchtbar arm oder nicht? Sind Sie so reich, dass Sie mir 200 Cigaretten senden könnten? (Mehr ist nicht erlaubt.) Wenn Sie wüssten, wie viele Cigaretten ich nur diese eine Nacht verraucht habe - und welcher Schund - Sie würden die Unbescheidenheit meiner Bitte verstehen und entschuldigen. Das heisst: wenn Sie selbst Raucher sind! Ich bin ein starker - aber es ist mein einziges Laster. 417 Ski und Fiedel StMoritz 19720. Februar 1917. Dora, sie, die Lieder, sie, die Töne hat, sieht die Dora, sieht sie, wie die Sidi, die die Lieder liebt, durch Ski die Schöne hat, die die Dora freuet wie die Didi? Zum neuen Jahr. StMoritz, 28.Dez. 1917. Die gute Maymay erfüllt meinen Wunsch, sie gieng durch den Schnee und brachte mir Punsch. Ich wünsche ihr drum ein glückliches Jahr, mit Cognac und Rhum und ohne Gefahr. Die Erde half still und ohne zu beben und die Maymay so Gott will soll nur Freude erleben. Und dass ein Wunder gescheh', so sei s Gottes Wille, ihr wünscht litdeK eine passende Brille. Erklärung: Dora war Geigerin, Didi ihre Begleiterin, May-May war Miss Cooney's Name. Wir erwarteten Dora und Didi in StMoritz. Nachahmung des Fiedeins (Geigens). 418 18. Februarl948 Von Herzen Dank fur die Fortsetzung der Aufzeichnungen, die mir sehr theuer sind. Fragen habe ich soeben auf dem Typewriter beantwortet. Auch ich habe eine: Warum "will man nicht und kann man nicht sagen, was einem zu den Gedichten und Briefen zum 6. u. 8. Band einfällt"? Ist dies der Lohn für Vertrauen und Offenheit? Und warum nicht über Krankheit und Tod? Die Noten der Ballade v. Papagei kann ich Ihnen leider doch nicht senden, da ich das zweite Exemplar nicht finden kann. Aber ich könnte Ihnen Die chinesische Mauer mit 8 Orig. Lithographien von Kokoschka senden, u. zwar die einmalige Ausgabe von 200 numer. Exemplaren, Nr.l 12, brosch., Format 52 x 40 cm, Verlag K. Wolff 1914. Wollen Sie? Sie ist in einer Rolle, aber leicht zu senden. Ich besitze dasselbe Exemplar in Pergament-Einband, Nr. l "und gehört Sidi Baronin Nadherny in unendlicher Erinnerung an Schloss Janowitz und seiner gütigen Herrin am 5. März 1914 in Wien überreicht von Karl Kraus". Vorläufig sende ich zum Behalten 2 Bilder von May-May (mit ihm und mit mir), die ich doppelt habe. Ausserdem, falls Sie es wünschen, bitte zu behalten mein Profilbild, sitzend, Blumen haltend (dessen Duplikat in seinem Schlafzimmer war) und von den dreien, stehenden, die in seinem Arbeitszimmer waren u. die ich aus dem Rahmen nahm, um sie Ihnen zu senden, bitte sich eines auszusuchen (u. die anderen 2 mir zurückzusenden). Vielleicht ist es Ihnen lieb, etwas zu haben, worauf sein Auge oft mit grosser unendlicher Liebe ruhte. Ich nehme an, dass sie inzwischen eingetroffen sind. Ich habe entdeckt, dass ich noch j e eine Aufnahme besitze. - Auch ich pflanze Periwinkle an Stellen, wo Gras nicht gedeiht. Ich musste lächeln, dass Sie mir Forsythia beschreiben. Ich habe grosse Gruppen davon im Park, u. zwar die schönsten Formen: F. intermedia var. spectabilis u. die F. suspensa, Heimat China. Forsythia - sie gehört zu den Oleaceren- ist bei uns ein viel gesehener Strauch. Sie müssen aber wissen, dass im Park nicht nur Wiesen mit Glockenblumen u. vielen anderen Wiesenblumen sind, sondern dass er (17 ha) zu den botanisch reichsten im Land gehört, ohne dass seine landschaftliche Schönheit (steile Hänge, Bäche, Teiche, Wiesen, alte Laub- u. Nadelbäume) 419 dadurch beeinträchtigt wäre. Im Winter sind die weiten Strecken vieler hunderter dunkelgrüner Rhododendren, Kirschlorbeer u. sonstiger Immergrün ein Labsal für das Auge u. im Frühsommer berauscht die Farbenglut ebensovieler blühender Azaleen. Gestern entdeckte ich die ersten primeroses, bald werden die Wiesenhänge einem goldgelben Teppich gleichen. Galanthus u. Levcojum werden demnächst sich öffnen, auch die Wiesen- Crocuse. Er liebte besonders Löwenzahn u. wollte nie einsehen, dass es ein Unkraut sei. Nie konnte er einer Gartenbesitzerin verzeihen, dass sie ihn mit den Wurzeln ausstach. Ich wohne eigentlich mehr im Park als im Haus. Heuer war ein milder Winter, ein Taglöhner u. ich konnten viele Reinigungsarbeiten durchführen; seit Jahren arbeite ich für seine Schönheit. Viele Wünsche u. Grüsse. Sidi Nädhernä 420 Berichtigung Das Wunder entstand im Juni, nicht Dez. 1925. Da er einmal erwähnt hatte, dieses Gedicht sei nach einem Brief von mir entstanden, muss es also nach einem im Juni, und nicht im Nov. geschriebenen gewesen sein, da Das Wunder im Juliheft 25 erschienen ist. (Die Gedichte Und liebst doch alle und Du bist so sonderbar in eins gefiigt galten einer Schauspielerin im J. 25.) Ich habe mich nachträglich überzeugt, dass Du seit langem einziges Erlebnis am 23. 1. 1927 und nicht 22 entstanden ist, kurz nach meiner Rückkehr zu ihm, hat also keine direkte Beziehung zu dem zitierten Brief vom 21.-23.1. 22 und muss also dieses und nach "(Gemeint sind)" gestrichen werden. Der Irrtum entstand durch das unklar geschriebene " 1 " . Der Gärtnerin: liebend und TAräne! Immergrün: Gewiss muss es "spätrer" heissen. Die Auslassung des "r" entstand, weil es im MS. nicht wie nach "der, deiner, dir" ausgeschrieben ist, sondern nur aus einem winzigen Stricherl besteht. Da dieses aber nach seinen Schluss- "e" nicht üblich ist, steht es gewiss für "r" und bitte ich um Entschuldigung für mein nachlässiges Denken. Was die 2 letzten Gedichte betrifft, wäre es möglich, dass der Verfasser Frau Kann Abschriften für das Archiv übergeben hat. Da sie aber nur dessen Verwalterin und nicht Besitzerin ist, darf sie nichts daraus herschenken. (Vor Allem nicht Ungedrucktes und ganz persönlichen Inhalts.) Noch einmal: darf ich Dr. Samek darüber befragen? Beantwortimg Wenn ich auch den Namen Else Cleff öfters von ihm hörte, kann ich - da er von so Vielen, die er bald da, bald dort traf - mich nicht mehr erinnern, wer sie war. Ich glaube Schauspielerin. Ich weiss nur, dass sie plötzlich in jungen Jahren starb. Er war vorher über Weihnachten in Janowitz gewesen, fuhr dann nach Deutschland, hielt Vorlesungen am 12.1. 29 in Stendal (Mme. VArchid.), dann Pariser Leben in Hamburg und fuhr von dort nach Köln " 1 9 . 1 . 29. Eine tieftraurige Sache hat mich hierher geführt. Hoffentlich sehe ich Dich bald. Nur für ein paar Stunden hier, um mit einer unglücklichen Mutter zu sprechen. Abends nach Berlin." 421 Die Büsserin bleibt dunkel? Es ist da an keine bestimmte Person gedacht, sondern: treue Ehefrau = Büsserin. Ebenso Die Schwangere = Bürgerbett = Gattungsfluch. In beiden das Motiv: Liebe zur Pflicht entehrt. Wer der Redner war weiss ich nicht. Es war im Jahr, als wir uns nicht sahen, und nachher vergass ich immer danach zu fragen. Sehnsucht. Darüber schreibe ich demnächst mehr. Heute nur dies: Einöde als Ort der Einsamkeit, wohin hermits sich zurückziehen, als weltferner Begriff ist nicht beunruhigend, sondern auch in seiner Art ein seltenes Kleinod. Einöde - Wüste - die ich über alles liebe. Nie vergesse ich eine Oase bei Tozeur (Tunesien). In Stunden der Trauer zieht es mich dorthin. Dort könnte man glücklich sein. Einöde darf nicht mit öd verwechselt werden. B. IX. Schlosstheater in Eisenberg. Eisenberg ist in Böhmen und gehört einem gemeinsamen Freund., dem Fürsten Lobkowicz. Wir waren öfters dort zu Besuch. Im Schloss ist ein reizender, alter, ganz eingerichteter Theaterraum. (Eisenberg liegt bei Brüx.) Am Tag, nach dem ich Ihnen geschrieben hatte, fand ich, aufs Geradewohl eine Kiste öffnend, obenauf das Lieglerbuch liegen und verbrachte gleiche eine Nacht damit. Gewiss, geistreich und interessant, aber das seinerzeitige Empfinden regte sich wieder: das Entblättern einer Blume. Dasselbe Unbehagen, wenn Menschen eine Marguerite zerzupfen, um zu erfahren, ob sie geliebt werden. Er sagt: "Ein Gedicht wie Verlöbnis ist zu sehr gedanklich beschwert, als dass es unter die echte Lyrik gerechnet werden könnte." Und doch war es nach wenigen Studen vollendet. Dasselbe kann ich von den meisten in Janow. entstandenen sagen. Auferstehung - rauschgeboren - wurde mir am Morgen zugesandt. Die Ausgewählten Gedichte sind erst 1939 erschienen? (Ich kann den Band vorläufig nicht finden.) Ich weiss nicht, warum ich mir jetzt nachträglich einbildete (ich muss ihm damals wenig Beachtung geschenkt haben), Karl Kraus habe die Auswahl der Gedichte gemacht. Vielleicht weil er öfters von einem solchen Plan sprach. 422 a Kann Da Sie so wenig über H. Kann zu wissen scheinen, obzwar sie doch zu seinem engeren Kreis gehörte, muss ich Sie informieren, obzwar es mir widerstrebt, mich ihrer Existenz zu erinnern. Denn seit Jahren hatte ich es miterlebt, wie er sich von ihr quälen Hess u. wie sie die Güte seines Herzens u. seine Nachsicht jeder Frau gegenüber ausnützte. Ich selbst habe sie vielleicht 2 - 3 mal ganz flüchtig gesprochen, denn 1.) mied ich überhaupt seinen mir ganz fremden Kreis (was er durchaus billigte, denn auch er war gegen jede Vermengung zweier so verschiedener Welten. Die wenigen Male, wo ich nach Vorlesungen in Wien oder Prag mit seinen Verehrern in Berührung kam, fühlte ich mich totunglücklich) u. 2.) war sie mir vom ersten Augenblick an ganz besonders unsympathisch, was ich ihm auch nie verhehlte. Sie hatte so eine Art, die grande dame zu spielen, die eher schrecklich war. Etwa im J. 1914 oder 1915 bat er mich zuzustimmen, mich bekannt machen zu dürfen mit einem Schwesternpaar, Jugendfreundinnen, die es sich so sehr wünschen, mich zu sehen. Besonders lag ihm an Frau Reitler, deren Geist, Herz u. Charakter er sehr schätzte; die Schwester, Frau Kann, bezeichnete er als eher dumm u. unbedeutend. Nach dieser kurzen Begegnung in einem eckelhaften Caföhaus (ich gehe nie in Cafehäuser) sah ich Frau Reitler nie wieder u. ich sende eine Abschrift über ihren Tod. Seit damals blieb es in seinen Nerven, dass man der nervösen Schwester in Allem nachgeben müsse, sonst werde sie sich auch ihr Leben nehmen, wie sie öfters androhe. Oft u. oft war ich bei ihren telephon. Anrufen zugegen, sie weinte ins Telephon (sie ist wahrscheinlich hysterisch), sie wolle wissen, wann er ins Caföhaus komme u.s.w. Seine Antworten waren immer sehr kurz: viel Arbeit, keine Zeit, Kopfweh u.s.w. Die Zeiten unserer Trennung nutzte sie aus, um sich ihm unentbehrlich zu machen, als stete Zuhörerin im Caföhaus u.s.w. Sie führte ihm auch Jaray zu. Mir erzählten Freunde von mir, die nach den Leseabenden mit dem Kreis im Caföhaus beisammen waren, wie lächerlich sie sich benahm. Sie residierte bei dem Tisch, griff nach den Blumen, die er gewöhnlich erhielt u. mitbrachte, u. reichte er sie meiner Freundin, sprach sie vor Wut kein Wort mehr den ganzen Abend. Es tat mir immer weh, wenn, nach gemeinsam mit meinen Freunden in seiner Wohnurg verbrachten Nächten - er unterhielt sich gern mit meinen Freunden u. sein letztes Sylvester verbrachte er mit mir in ihrem Haus, nachdem wir vorher in einer Loge der Fledermaus im Opernhaus beigewohnt hatten u. die ganze Nacht imitierte 423 er dann in lustigster Stimmung den miserablen Schauspieler - er sie bat, Frau Kann nichts davon zu erzählen, dass sie bei ihm in der Wohnung waren. Sie nahm sich eine Vorzugsstellung heraus u. wurde vom Kreis mit Ehrfurcht behandelt, wahrscheinlich in der Annahme, es beständen zwischen ihr und K.K. intime Beziehungen. Als sie einmal beleidigt wurde u. er für sie eintrat, erzählte er mir verärgert, die Leute glauben dies wahrscheinlich, obzwar ihm nie eingefallen wäre, sie zu berühren, sie habe nie einen Reiz für ihn gehabt (was ich begriff), es könne keinen geschlechtsloseren Verkehr geben, was ihn mit ihr verbände seien vor Allem die Schwester u. Jugend-Erinnerungen. Wenn sie etwas wollte, quälte sie ihn so lange, bis er nachgab. So war es seit Jahren ihr Wunsch, Janowitz kennen zu lernen. Sie Hess ihm keine Ruhe, war er in Janow., kamen lange Briefe über dieses Thema. Trotz seines Widerstrebens u. unserer Vereinbarung, mich u. Janow. seinen Bekannten fern zu halten, plagte sie ihn derart, dass er mich darum bat. Ich schlug die Bitte aus. Charlie verstand nicht, warum ich nicht einwilligte: "Let her come for once, or she'll never leave him in peace" meinte er. Der Gedanke war mir unerträglich, ich empfand die Neugierde (u. das nachherige Renomieren) als Entweihung unseres Heiligtums. Erst nach Charlie's Tod, teils aus gebrochener Widerstandskraft, teils weil ich sah, wie ihr stets wachsendes Drängen ihn quälte, gab ich insoweit nach, dass ich ihm sagte, sie könne kommen, ich aber werde wegfahren u. nicht zugegen sein. Diesen Affront nahm sie ruhig hin: sie kam, ohne von mir persönlich aufgefordert zu sein u. wissend, dass ich abwesend sein werde. Ich staunte über ihre dicke Haut. Ich sperrte aber alle Zimmer des Schlosses ab (mit Ausnahme des Speis- u. Wohnzimmers)! Ich erzähle dies nur als Beispiel, wie schwer sie K.K. das Leben machte. Was ich ihr aber nie verzeihen werde, ist, dass sie ihm seine letzten Monate derart verbitterte u. dass es ihr durch Intrigen verächtlichster Art gelang, seinen ohnedies zusammengeschmolzenen Bekanntenkreis auseinanderzureissen u. einen gegen den anderen aufzuhetzen, so dass zum Schluss er Niemanden mehr hatte. Es begann damit, dass, als er einmal nach einer Vorlesung ins Künstlerzimmer kam, er Frau Kann halb in Ohnmacht (wahrscheinlich fingierter) fand, sie sei beleidigt worden, es sei das Wort "jüdische Frechheit" gefallen u.s.w. Sie können sich nicht vorstellen, welche Dimensionen diese Affare annahm.* Ich kam bald danach nach Wien, wo ich die letzten Winter 1-2 Monate bei meinen Freunden wohnte u. jeden Abend bei K.K. soupierte. Ich kann nicht 424 sagen, wie es mich schmerzte, allabendlich von ihm zu hören, wie er hinein verwickelt wurde u. zu sehen, wie er sich mit so kleinlichem, niedrigem Zeug befassen musste, so tief unter seiner Würde. Es fielen fort neue Beleidigungen, es sollte geklagt werden, er sollte Zeuge sein u.s.w. Es war mir alles unbegreiflich, ich konnte es mir nur erklären, weil er durch die immer wiederkehrenden Schmerzen nicht arbeitsfähig war u. nicht ganz er selbst. Wochenlang litt er auch an schrecklichen Kopfschmerzen, verursacht durch einen Sturz auf der Strasse von einem Radfahrer im Dunkel niedergestossen. In solcher Verfassung, vor Schmerzen konnte er kaum die Augen offenhalten, sagte er mir nachts beim Fortgehen, gerade als ich den Wagen startete, er werde jetzt sein Testament ändern u. Dr. Münzer - der auch in dem Streit verwickelt war - streichen u. Jaray an s. Stelle setzen. (Daher die Unklarheiten u. Fehler im Testament.) Bald danach kehrte ich nach Janow. zurück. Er kam fast alle 14 Tage auf mehrere Tage u. athmete jedesmal erlöst auf, der Wiener Affare entronnen zu sein. Als ich ihm zuredete, sich doch nicht damit zu befassen u. lieber an Shakespeare zu arbeiten, sagte er, er könne Frau Kann nicht im Stich lassen. Ihr Besitzergreifen von allen Rechten, Ansprüchen u.s.w. nach seinem Tod ist Ihnen wohl zum Teil bekannt. Niemand traute seinen Augen, als Erste hinter dem Sarg H. Kann mit Witwenschleier! (und knallroten Lippen) zu sehen. Es ist mir ein Schmerz, dass sie nun so sündhaft seine Freundschaft u. sein Vertrauen verraten hat u. sich als das von ihm Verhassteste entlarvt hat: als Lügnerin u. Geschäftsfrau. Ich bin sprachlos, dass sie mit Ihnen über Tantiemen verhandeln wollte! Es ist unerhört. Und gerade in diesen Tagen hat sie an einen Bekannten hier einen Brief geschrieben, worin sie Samek auf das Gemeinste beschuldigt, er missachte das Testament, um sich zu bereichern, seine Handlungen seien ein schwerer Vertrauensmissbrauch, "Übergriffe". Er habe geplant, "gemeinsam mit einem Verleger von üblem Ruf in N.Y. mit den Werken sein Geschäft zu machen", seine Briefe seien ein "Wust von Jus, Lüge u. Verdrehungen, wahre Dokumente der Selbstblossstellung". Die Gründung der K.K. Gesellschaft in Wien schob den Machenschaften Sameks einen Riegel vor". In dem Ton geht es weiter. Er fragte mich seinerzeit, ob ich nichts dagegen habe, wenn er den IX. Band H. K. widme (da die Linie ohnedies schon unterbrochen sei), sie wäre sonst sehr gekränkt u. war es schon, dass M. Dobrz. vor ihr kam. Mir werde er die "Sprachlehre", die Krönung seines Werkes, 425 widmen. A l s ich ihn nach Immergrün fragte ob wieder Lyrisches entstehen werde, erinnere ich mich an seine rührende Antwort, die etwa so lautete: "Du bist mein Märchenwesen, immer mehr, und kannst zaubern. Bleibst Du mir, wie Du bist u. immer warst, wird in Zukunft wieder nur entstehen, was von Dir kommt." Wer die öffentliche Aufbahrung des Toten in seinem Arbeitszimmer angeordnet hat, weiss ich nicht. (Ich gieng natürlich nicht hin, sandte nur Wiesenblumen.) Sie schreiben, dass es Ihnen unverständlich ist, warum Sehnsucht ausgelassen wurde. (Ich habe den Band nicht.) Ich erfuhr es durch einen Brief Sameks an Jaray, worin er ihn auf das Akrostichon aufmerksam macht u. dass deshalb Kann es ausgelassen habe. Ich bemerke, dass Sie über das Testament nicht richtig informiert sind (ich dachte, Sie wüssten alles durch Samek). Jaray u. Fischer sind nicht "literarische Testaments­ vollstrecker", sondern Herausgeber, dürfen aber nicht veröffentlichen. Nicht sie haben Kann als Verwahrerin des Archivs eingesetzt, sondern K.K. in s. Testament. Das Archiv war nämlich immer in ihrer Wohnung, da er keinen Platz hatte. Ich werde Ihnen morgen den Anfang des Testaments aufschreiben, dessen Unklarheit so viel Missverständnisse u. die bisherige Verhinderung einer Ausgabe verschuldet hat. Heute ist es schon spät geworden. In meiner letzten Beantwortimg entdeckte ich nachträglich zwei Schreibfehler - wahrscheinlich war ich schon ganz dotty: ihnen schrieb ich klein, u. alte statt alter. Übrigens Druckfehler: Sybaris, S. 54, 15. Zeile von oben, statt Gesang Gang (von der Autorin in meinem Buch ausgebessert). "Geschrieben April-Juni 1943". Werfel: "3./4, Okt. 1914. Der Dichter W. soll das Bajonett wieder abgeschnallt haben und in Prag sitzen".- Während ich über den letzten Winter in Wien schrieb, sah ich plötzlich Folgendes vor mir: Nachmittags telephonierte mir K.K., er habe arge Kopfschmerzen u. möchte gerne Luft schöpfen, ich soll mit Rover ihn im Auto abholen u. wir könnten im Prater spazieren gehen. Schon beim Verlassen des Wagens im Prater sammelten sich Menschen: eine chauffierende Dame (in anderen Ländern eine Selbstverständlichkeit), der "Fackelkraus" und ein noch nie gesehener grosser schwarzer Hund erweckten Aufsehen, ("seht's der Neger", "der Mohr" u.s.w.). Immer mehr Menschen folgten uns, wir mussten umkehren u. entfliehen. Als wir einstiegen, war der Wagen von Menschen umkreist. 426 u.s.w.). Immer mehr Menschen folgten uns, wir mussten umkehren u. entfliehen. Als wir einstiegen, war der Wagen von Menschen umkreist. 25726. Februar 1948 •Sie war allen unerträglich geworden. Nach s. Tod beklagte sie sich, dass man sie nicht mehr respektiere u. selbst den armen Jaray beleidigte sie so schwer, dass er ein für alle Male mit ihr brach. Von Goblot habe ich einen Brief unglaublicher Stupidität gelesen. Genau, wie abgeschrieben, sieht das Testament aus (mit allen Fehlem). Es sind im Ganzen 4 solche Blätter: wer alles Legate, Erinnerungen u. Bücher zu bekommen habe. Es werden meine Geschenke genannt, die mir zurückzugeben sind, ebenso meine Briefe ungelesen. Selbst May-May soll ein Buch bekommen. Datiert 27./28. August 1935, rev. 19./20. Februar 1936 (eben jene Nacht der Kopfschmerzen, in der der 1. Zettel neu geschrieben wurde, da nichts, wie in der anderen, durchgestrichen ist). Da kein Erbe eingesetzt, waren die Geschwister die Erben, übertrugen aber bei Gericht das Erbe an Samek u. Jaray. Samek macht einen Unterschied zwischen herausgeben u. veröffentlichen, der auch K.K. bewusst gewesen sein soll. Also wurde den 3 Genannten nur das Herausgeben, ausdrücklich aber nicht das Veröffentlichen übertragen; dies habe er dem Testamentsvollstrecker überlassen, da es mehr um geschäftl., drucktechnische Dinge gehe. Fischer u. Kann aber behaupten, er habe sich verschrieben u. wollte sagen: Niemand ausser den Genannten, sonst hätte er statt niemand Keiner sagen müssen u.s.w. Und daher nehmen sich die Beiden, obzwar Kann überhaupt nur als Verwahrerin genannt ist, das Recht heraus, zu veröffentlichen, Contrakte abzuschliessen, die niemandem gezeigt werden, der Erbe wird ignoriert, der Ertrag eingesteckt u.s.w. Diesem schrecklichen Brief, der nur über Tod handelt u. über Dinge, die ärger als Tod sind, will ich keine Abschriften beilegen. Und vor Allem will ich Ihnen erst morgen sagen, mein lieber, lieber Freund, wie theuer mir Ihr Brief vom 17.d. ist (dem gleich ein zweiter folgte) u. wie verloren u. verlassen ich gerade in diesen Tagen wäre, wenn ich ihn nicht hätte. Immer wieder wandern meine Augen zu ihm, um sich zu versichern, ob er wirklich dort liegt u. 427 betrachten ihn mit Liebe. Inmitten der Geschehnisse fühle ich: dort-, nur dort, in diesem Brief ist mein Heim. My new and old, my very dear friend -1 feel sick at heart - Noch eines: ich habe die films der Hundebilder gefunden, also, falls Sie eines oder das andere besitzen möchten, bezeichnen Sie mir bei Rücksendung welches. Mit der Rücksendung der Bilder hat es gar keine Eile. 26727. Februar 1948 Mein Testament welches ich Dr. Oskar Samek zu vollstrecken bitte. Mit der ev. Herausgabe meiner Schriften, Ordnung der Briefschaften, Dokumente etc. betraue ich Professor Dr. Jaray (Karl), Heinrich Fischer (Prag), als Hilfskraft Dr. Pnilipp Berger. Niemand aber der Genannten hat das Recht eine Zeile von mir - sei es aus Gedrucktem, etwa auffindlichen Handschriften oder Briefschaften (von mir oder an mich geschriebenen) - zu veröffentlichen. Der Ertrag eines etwa herauszugebenden Werkes (oder Werke), das Briefe an mich enthält würde Dr.Philipp Berger allein zufallen. Der Ertrag meiner sämtlichen (inkl. aller vorhandenen Hefte der Fackel) gehört zu 30% den Herausgebern, zu 20 % den Familien Jahoda u. Siegel (die die Auslieferung) auszuliefern hat, zu 2 5 % Sidonie Nädherny und zu 2 5 % Frau Helene Kann, der auch Manuskripte u. sonstige Dokumente für das Archiv zu überlassen sind. Dieses selbst nach dem Ableben der Verwahrerin einem von der von ihr zu bestimmenden Zweck oder Faktor (etwa der Stadt Wien) zu. 428 28.729. Februar 1948 Mein lieber und gütiger Freund, Alles, was Sie in Ihren Briefen sagen, und wie Sie es sagen, gibt mir die Gewissheit, dass ich einen Schutzengel haben muss - oder war er es selbst?-, der Ihnen damals eingab, mir den ersten Brief zu schreiben, und Cordelia dazu bewog, ihr Schweigen zu brechen. Sie tat es, weil sie weiss, dass niemand ihn liebt und lieben kann wie Sie und deshalb liegt ihr nur an diese[r] Liebe dieses Einzigen, die Cordelien auch mit einschliesst und versteht. Nun endgültig davon durchdrungen, verspricht sie, nie wieder ein Missverstehen oder die Erweckung eines Argwohns irgend welcher Art zu befürchten. Im weiten Umkreis gibt es für sie kein anderes Glück als das Wissen dieser Verbindung. Ob Sie wohl eine Ahnung haben, wie diese sie jetzt aufrecht hält, wie sie in sie flüchtet, welcher Lohn es ist, zu hören, - dass so wie sie ist, sie ihn Ihnen näher bringt? Und welches Glück, während des Lesens Ihrer Briefe - als schlürfte sie "lautem Nectar mit durstigem Gaumen"- und während des Sichversenkens in deren Inhalt und in vergangene Zeiten von "Wonne und Weh", die sie umgebende Welt, "wo sie mit Leidenschaft das Leben quälen", vollkommen ausschalten zu können. Wahrlich "so zwischen Schmach und Schönheit eingesetzt", wird sie von dieser, auf kurze Stunden wenigstens, entführt, - verführt - dauernd aber geführt. Hier die Fortsetzung der Briefe 1914. Auf diese Weise ist es Ihnen ermöglicht, ihn durch einige Jahre seines Lebens zu begleiten, leider nicht nur durch Seligkeit, aber auch durch Qual, Schmerz u. Verlassenheit. Zur Erklärung, warum K.K. im J. 1914 nicht öfters nach Janow. kommen konnte: Charlie, durch Krieg u. allerlei Sorgen nervös, war damals gegen öftere Besuche von ihm, u. es war mir oft schwer, den Ansprüchen von beiden Seiten nachzukommen. Später gewannen sich beide immer mehr lieb u. wurden gute Freunde. Immer aber bestand für mich die ermüdende Schwierigkeit, die Wünsche Aller zu erfüllen. Für Charlie wurde ich von Jahr zu Jahr immer unentbehrlicher, die letzten Jahre seines Lebens unternahm er nichts u. gieng nirgends hin, wenn ich nicht teilnahm. Bis zu seinem letzten Atemszug bedeutete ich Alles für ihn. (Seine letzten Worte waren: "you must never leave me". Nach einer Blinddarm-Operation bekam er Lungen-Embolie u. ich war gerade in dieser Stunde des Anfalls abwesend gewesen.) Ebenso abhängig war May-May von mir. Da 429 nun jeder mich für sich haben wollte, war das Leben compliciert und anstrengend. Ich schicke dies für die folgenden Jahre voraus. Welch ein Contrast mein jetziges Leben zu dem damals von fast allzuviel Liebe umgebenen! Aber jetzt, seit ich weiss, dass ein Ohr gehört hat und Augen geweint haben, ist es anders. Jetzt muss ich dankbar glauben, dass ich nicht verlassen bin, wenn auch ein Meer uns trennt. Heute geht eine Kleine Collection von Bildern an Sie ab. 21 , davon 11 retour. Ich habe sie bezeichnet. Es wird wohl wieder lange dauern, ehe sie Sie erreichen. (Laut Befehl mit Schutzdeckeln!) Vielleicht wird Sie am meisten freuen seine allerletzte Aufnahme vom J. 1933 auf seinem Lieblingsplatz den letzten Sommer im Park: Ein Wiesenplatz am Teichrand im Schatten von Trauerweiden. Dort verbrachte er den ganzen Tag, vom Frühstück angefangen im Bademantel, schwimmend, im Gras liegend, lesend, arbeitend oder in Gesprächen mit mir. Erst am Abend zog er sich an, um mit mir am Balkon zu soupieren, von welchem man auf den Park hinunterblickt und in der Abendstille ist nur der Wasserfall zu hören. Dort warteten wir auf die Sterne. Jenen Platz am Teich liebte er so sehr, dass er darauf bestand, dort photographiert zu werden u. ich musste eigens einen Photographen von der nächsten Stadt konmen lassen. Ein alter Schnauzer, den ich damals hatte, musste auch auf dem Bilde sein. Die Platte besitze ich. Postage as yet has not become - actually - a problem, but may in the near future, after latest occurrences. I shall certainly not send letters nor typescripts by ordinary letter post, it would last ages & I hate waiting. I'm wondering if we both can hear at the wireless the same news from London? Or find a man calling Austria from N.Y. at 23 our time. I suppose not, as your hours are quite different. Dieser Brief war als ganz kurzer geplant, aber ich muss noch einiges beantworten: Sie haben recht, er trank nie Alkohol. Der Punsch war, glaube ich, für Sylvester, oder zur Erwärmung. Wie schrecklich, dass Sie so arm sind u. ich habe um Cigaretten gebeten! Es müssen die letzten sein. Ich brauche sie nur als eine Art Aufbesserung, da die hiesigen weit weniger gut sind. Aber da ich auch von anderen Barmherzigen in U.S.A. Cig. erhalte (nur kam das letzte Packet ausgeraubt an die Grenze an, ein anderes aber war in 6 Wochen hier), werde ich für 430 mehrere Monate genügend haben, wenn ich täglich 1-2 (und 40 hiesige) rauche. Jedenfalls von Herzen Dank!- Ich sende Artmann zurüek. Ich glaube, Mittler war sein bester Begleiter. - Nein. In Wien kann sein Werk nicht erscheinen, auf Jahre hinaus nicht, nur in einem freien Land. Ich hatte mir vorgestellt, U.S.A. sei von deutschsprechenden Emigranten überschwemnt, die nach geistiger Nahrung hungern. Also vielleicht Stockholm oder Kopenhagen? (Die Schweiz ist durch die Kann verpatzt.) Ich muss manchmal Briefe amerik. Mädchen für hiesige Burschen übersetzen, u. staune, dass 16 jähr. Schülerinnen durchwegs unorthographisch u. überhaupt ganz blöd schreiben, auch scheinen sie in den Schulen viel weniger Gegenstände zu haben wie hier. Fischer hat nur das Herausgeberrecht, das nicht verkauft werden kann, da ein Ehrenrecht. Ihre Ertragsrechte haben sowohl er wie Kann u. Jahoda an Samek verkauft (weil sie damals glaubten, es werde nie ein Ertrag sein); meines stellte ich Samek zur Verfügung für zukünftige Ausgaben. K.K. konnte nicht von dem Werfel-Diebstahl öffentlich reden, da er es vertraulich erfahren hatte und Beweise gab es nicht. Rilke war ein edler, reiner, unbestechlicher Mensch, unerfahren u. unbeholfen in Geldsachen, lebte nur für innere Dinge, war mehr oder weniger in der Welt verloren, dabei seit Jahren krank, lebte einsam, fiel leicht auf Talente herein, war zu wenig kompromislos u. zu sehr Ästhet (angeboren) u. wurde von Frauen verschiedener Gesellschaftsklassen gern bemuttert. Ich schätzte ihn als Menschen, nicht als Dichter. Aber seine Briefe an mich - etwa 200 - sind viel schöner, als die vielen, die in Druck kamen, nur weiss es niemand. Als ich Mechtild berichtete, dass ich Ihnen ihre Adresse gegeben hatte, bat sie mich um die Ihre. Hat sie nicht geschrieben? What's wrong with nach rückwärts! I'm afraid I dont quite understand. Gottlob dass ich keine Autorin bin, ich würde dann nicht wagen, Ihnen zu schreiben! Weiss Gott, wie oft Sie bei mir "nachsichtig hinweghören" müssen, wenn ich so dahin stolpere! Liegler. Ja, es bestand schon vorher eine Abkühlung: Oft erzählte er mir von einem hysterischen Mädchen, das wie ein Gespenst vor seiner Thür steht, Blumen hinlegt u.s.w. u. wie sie ihn plagte. Dieses Mädchen nun heiratete Liegler. K.K. wollte nicht in diese 431 Atmosphäre hineingezogen werden u. hielt ihn fern. Deutlich ist in meiner Erinnerung, wie erregt er über das Nestroy-Buch war, auf viele Stellen hinwies u. mir sagte, er sei mit L. ein fur allemal fertig, weil er sein Verbrechen nicht einsehe. Es mag ja sein, dass erst L/s Reaktion auf seine Kritik ihn so aufbrachte. Das weiss ich nicht mehr, noch wann es war. Dass mein Gedächtnis kein gutes ist, erkannte ich unlängst, als ich wieder Ihre Poems by Karl Kraus in einer Kiste fand (ich habe 2 Bände, weil K.K. einen May-May schenkte): In diesem Band war von mir unter jedem Titel der deutsche gesetzt u. ausserdem an Hand der Revisions & newly discovered errata alle Druckfehler im Buch ausgebessert. Und trotz dieser intensiven Befassung war alles in Vergessenheit geraten! Sie dürfen sich nicht für lange Briefe entschuldigen, denn 1.): j e länger, j e lieber (Jelängerjelieber - die deutsche Benennung für honeysuckle: Lonicera caprifolium. Entziehen Sie der Biene nicht den Honig, den sie aus Blumenkelchen für ihr Gedeihen benötigt; sie hat ja keine anderen.), u. 2.) meine Entschuldigung müsste eine ganze Seite einnehmen! Alles, was lieb und gut ist, wünschend SidiN. Sonntag 29. Februar 1948 Mein Verehrter, theurer Freund - Um 2 Uhr, nach dem schwarzen Kaffee, fieng ich an die Epistle to Weidlingau zu lesen. Ich las und las und dachte nach u. machte Notizen und las weiter und wieder und merkte nicht, bis er ganz kalt war, dass man mir um 5 U. den Thee gebracht hatte, in aller Eile absolvierte ich das Nachtmal, auf Augenblicke drehte ich das Radio auf, da es aber immer wieder dasselbe Thema war, versank ich wieder in die Epistle und jetzt ist es 9 Uhr. Wo war ich diese vielen Stunden? Ich weiss es selbst nicht. Ich bin ganz benommen von dem übermenschlichen Werk, von der Tiefe des Gefühls und Verstehens, von der namenlosen 432 Klage, von der erschütternden Trauer, von der dichterischen Kraft und Schönheit. Und tief dankbar für das Vertäuen. Ich weiss, dass Sie mir Ihr Heiligstes mitgeteilt haben. Es gibt Stellen, zu denen ich immer wieder zurückkehre, so zu S. 5 von "But at the voice" bis S. 7 "surviving every death". "I had been walking between light and dark" u. die folgenden 3 Zeilen - wie schön. Oder S. 8 "And it was to the world alone" u. die folgenden 7 Zeilen. Oder S. 9. "And far beyond" bis "beggar-king". "Die unerhörte Klarheit im gedanklichen Labyrinth", notierte ich mir zu S. 6 unten u. S. 7 oben. Und schrieb weiter: "Waren Reim u. Rhytmus Diktat für den Gedanken? Nein. Aber so wundervoll fliesen Geist und Wort, und nie eines zu viel, in reimgebundener, dennoch freier Sprache in einem grossen, weiten Strom, der in ein Meer von Liebe mündet". Da traf ich auf S. 8 Ihre Worte "fast-bound and free"! Weitere Notizen: "Who was he? What was he? I never could find any of the various answers satisfactory, for none came close, nor could it - to what he really was. It is as impossible as the answer would be to: Who & what is God? But his deep, pure Truth could not be defined more convincingly than in your description of that blest "thoughtless moment", when first your seeing eyes saw black on red. And all that follows." And then I put down: "But of course it cannot be, that in others too "that long-known voice" should have been waiting to be released at last to utterance: No, in you alone on the wide, wide world lived the echo of this voice. Therefore I again insist, that I hear the same voice. Perhaps, in comparis[i]on, a whisper, but not less intense in the identic goal. It is useless, if you seek to rob me of my conviction". "To stress true worth" - deshalb hat er Ihre Briefe abgedruckt. In Äusserungen wie "Insistence on unity of utterance" etc., oder "must [look up in epistle and put in italics] at any mention of your name in such a company" u.s.w. merke ich, dass alles, was ich abschreibe, Sie eigentlich ahnend schon wissen. - And how I enjoy your sarcasm & disdain! - "The last days of lost mankind" - for ever more this truth remains. - Grammophon, einmal, nach langer Zeit, wagte ich es - es war unerträglich. Ich stellte ab und ich glaube, ich werde nie wieder den Mut finden. Darf ich sagen, was ich auslassen würde? Die 2 Strophen auf S. 10. Sie heben sich zu klein ab von dem grossen Hintergrund. (Und es waren nicht 2, sondern 3 = Berger. Übrigens, laut Samek, compliciert juristisch die ganze Angelegenheit die Ungewissheit über sein Schicksal.) 433 Das Grab. Bei dem Begräbnis wurden Reden gehalten. Ich hörte nicht zu. Ich sah - und hörte - nur den Citronenfalter auf dem blühenden Jasminstrauch, dessen Bruder er vor Kurzem in Janowitz begrüsst hatte. Sein Abschied war herzzerreissender als was die "Trauernden" da sagten und taten nach abgebrauchter Konvention. "Was hebet aus den Grüften und labt mit linden Lüften auch mich zuguterletzt?" Nur dies hörte ich. Am Abend kam ich wieder u. brachte Kerzen. Dunkel und verlassen lag das zugeschaufelte Grab da. Ich zündete die Lichter an, die noch am Morgen brannten. Ich hatte es ihm versprochen, als er mich einmal fragte, während ich die Gräber meiner Eltern u. Brüder zu Allerseelen beleuchtete, ob ich auch seinem Grabe Kerzen geben werde. Wann immer ich nachher in Wien war, brannten nachts Lichter auf dem Grab. Von Janowitzer Glockenblumen senkte ich Samen in den Wiesenraum. Hätte ich ihn hier begraben dürfen, wie es sein Wunsch war (aber von niemandem geachtet, weil nicht schriftlich), alles wäre blau gewesen. Ich weiss nicht, warum ich mit den 3 Schlusszeilen nicht einverstanden bin. Sie passen mir nicht in den Strom, sie sind ein Nebenbacherl. Wirken als Anhängsel. Sind Sie bös, wenn ich das sage? Vielleicht verstehe ich nichts davon, Und dennoch spüre ich genau, wie nach allem Gesagten die Sehnsucht wiedergekehrt ist, die am Anfang war. Aber diese Sehnsucht teilt sich nicht unbezwingbar mit. Sie ist müde. "The sky hangs frightening near". Das war in Thierfehd. "Ring blue" war im Park. Hier ist etwas Construiertes, nicht auf gleicher Höhe mit der grossen Wahrhaftigkeit und Tiefe des Vorhergesagten, Wären Sie nicht so gütig u. nachsichtig mir gegenüber, würde ich es niemals wagen, Ihnen, einem grossen und wahren Dichter, so offen mein Gefühl zu sagen. Denn wer wüsste besser als Sie, wie important ein Ausklang ist. On reading Karl Kraus. Das ist ein kleines Wunderwerk. Vorgelesen müsste es berücken. Jede Zeile ein Juwel. "Wit woven wizardry, word-web of wonder". Gott, wie schön das ist. Ein Lied. Und die folgenden Anhäufungen der w, th, h, 1 und m - lashing one's blood. Warum wurde dieses einzigartige Gedicht nicht in Ventures in Verse aufgenommen? Weiss Amerika, wen es hat? Oder stehen Sie ganz allein? Gibt es Lyriker in Ihrem Land? Epistle, es, und Ihre Briefe kommen in ein grosses Couvert mit dem Vermerk, ungelesen Ihnen zu senden. Bevor ich heute der Epistle gute Nacht sage, bitte ich Sie, der gütigen Kopistin für die grosse Mühe meinen aufrichtigsten Dank zu übermitteln. I know of course 434 that she did it for you, but perhaps a tiny wee bit also for me. Nein, Weidlingau auf Böhmen umzudichten, das gienge garnicht. - Ob es während des damaligen Krieges zwischen Ost. u. Böhmen Postzensur gab? Haben Sie denn vergessen, dass Böhmen damals zu Österreich gehörte, dass Österreichs Kaiser Böhmens König war und dass man Schulter an Schulter kämpfte? Grenzen gab es nicht zwischen den Ländern. Ich glaube, dass es auch nach Deutschland keine Postzensur gab. Mitternacht! Und soeben entdecke ich, dass die ganze Morgenpost u. Zeitungen uneröffhet daliegen! Morgen schreibe ich weiter. 2. März.48. Kokoschka. Also jetzt weiss ich endlich Ihr eigentliches Fach. Ich glaubte vielleicht Germanistik, wenn es so etwas gibt, u. dass Sie vielleicht Ihren Hörern die Sprache von K.K. erklären, oder vielleicht Dichtung. Wenn Sie von Malerei noch mehr als von Lyrik verstehen, muss dies unendlich viel sein, was ich auch an der Art Ihrer Kritik erkenne u. an der wohlthuenden Leidenschaft Ihrer Empörung. Kunst in jeder Form war das, wofür mein Bruder Johannes mit seither nie wieder erlebter Glut u. Begeisterung lebte. Seine Studien waren Philosophie und Kunstgeschichte gewesen u. da wir von jeher alles gemeinsam taten, dieselben Neigungen u. Interessen hatten, ist mir Malerei sehr vertraut. Wir jagten der Kunst nach in den verschiedensten Ländern Europas, in Italien wurden die kleinsten Dörfer besucht, um dieses oder jenes Bild zu finden. Trennten sich unsere Wege, z.B. er Griechenland, ich Paris oder London, brachten wir mit nachhause ganze Stösse grosser Photographien von Bildern, Bauten, Bildwerken, u.s.w. und nachts wurde alles ausgebreitet, erklärt, besprochen. Dies alles geschah nicht aus irgend welchen Berufsgründen, sondern aus reiner Liebe für jedes Kunstwerk. Mit der gleichen Hingabe wurde ausserdem jedes bedeutendere Konzert besucht, jede schauspielerische oder gesangliche Leistung, dann wieder spielte ich ihm nachts Chopin u. Anderes vor u. er las mir Gedichte vor. Ich erinnere mich einer Vollmondnacht, in der er mir im "Sidonienhaus" oben im Park nur bei Mondbeleuchtung Wilde's Salome vorlas. Dieses mein Leben endete mit einem Schlag, als er, 29 Jahre alt, plötzlich an einem Herzkrampf starb. Ich war vollkommen verloren. Aus 435 diesem Leben nun trat ich nach 3 Monaten in das Leben von K.K. ein. Seltsam, wie er mich in Vielem an Johannes erinnerte, seltsam auch wie K.K. ohne Weiteres empfand, was Johannes gewesen, als hätte er ihn gekannt. Diesen unbeirrbaren Instinkt habe ich oft bei K.K. - auch in Dingen bildender Kunst oder Musik, denen er doch eigentlich fremd gegenüber stand - festgestellt. Mein Zwillingsbruder Charlie war ganz anderer Art. Er kannte nicht die Gluten, die Johannes, dem ich immer die vertrauteste Freudnin war, verzehrten. Erst im Laufe der Jahre entwickelte er sich zu einem freien, edlen, gütigen Menschen. In mir aber war etwas gebrochen, was nie, nie mehr geheilt werden konnte. Ihn konnte mir niemand ersetzen, es war eine einmalige, aussergewöhnliche Verbundenheit; er hatte zu meiner ureigensten Welt gehört. Mit K.K. waren Höhepunkte, die vielleicht grösser, unendlicher waren, die alles einschlössen, was es an Schönheit und Liebe gibt - aber es war eine andere Welt. Ich weiss nicht, ob Sie das verstehen können. Vieles mir Vertrautes und Geliebtes war ihm unbekannt, es gab eine Stelle in mir, die immer einsam blieb. Ich habe Ihnen dies erzählt, weil Sie mich dadurch besser kennen lernen u. Ihnen auch manches in den Briefen klarer sein wird. Vielleicht hätte ich heute nicht davon gesprochen, wenn mich nicht Ihr mir mitgeteiltes Arbeitsfeld zurückversetzt hätte in Zeiten, wo Malerei eine grosse Rolle spielte. Mit dem grössten Interesse bin ich Ihren Ausführungen über Kokoschka gefolgt. Wie schade! Wie kann Begnadung und Genie so vollkommen ausgelöscht werden?! Ich verstehe Ihr Entsetzen über diesen Schwindel und den verübten Mord. Da Sie die Luxusausgabe Chines. Mauer u. die Zeichnungen erwähnen, besitzen Sie sie wohl. Ich hatte sie total vergessen, bis sie mir unlängst in die Hände fiel. Loos, der unbeirrte Propagandist für alles Mögliche (als ich ihn kennen lernte, waren es die Bügelfalten an Männerhosen, die nicht vome, sondern an den Seiten, wie in Amerika, sein sollen!) u. gewiss auch oft berechtigt (Kokoschka, A. Schönberg u.s.w.), schleppte mich natürlich in Kokoschka's Atelier u. zeigte mir alle von ihm gebauten Wohnungen gleichgültig, ob es den Bewohnern angenehm war - (er war ja taub!) Marmor immer wieder Marmor, aber genial ausgeführte Raumverhältnisse. Ein Haus in Prag mit räumlichen Schönheiten u.Marmorhalle ist eine Qual für die Bewohner: es gibt nichts als Stufen zwischen jedem Zimmer, hinauf, hinunter u.s.w. Dort waren K.K. u. ich zugegen bei der Feier seines 60. Geburtstages. Auf dem Bild, das er mir damals schenkte, steht: "Für unsere 436 Baronin Nädhernä". Ich kenne seine Bücher nicht. Ich weiss nur, wie herzlich K.K. lachte, wenn er mir über seine Vorträge (vom Hörensagen) erzählte: unsagbar langweilig u. leerer Saal. Thema: "Über Gehen, Stehen" oder so ähnlich. Überhaupt lachte er immer über die seltsamen Ideen von Loos, aber es war ein liebevolles, verzeihendes Lachen. Die Doppelphotographie L. u. P.A. kenne ich nicht. K. K. war streng darauf bedacht, dass P.A. mich nie kennen lernen solle, sonst gebe er mir keine Ruhe u. würde immer Geld verlangen. Loos, der mit Wonne wahllos Menschen durcheinander würfelte, musste ein feierliches Versprechen ablegen, uns nie zusammenzuführen. Er war unglücklich genug, dass Loos mir einmal die gesammelten Werke P.A. gab mit langen Widmungen in jedem Buch von P.A. an mich (namentlich) niedergeschrieben. Nein, ich habe nachgesehen, Einem Denker ist nicht abgedruckt worden. Also nur zu finden im Juniheft 1916 der Neuen Rundschau. Ich hatte sie jahrelang bezogen, ob auch noch 1916 weiss ich nicht mehr. Aber gewiss in einer amerik. Universitäts-Bibliothek aufzutreiben. Wenn's dafür steht?! In der Abschrift hatte ich folgenden Satz ausgelassen: Nach "Herzloser! Angesprochen (mit Namen) bin ich darin nicht, aber jeder Leser muss spüren, gegen wen es geht. Schaleres" u.s.w. Was sich so ein Gehirn ausdenkt: Eine der Lügen, die er - aus Rache für meine Behandlung - damals K.K. erzählte, war ich müsse eine interessante Dame sein, denn ich sei einmal mit einer Cirkusgruppeü gereist . Wie er nur auf einen solchen Gedanken kommen konnte?! Beinahe krankhaft. Und nun Schluss mit diesem widerlichen Subjekt Werfel!- In habe Ihnen die Noten der Ballade vom Papagei geschickt. In der Musik ist "sein Herr [h]erzog" besonders entzückend. Ich erinner mich plötzlich an eine kleine Episode im J. 1914: Ich musste K. Fr. Jos. danken für die Verleihung der "Ehrenstiftsdame". Es regte die Phantasie von K.K. an, mich direkt nach der Audienz in Empfang zu nehmen. Wir nahmen einen Fiaker u. er wartete vor Schönbrunn. Hier wäre wieder eine Gelegenheit, auf die bekannten Widersprüche hinzuweisen - aber wir wissen besser! Ich liebe Ihre Aufzeichnungen. So lange habe ich einen Gedankenaustausch, Anregungen und Gespräche über das mir nächste entbehren müssen. Ich merke jetzt erst, wie verdurstet ich war. 437 Im Schreiben an Sie erwachen so viele Erinnerungen. Ich habe versprochen, rücksichtslos vorzugehen und Sie nicht zu schonen! Aber es muss ja nichts beantwortet werden, also nehme ich nur die Zeit des zur Kenntnis Nehmens in Anspruch. 4 . 3 . Ich wollte auf Abschriften warten, das wäre aber zu lang. Der Brief geht also ohne Begleitung ab, ausser der von vielen Wünschen und Grüssen. SidiN. Abschriften vom J. 1915 aus dem Brief-Roman des Sie interessierenden Lyrikers. (Sie sehen, ich wähle die gleiche auf S. 17 erwähnte Rücksicht.) In dem Roman finden sich Anmerkungen der Angeredeten, während sie versucht, sich in ihren damaligen Zustand zurückzuversetzen. Wie Sie es tun werden, leidet sie bei dem Lesen, und jedes Wort des Schmerzes ist ein Herzstich, trotz des "happy end". Sie sagt, dass sie damals in Rom unglücklich war: zu hause wegen Unverständnisses war sie müde und mutlos nach Rom gekommen, gequält von der Erkenntnis, in diesem Zustand die grosse Liebe nicht in gleichem Masse erwidern zu können, wissend Schmerz zu bereiten und es nicht verhindern zu können. Zudem die vielen Ansprüche, die Freunde an sie stellten und die zu erfüllen sie sich bemühte und eine unselige Verlobung, ein mit dem Schreiber aus complicierten Gründen besprochener Plan, dem sie nicht gewachsen war und der heillose Verwirrung und erschöpfende Wochen zur Folge hatte, bis die Flucht vor Kriegsausbruch sie erlöste und von allen Rücksichten befreite. Sie erzählt, dass es ihr nachträglich unverständlich sei, was sie bewog, sich in ein Höllenleben hineintreiben zu lassen, während frühere Aufenthalte in Rom nur Schönheit, Landschaft und Kunst in tiefer Ehrfurcht gewidmet waren. Ich habe diese Anmerkungen zu besserem Verständnis erwähnt. 438 Im Schreiben an Sie erwachen so viele Erinnerungen. Ich habe versprochen, rücksichtslos vorzugehen und Sie nicht zu schonen! Aber es muss ja nichts beantwortet werden, also nehme ich nur die Zeit des zur Kenntnis Nehmens in Anspruch. 4 . 3 . Ich wollte auf Abschriften warten, das wäre aber zu lang. Der Brief geht also ohne Begleitung ab, ausser der von vielen Wünschen und Grüssen. SidiN. Abschriften vom J. 1915 aus dem Brief-Roman des Sie interessierenden Lyrikers. (Sie sehen, ich wähle die gleiche auf S. 17 erwähnte Rücksicht.) In dem Roman finden sich Anmerkungen der Angeredeten, während sie versucht, sich in ihren damaligen Zustand zurückzuversetzen. Wie Sie es tun werden, leidet sie bei dem Lesen, und jedes Wort des Schmerzes ist ein Herzstich, trotz des Mhappy endM. Sie sagt, dass sie damals in Rom unglücklich war: zu hause wegen Unverständnisses war sie müde und mutlos nach Rom gekommen, gequält von der Erkenntnis, in diesem Zustand die grosse Liebe nicht in gleichem Masse erwidern zu können, wissend Schmerz zu bereiten und es nicht verhindern zu können. Zudem die vielen Ansprüche, die Freunde an sie stellten und die zu erfüllen sie sich bemühte und eine unselige Verlobung, ein mit dem Schreiber aus complicierten Gründen besprochener Plan, dem sie nicht gewachsen war und der heillose Verwirrung und erschöpfende Wochen zur Folge hatte, bis die Flucht vor Kriegsausbruch sie erlöste und von allen Rücksichten befreite. Sie erzählt, dass es ihr nachträglich unverständlich sei, was sie bewog, sich in ein Höllenleben hineintreiben zu lassen, während frühere Aufenthalte in Rom nur Schönheit, Landschaft und Kunst in tiefer Ehrfurcht gewidmet waren. Ich habe diese Anmerkungen zu besserem Verständnis erwähnt. 438 12. 3. your dear letter, my precious friend, from the 4. has just arrived. You must not be anxious, as yet I have everything I need (under conveyance). The future I must leave to God. If you tell me, which dogpictures you should like, I shall have copies made & send them. - I'm glad that you have got all the 1914 letters. - Please send only long letters - as much as I enjoy them & our discussions - when you feel up to it. You must not make yourself tired nor neglect your own work for the sake of writing to me. Also a short word is always comfort & pleasure. Please excuse the pencil, I hope you can read it. I chose it for various reasons. I'm glad, that as yet we get our letters regularly. 10. März 1948 Es gibt auch noch andere, viel, viel späterer Zeit, als ein Unglück, mit keinem vergleichbar, über sie hereinbrach, und ein plötzliches, unfassbares Dunkel den Schluss ihres Lebens einhüllte. Es war damals, "als lachender Löwenzahn von sternenbedeckten Wiesen zu einem vollkommen gebrochenen Herzen sprach, das nicht mehr imstande war, eine Stelle zu finden, die Kraft verleihen konnte, war es auch von den goldgelben Blumen tief berührt. Es wurde ihm das letzte geraubt und fremde Menschen übernahmen den altgewohnten Befehl. Entrechtet, erschüttert von den Begebnissen, kaum erfassend, ob Traum oder Wirklichkeit, blickte es auf die verlorene heilige Insel. Noch besass das arme verquälte Herz die Wiese, ohne zu wissen, auf wie lange noch, aber über alles, was jenseits der Mauer seit Geburt dazu gehörte, wurde ihr das Wort entrissen und fremder Wille herrschte. Sie war gewohnt an Einsamkeit, ganz wenige Menschen aber fanden sich manchmal ein, sie ertragen zu können. Es wird dann in dem traurigen Buch erzählt, wie diese letzten, allerletzten Tröster weggeschwemmt wurden, hinter Kerkermauern oder in die Flucht und wie das Unrecht in ihrem Herzen brannte. Die Kerkerwände aber seines Schweigens aufzubrechen, um hinauszubrüllen, was nicht mehr tragbar war, hätte es auf ewig ausgelöscht. Es wollte nicht mehr leben, aber nicht solchem Tod erliegen. Und sie wusste, dass es keine Hilfe gab in dieser tiefsten, unausdenkbaren Verlassenheit, die dauern werde bis zum Grab. Und ganz 439 zuletzt zitiert sie einen Satz von einem englischen Autor: "From death's eternal silence eternally a voice that cannot be silenced, shall ring in our ears in tragic harmony with trodden hearts". Von mir selbst gibt es nichts zu erzählen. Nur Dank für liebe, sorgende Worte. Man darf nicht daran denken, dass vielleicht einer oben auch dieses weiss und nachfühlt. Die Wiesen sind gelb mit primroses u. weiss mit Schneeglöckchen, aber Augen, die mit Thränen gefüllt sind, sehen sie wie hinter einem Schleier. Haben Sie die Brief-Abschriften S. 1-15 erhalten? Und soll ich die Chin. Mauer senden? A heart, that has no wishes more for itself, but many for you, thanks for each kind word. Einodis 18. März 1948 Immer gebe ich Unnachgiebigkeit in ernsten, heiligen Dingen recht; sie können nur von dem beurteilt werden, der sie empfangen hat. Und ich bin glücklich, dass mein Freund trotz "redlichster Mühe, es anders zu finden", die Richtigkeit meiner Kritik nicht einsehen kann: es ist der überzeugendste Beweis, wie organisch alles entstand und eins dem andern folgte. Genau solchen "Stumpfsinn" liebte ich bei Karl Kraus, der es ihm unmöglich machte, in der organischen Blumenwelt ein Unkraut zu sehen, welches der erfahrene Blick der langjährigen Gärtnerin sofort entdeckt. ("Unkraut" soll natürlich kein Vergleich sein!!) Ebenso haben Sie mich überzeugt, dass man nichts herausreissen kann, wo alles zusammenhängt. Brahms u. die anderen göttlichen B. hat sie gespielt. Aber nie mehr, seit er, dem sie sie vorspielte, nicht mehr hören konnte. Jahre vergiengen, ehe sie es ertrug, sie wieder zu hören; nicht immer ist es, dass sie oder Chopin bring always peace! Musik reisst mich auf: was sorgfaltig u. mühevoll verklebt wurde - wie eine Schnecke im Winterschlaf -, um durch Berührung nicht immer wieder dem Schmerz des Verlusts u. der Sehnsucht zu unterliegen, wird entblösst u. allen Leidenschaften preisgegeben. Musik entführt mich, ich weiss nicht wohin, in ein Himmelreich, öffnet aber gleichzeitig alle Thränenquellen, weiss ich auch 440 nichts mehr von der Welt - wie im Sinnesrausch. Dann aber, ist sie vorbei, kann ich lange nicht Frieden, nicht Ruhe finden. Karl Kraus war eifersüchtig auf die Macht, die Musik über mich hat u. mich ihm entzog: er sagte, der Ausdruck meines Gesichts wird verklärt, verinnerlicht, die Welt u. auch er vergessen, mir verloren. (Wie glücklich u. gerührt war er, sah er diesen - mir unbewussten - Ausdruck wieder, wenn er mir ein Gedicht vorlas.) Deshalb furchte ich mich fast vor Musik. Das wird der Dichter nicht verstehen; denn ihm ist sie "solace always to my bleakest mood and benediction on my solitude". Chopin's Preludes u. Nocturnes - wie sind sie doch ganz enthalten in den 4 vorhergehenden Zeilen! - Dont bother about corrections & crossings out, I'm accustomed to them from his letters & I can read any scribble. On reading Karl Kraus wäre nicht Lügen gestraft worden! Obzwar ich Ihnen so viel, wie noch Niemandem (denn ich bin das Gegentheil von mittheilsam) von mir erzählt habe, bis Sie sich vielleicht am liebsten schon die Ohren verstopfen - oder eigentlich die Augen verkleben - möchten, verlange ich nicht, dass Sie desgleichen thun wenn Sie lieber schweigen. Aber gerne wüsste ich, wie das mit den Lyrikern bei Ihnen ist. Fragen Sie mich aber nicht, ob wir hier Lyriker haben, denn die Sprache ist mir zu wenig geläufig - höre u. spreche ich sie (mit Fehlern) auch den ganzen Tag, bleibt sie mir immer fremd - denn man war ja früher Österreicher -, als dass ich es beurteilen könnte. Nie noch las ich ein Buch in dieser Sprache. Die letzten Tage wurden übersetzt, der Nörgler aber vollkommen ausgelassen. Ich furchte, die alten Freunde werden sich [auf] die neue Freundin ärgern, wenn ihretwegen ihnen so spät geantwortet wird. Und wüssten sie erst, wie geschwätzig u. inquisitive sie ist! Gute Nacht. Wenn nur nicht die dunklen Wasser sich über die Ertrinkende zusammenschliessen, ehe - sie wieder die Oberfläche erreicht und athmen kann. - 441 29. März 1948 S. thanks her new friend - and yet friend from always - for all dear words & kind thoughts. She was so happy to see his handwriting again, although a little doubtful if his little guardian angel approved of his disobedience. But she was glad to know that he had re[ie]ved the first half of 1915 letters. He shall have to wait several weeks perhaps for the continuation. She left the most precious thing she possesses for the mean time in care of a friend. She could not concentrate just now, feeling op[p]ressed & suffocated. She is so disgusted with her family & sees no way out, they seem intent in their wish to destroy her. She says that perhaps soon a stamp shall really be a problem. She asked me to write to you, as she has very little time & feels worn out. But you are not to be alarmed, she shall not lose courage. Her family can never destroy her soul. You know how religious she is & that she never forgets that there is One watching over her. And that He has provided her with friends. She was greatly moved that one of them, Oscar S. proposed that should she come to him, he would feel it as a privilege, could he divide everything he has with her. As to myself, I got the photos back today & I shall send you the dogs later on. Perhaps it is all the better that I have no dog at present, the up-keep might be difficult. I'm so glad, that you were right, and that the hospital was not really necessary. I do hope & pray, that you are resting & feeling your old self again. Perhaps a pause in my shower of letters has the advantage of leaving you time to answer them by slow degrees. Each little note shall be a joy. A long letter from Samek - 110 typed pages - proves what liars Kann & Fischer are. The root of all their phrases & high flown talk is purely commercial interest. It sickens one. He himself is a noble-minded, [disinterested] man. He tells me that I have succeeded to persuade him, that he may not give up in his struggle to save the work & that he shall start a law-suit against the swiss publisher. I wish that I could help him materially, for it will mean a great expense. I am perfectly certain, that only he is a guarantee for a conscientious edition, & that really it does not signify where the great work shall be published in comparision to the much greater importance of the who. Vienna is impossible, since they claim Werfel as their's too! 442 And have the same intentions with him as with K.K.Ü His publisher in N.Y. thought of having the books sold in Austria & Germany for a cheap price, so that all could buy them. What even remains after my death shall all go for the benefit of the work & to help S. in his struggle. I do wish that the publisher will take interest in the Sybaris translation. Tell me till you know. It is late - long after midnight - & the night is dark & black. But you must be well. Johannes 1./2. April 1948 Wie warm wird mir ums Herz, jedesmal, wenn ich die mir nunmehr schon so sehr vertraute Handschrift erblicke. Es ist vollkommen wahr u. aufrichtig, wenn ich Ihnen sage, dass Ihre Briefe meine einzige Freude geworden sind, die ich schwer entbehren würde. Es ist mir so sehr zur Gewohnheit geworden, Ihnen zu schreiben u. von Ihnen zu hören, dass ich gar nicht mehr weiss, wie das früher war, als wir nichts von einander wussten. No, there is no obstacle why we should not write to each other. Nach einer Weile, bis der Hausfrieden gesichert u. Gemüter beruhigt, bringe ich die Briefe & shall continue the copying. Eigentlich wollte ich heute nicht schreiben (gleichbedeutend mit einem grossen Zwang sich anthun) - denn ich bin müde nach einem langen Tag Gartenarbeit: Gemüse-Anbau = Nervenberuhigung - aber wie gerne gebe ich den Vorsatz auf: denn ich muss danken für die heute erhaltenen köstlichen Cigaretten. Bei jedem Zug werde ich an den lieben Spender denken. Und ausserdem will ich ankündigen, dass ich dieser Tage 5 Bilder von M.L. u. 2 Bilder von Johannes absende, aber nur zum Anschauen, da ich um Rücksendung bitten muss. Aber bitte sie, ebenso wie die anderen, ruhig mehrere Wochen zu behalten.- Flock war ein Kuvacs (ungarischer Schäferhund) u. Pyri ein pyrenäischer mountain dog. Diese ganz weiss, waren sie ein schöner Contrast zu dem schwarzen Rover u. löwenfarbigen Bobby, alle in der gleichen Grösse. Pyri kam direkt aus seiner Heimat Frankreich. Aber es stimmt nicht, dass 443 im Gegensatz zu Menschen alle Hunde gut sind. Dazu sind sie zu sehr in Menschen- Gesellschaft. Pyri war fast ein Idiot, raufsüchtig u. bissig, unverlässlich. Deshalb gab ich ihn dann fort. Flock war ein Schmeichler, musste aber von Rover und Bobby getrennt gehalten werden, da sie ihn hassten (er hatte mit der Rauferei den Anfang gemacht); er hatte einen falschen Blick u. war hinterrücks bissig gegen Fremde. Nach Bobbys Tod ( er starb am selben Tag, 22. 2., wie der erste Bobby u. ich gab ihm seinen Grabstein mit den Schlusszeilen: "Und abschiedsvoller" u.s.w.) war Flock glücklich, bei mir sein zu können. Da überfuhr ihn in meiner Abwesenheit ein russisches Auto. Ich darf alles fragen, was ich wissen will? Ich möchte so gerne wissen, was die Arbeit ist, die Sie seit dem Herbst beschäftigt. Ist das sehr indiskret? Und vielleicht ein Geheimnis? Selbst wenn sie wollte, könnten die seit Jahren ungeübten Finger, durch die Beschäftigung mit Erde, Schaufeln u. Hacken ungelenkig geworden, sich auf Tasten kaum zurechtfinden u. es kämen nur Trauermärsche zustande. Feiice notte! My friend - I had been away for several days, in Prague, worried & troubled & lingered on, ungern und zögernd bin ich heute in ein mir entfremdetes Heim zurückgekehrt, das kaum mehr meins ist, da alles unter "Zwangsverwaltung" bis es mir ganz entrissen wird. I feit so homeless. But suddenly my eyes fell on 3 letters - your letters - they meant home, sweet home to me & peace returned to my heart. I did not open them at once, it was enough to know that they were there. I waited for night. And now I have been reading them, slowly & carefully. It was our world again, our own world, which had been so far from me during the many days of silence - but never for an instant forgotten in this sort of double-life I am living. I had not intended to write tonight, for tomorrow I must go to P. again (it's only 1 1/2 h. by train), but I must. I must tell you that Einodis smiled so gratefully at your protest & that she does want your letters, even short ones are a comfort & a wonderful link with him. And also apart from him - sie fühlt ein Einverständnis, das sie beglückt. Und wäre es nur der 444 gemeinsame Hass seit Jahren für das eine Wort, dieses missbrauchte, für jede Gelegenheit umfrisierte Deckwort von Lüge in tausend Formen. Zurückblickend: in der vermeintlichen Unduldsamkeit, wieviel mehr duldete sie als heute möglich wäre. Immer erkannte er sofort, auch wenn man schwieg, mit dem Gefühl verstanden zu sein. Poor Einodis is now quite without friends; they have all departed. She herself is ailing, she cannot breathe, she would need another atmosphere, Höhenluft. Perhaps in the autumn, before the winter sets in. She sees no possibility for the present. As to Oscars's place, after your description it would mean vom Regen in die Traufe, of course only in reference to "greed & grab". Dank für das Dankeswort. Ich kannte es u. bin nun froh, es zu besitzen. Ich habe mir aus P. Briefe mitgebracht, u. werde nächste Woche das Abschreiben fortsetzen, wenn nichts dazwischen kommt, was leicht geschehen kann. Ich ersehne diese Nachtstunden, mich in Vergangenes zu versenken u. Gegenwärtiges zu vergessen. Ihre letzten Worte "Eine schlimme Nacht hinter mir" bedrücken mich. Immer geraten Vernunft u. Herz in Streit. Jene sagt: bitte kurz u. selten schreiben, dieses bittet um genau das Gegenteil. Ich überlasse die Entscheidung Miss Francis, umso leichter, als es mir scheint, dass Sie nicht besonders folgsam sind. May you sleep well this night. Der Knabe Lenker 15. April 1948 I enclose 4 snapshots, not very good ones. I wonder, if you shall like Mechtild fs face. It is hard sometimes, but can be very soft. She has fair hair & dark eyes. What colour should you say are my eyes? I think I never told you 445 3. Mai 1948 Endlich, endlich habe ich Zeit und Ruhe, Ihnen zu schreiben, wonach mir schon sehr bange war. Aber ich hatte es mir selbst verboten. Denn ich hatte mir vorgenommen, jede Nacht- Minute auszunützen, die Briefe 1915 abzuschreiben, u. das nahm viel Zeit in Anspruch u. ist noch immer nicht vollendet; die Abschriften werden aber noch diese Woche abgehen. Ich bin jetzt öfters in Prag - um einer einsam gewordenen, verzagten Mutter beizustehen u. auch um mich selbst ablenken zu lassen - ich kann dann nicht abschreiben, aber dafür Briefe schreiben. Ich habe das Gefühl, Ihnen viele Antworten schuldig zu sein, will aber heute nur die 2 letzten Briefe bestätigen: einen mit Vorwort zu Jugend u. Todesfurcht u. ungerechtfertigtem Tadel Ihrer Prosa, u. die 5. Fortsetzg. der Anmerkungen (die ich immer liebe u. mit Andacht lese) vom 18. April. Abenteuer d. Arbeit. Ja, immer meinte er, das zuletzt Entstandene sei das Schönste u. Wichtigste. Mythologie u. Literatur. Auch mir ist der Juden-Jargon Wien, Prag u. vielleicht Berlin fremd u. musste ihn mir K.K. jeweils erklären. Literatur habe ich nie von ihm öffentlich gehört, oft aber erlebt, wie er sein eigenes Lachen verbeissen musste. Lachen! Wirklich lachen. Wie selten kann man das u. erlösend ist es nur, wenn bezogen von geistiger Basis, deshalb war der tägliche Verkehr mit ihm u. seinem nie versagenden Humor so belebend u. erfrischend. Genau wie Sie blieb es mir unfassbar, dass Rilke so roh, banal u. hässlich diese Seufzer- Sonettf] übersetzen konnte. Welch fürchterliche[n] Worte kommen dort vor - u. überhaupt, jede Zeile ein horror. Gewiss darf man wissen, dass M.L. die "Wunderbare" ist. Gestern eine Karte von ihr, unt. And.: "I am near you, darling, knowing so well that we belong to the souls of trees & dogs & what the horizon & the scented breezes between it has always meant to us, so much alive & full of memories as it is . . . " Aber jetzt zur Abwechslung ein Veto (nach bekanntem Beispiel!): t rNach rückwärts" kann ich nicht verurteilen, da es auch in einem seiner Briefe vorkommt ("nach rückwärts fixieren"), den ich gerade abschrieb, als ich mich mit der Frage beschäftigte. Wenn "wärts" 446 immer nur die Richtung bedeutet, dürfte "rückwärts" niemals - wie es im Sprachgebrauch oft geschieht - als kein wohin angebend, vervendet werden. Und doch hört man oft, z.B.: "Er steht rückwärts, hinter der Menge. Wenn dies erlaubt ist, muss auch z.B. "er geht nach rückwärts" erlaubt sein. Ich weiss, dass man statt "rückwärts" hinten sagen soll. Ich glaube, weil vor Allem English Ihre Sprache ist, empfinden Sie diesen Pleonasmus besonders stark. Denn natürlich hat backwards immer nur den einen Sinn u. wäre etwa ein towards davor unmöglich, schon weil das "wards" stärker ist als "nach". Vielleicht hinkt, was ich da sage - lassen Sie mich aber deshalb nicht ganz fallen. Logisch denken kann ich seit Wochen nicht mehr [ ] voll Lüge u. Schwindel. Ich citiere aus Rom. Roll.: "Gegen das Herz ist nichts einzuwenden, nur allerhand gegen den Kopf." Epigr. a. Hochgeb. Noch eines wissen Sie nicht: Der "Frauenbrief' über eine Lawine (Fackel 418-422, April 16, S. 41) war von mir. Dies ist, glaube ich, meine letzte Beichte. Ich weiss, dass wir am 28. April, Sie und ich, in Weidlingau waren. - Wundervoll war jetzt im Park das "Frühlings-Erwachen": das zarte Grün der Buchen u. Birken, das helle [r]osa der Blutbuchen u. viele andere Schattierungen in Grün u. Roth der verschiedenen Bäume, untermengt vom blühenden chines. Malus, von duftenden [Viburnum] [Carlessi], Flieder u. Goldregen, auch Rhododendren blühen schon u. bald wird der Park erfüllt sein vom Duft der Azaleen in ihrem bunten Farbenrausch. Auf den Wiesen Löwenzahn, Anemonen, Dotterblumen, [(Caltha palustris)] Narzissen, Vergissmeinnicht u.s.w. Veilchen u. primroses sind schon verblüht, Maiglöckchen aber erblühen jetzt, als weisse Nachfolger von Schneeglöckchen u. Märzbecher. Forsythia blühen nicht mehr. In den Alleen sind die Obstbäume, ausser Äpfel, auch schon verblüht, ebenso hawthorn [(Crataegus)]. Es ist heiss u. trocken, alles blüht viel früher u. gleichzeitig u. nur kurz. Die bluebells Englands haben wir hier nicht, aber sonst vielerlei Glockenblumen. Schneeball u. Jasmin blüht noch nicht. Hier stehen die Kastanienbäume in voller Blüthe, Akazien noch nicht. - Dies alles sehen die Augen, finden aber im Herzen kein Echo. Ich hoffe, bis ich morgen nach Hause komme, dass ein Brief von Ihnen warten wird, denn noch Vieles wollten Sie mir sagen. Stetes Gedenken, Wünsche und Grüsse! S. 447 7th of May. - May-May's birthday. 1948 Endlich kann ich dem "besten Leser" vierzehn weitere Blätter senden und werde wieder jede Nacht abschreiben. Nur müssen es kurze Nächte sein, denn im Garten gibt es so viel Arbeit (jetzt mit Gemüse), dass ich früh bald aufstehen muss. Ich habe keinen Gärtner mehr u. muss Umstechen, Vorbereiten u. Pflanzen allein durchführen. Da ich Gemüse liebe, pflanze ich immer ziemlich viel u. das gibt Arbeit, vermehrt durch Giessen, denn seit Wochen regnet es nicht. Gatenspritze u. Wasserleitung wurde von den Deutschen zerstört. Ihren ausführlichen Brief vom 22. - 26.4., der meine ganze Freude war (nicht nur was Sie sagen, aber wie Sie es sagen - ich lerne Sie immer besser kennen und fühle ein Einverständnis, als wären wir uns nie fremd gewesen), beantworte ich ein anderes Mal. Ich wusste, dass das Gesicht von M.L. Ihnen nicht zusagen würde. Bitte schreiben Sie auf dem gelben Konzeptpapier, das ist viel persönlicher. Und besonders, wenn es sich darauf so leicht schreibt. Als Egoist befürworte ich es sehrl Die Hundebilder sind gestern eingetroffen. No, you wont send me any cigarettes. I must learn not to indulge in luxury. Die Briefe kreuzten sich, in denen wir einander über Blumen erzählten. Natürlich kennt man Spiraea hier. Es gibt sehr viele Arten. Ich kenne aber nur wenige englische Bezeichnungen für Blumen, auch deutsche nicht. Sie müssen sie mir latainisch sagen u. dann kann ich die Frage beantworten, ob wir sie hier haben. And now there are lilies of the valley on my writing table! Goodnight! S. Hundreds of Rhododendren are now in richest blossom - a wonderful sight. I never have the heart to cut flowers from shrubs for vases, they wither so quickly, espec. lilacs - and think how long they take to grow! Perennials & annuals of course - that's another thing. But all in all: I never pick flowers; it seems a sin. - I killed an ant today (because in a 448 mysterious way it had got into the room & wanted to get to the jam, while I was having my tea); it was terrible. I shall never do so again. Poor little innocent animal. I hated myself afterwards. I love ants. It was nasty of me. What right had I, just because I'm stronger, to do it! I wish I could bring it to life again & wipe out my cruelty. 22. Mai 1948 Mein bester, edelster Freund, Zwei liebe, lange Briefe (Ende April u. 9.Mai) will ich schon lange beantworten, aber so Vieles (Unschönes) beschäftigt mich, dass ich mich nicht dort konzentrieren kann, wo ich jetzt am liebsten leben möchte: in Ihren Briefen, Mitteilungen u. Anmerkungen. Aber wenn ich auch schweige, ich rette mich zu ihnen in Stunden innerer Not u. fiihle mich dort geborgen u. beschützt. In einer Geistesverwandtschaft mit Ihm u. einer Gefuhlsverwandtschaft mit mir, die mich beide beglücken. Wie bin ich dankbar für diese Bereicherung meines Lebens, das so arm geworden war, wie wärmen mich diese inneren Sonnenstrahlen im Genuss immer neu entdeckter Erkenntnisse vielseitiger - u. dennoch einheitlicher - Schönheit, die der Güte u. Stärcke Ihres Herzens, der Zartheit Ihres Empfindens, der Klarheit Ihres Geistes, Ihrer Offenheit u. Wahrhaftigkeit, Ihrer Scharfheit in Kritik, Ihrer Wut u. Empörung, Ihres Humors (wie musste ich lachen über "Zigaretten gefallig, die Dame?" - und doch, wie arm ist man geworden, dass man sich wünscht: kämen doch die Zeiten wieder!), Ihrer Beziehung zu Tier u. Blume- und Musik und - Ihrer Liebe. (Aber analysieren heisst verkleinem.) - Also Maler sind Sie! Und dies wurde mir so lange vorenthalten! Maler bei Tag und Dichter bei Nacht. Keinen Augenblick zweifle ich, wie gross und rein die Kunst sein muss, der Sie dienen. Als ich anfieng, Ihnen zu schreiben, ahnte ich nicht, wie klein ich war einem so Grosses Schaffenden gegenüber, der immer mehr u. mehr wuchs; und ich komme mir überheblich vor, dass ich so viel Ihrer Zeit in Anspruch nahm. Aber Sie geben sie mir ja 449 gern. Und vielleicht konnte ich ihn Ihnen viel näher bringen - von einer Seite, die der Welt unbekannt. Gibt es nicht Photos Ihrer Bilder? Oder darf man sie nicht sehen, weil die Farbe fehlt? Was war die letzte Arbeit? Was ist es, was Sie malen? Und nun zu den weiteren Punkten: Sie haben recht, ich bin undankbar, wenn ich sage, dass ich hier ganz ohne Freunde bin (ich dachte an die liebsten, die gegangen - und ausserdem, gibt es Freunde und Freunde). Dr. T. ist ein treuer, rührender Freund - aber aus einer anderen Welt, oder besser gesagt, aus einem anderen Milieu. Er war jetzt mit Frau und 2 Kindern (der Sohn ist Musiker, d.h. studiert Musik u. will nach U.S.A., vom Dirigenten Szell eingeladen) über Pfingsten hier. Gf. K. hingegen kenne ich seit meiner Kindheit; wir sind mehr wie Bruder u. Schwester, aber was Geist u. innere Kultur betrifft, steht er tief unter Dr. T. Nach wenigen Tagen erblasse ich vor Langweile. Sascha, der schon lange tot ist, war ein entfernter Verwandter. Welche Farbe meine Augen haben? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich grau. Jedenfalls nicht wirklich blau noch braun (wie Mecht.'s). Haare blond. Aber hie u. da entdecke ich ein weisses Haar. Eher gold blond, während Mecht. hell-blond (vielleicht gebleicht) ist. Ja, manchmal ist etwas Hartes um ihren Mund u. in ihren Augen, vielleicht etwas Männliches, im Zusammenhang mit der Schärfe ihres Geistes, aber dann wieder sah ich oft einen Ausdruck unendlicher Güte u. Weichheit, gerade um den Mund, u. weiblichste Thränen in liebevollsten Augen. Es ist nicht leicht, ihr nahe zu kommen. Vielleicht bin ich eine der Wenigen, der sie nichts vorenthält. Ich sehne mich oft nach ihr, habe sie schon 10 Jahre nicht gesehen. Ich möchte gerne im Herbst dorthin u. grüble, wie es durchführbar wäre, falls ich die Ausreisebewilligung bekäme; vielleicht würde eine Bekannte mich als Gärtnerin aufnehmen. Es gibt also keine Lyriker in U.S.A., ausser den einen. Wo aber gibt es heute Lyriker? Sweet Singers habe ich mit Genuss gelesen, ebenso Megalomania. Skeptiker? Muss es jeder denkende Mensch im heutigen Leben sein? Wenn ich mich genau prüfe, erkenne ich, dass ich hasse, verachte, verabscheue, vor Ekel erbebe - aber von Natur keine Skeptikerin bin. Es bleibt ein Glauben u. Vertrauen - nebst Gottesglauben - den ich nicht abschütteln kann. 450 Vielleicht, weil ich nicht in die Kategorie denkender Menschen gehöre, d.h., was ich genau weiss, weil ich keinen männlichen Geist habe. Irgendwo in einer Kiste habe ich die Schrift v. K B. Heinrich; finde ich sie einmal, sende ich sie Ihnen. Ob sie in der Fackel erwähnt wurde, dazu würde man den Index von Jaray benötigen. Vielleicht lebt H. noch in der Schweiz. Rodin. Gerne erinnere ich mich des Monats - gerade jetzt, vor 35 Jahren - in welchem ich täglich zwischen seinen Marmorwerken in seinem Atelier sass (es gab da unvergessliche Licht- u. Schatteneffekte im weissen Marmor von seiner Hand hervor gezaubert), während seine Schülerin (Rilke's Gattin) meine Büste machte u. er zusah u. kritisierte. Einmal sagte er: V e s t de la vraie sculpture". Seine Frau (sehr einfach) behandelte ihn voll Ehrfurcht. Als wir einmal zusammen ins Theater giengen, nahm sie sich einen Galleriesitz. - Haben Sie Michelangelo in Firenze gesehen? Über die Swz/fr-Biographie weiss ich nichts Näheres, Es war eine lange Erzählung über seine geheimnisvolle Heirat, zu der K.K. bemerkte: recht klein-bürgerlich. Auch ich bin ein Gegner von Biographieen u. Briefen, auch Memoiren interessieren mich selten. Baron Lempruch war ein höherer Offizier, dürfte schon tot sein. Ich weiss nicht, ob Ficker so ohne Weiteres den Brief abdrucken dürfte. Ich kenne mich in Gesetzen nie aus. "Ein grosser Kahn ist im Begriffe" [ . . ] ich habe es wieder nachgelesen. Ich weiss nicht, worüber sich die deutschen Kritiker lustig machten. Schermann. Ich kannte ihn nicht, bin aber immer misstrauisch geblieben. Trotz seiner unvorstellbaren Sehergabe. Man hörte Wunderdinge (später für Geld) von ihm. Ich weiss aber auch, dass er sich manchmal irrte. "Wahrsager" u. Propheten interessieren mich nicht. Frawr-Änderung. Sie verstehen nicht, warum die Stirne keck ist? Das ist doch ganz klar aus dem Folgenden. Ohne meine Zustimmung zu der Änderung. Warum die Haare in die Stirne gekämmt waren? Ich glaube: Kindheitserinnerung. Auch wir Kinder trugen die Haare so gekämmt, es war damals hier Mode. I have discussed the "nach rückwärts" problem with the family Turn. They say, that the rückwärts here with us has quite lost the impression of direction & without my mentioning 451 it, she said that your dislike may be rooted in thinking in the English idiom. To my feeling (of c. I may be all wrong & I dont want to convince you) it's so: Wir müssen zurücklaufen - we must run back " " nach rückwärts laufen, d.h. um uns hinter etwas zu stellen. Wir müssen rückwärts laufen - facing forward. Sieh nach rückwärts - look behind you Sieh rückwärts would mean: put your eyes on the back of the head, The "nach" implies turning one's head round. Of c. "hinten" can always replace rückwärts, but it does not sound nice. After the dear & touching paraphrasing of his four lines you own the importance of possessing Love, Hope, Faith & Courage. Are these the words of a sceptic? Ich möchte gerne ein Bild Ihres Hauses sehen. Und Ihres Zimmers. Es wird mir Mühe machen, Sie bald wo anders denken zu müssen. Bitte dann auch von dort ein Bild, sonst fühle ich mich so fremd. In einigen Tagen ist Fronleichnam. Die Prozession geht immer durch den Park, die Wege werden mit Schilf belegt. Im Park richte ich stets 2 blumengeschmückte Altäre her. Many Iris are in flower, but I have not the heart to cut them for vases. Paeonia are starting & "Jasmin". Chesnuts and [Viburnum]. A lovely sight in the setting sun[g]: a group of dark red Rhododendren before a back-ground of white Rhod. And a large group of yellow & orange coloured azaleas. And then again all shades of salmon - pink - red. Goodnight. Excuse the scribble, I 'm writing in bed, as I was tired after planting vegetables & watering them all day long. I'm always gardening till darkness compels me to return home for supper. And after I am too tired to write. Zigaretten gefällig? Ja bitte! I have not yet started 1916, as I'm often in Prague now, where a poor mother needs help & comfort, her son in prison. Ich hoffe, dass die Brief-Abschriften 1915 angekommen sind? Bin noch ohne Bestätigung. Hier ein Porträt von mir, [zum] Bild des Malers Prof. Svabinsky, der heute hier zu den gefeiertsten Malern gehört mit dem (ridiculous) Ehrentitel "Nationaler Künstler". Das Gewand wurde von ihm zusammengestellt. Ein mir unsympathisches Bild. Farben: Diwan 452 grün, Hintergrund rot, blaues Band bei weissem Flieder, braune Polster mit schwarzen [Spitzen]. Wegen weiterer Abschriften geht Brief erst heute, 27.5 . , ab. 24. Mai 1948 Ich öffne den Brief, um sogleich Ihren vom 17. - 18. zu beantworten. Ich bin beruhigt, dass die Brief-Abschriften eingetroffen sind, Wenn Sie aber noch einmal darauf bestehen werden, dass Ihre Briefe langweilig oder geschwätzig sind, so werde ich doch glauben müssen, that you are fishing compliments. Must I repeat: never too long for a thirsting soul, for a hungry heart?! Ich freue mich über das liebe gelbe Papier, und ausserdem: Sidi bittet um Sidi. - Nothing amuses me more, than when you start cursing. - Heute gönne ich mir einen Luxus. Mit dem Gefühl entschiedener Frivolität u. Pflichtvergessenheit: ich bin nach dem Lunch u. schwarzen Kaffee, ich sollte längst wieder im Garten sein, vielerlei Arbeiten warten auf mich, nützliche (Gemüse) u. solche, die der Schönheit dienen, also noch viel nützlichere, und Sonne u. blauer Himmel rufen mich hinaus. Aber - ich kann nicht anders u. erliege der Verlockung, Ihnen zu schreiben. Auch um ausnahmsweise Ihren Wunsch, die Nachtruhe mit Respekt zu behandeln, zu befolgen! Aber wie schade um die eine Seite Schreibzeit. Ich wiederhole: was ich mit meinem Herzen thue, ist immer erfrischend u. belebend und gehört zur höheren Kategorie Gesundheit. Außerdem: ich ignoriere seit jeher consequent - und mit Erfolg - Gesundheitsfragen, ich halte nie Mass, wenn ein inneres Diktat es anders will u. ich meide Pflichterfüllung, wenn sie nicht meiner Befriedigimg dient. Beispiel für Gesundheit: Unlängst am Weg zur Bahn (my car is taken & I must walk) kam ich in ein Gewitter, u. da ich nie einen Schirm habe, wurde ich buchstäblich bis auf die Haut nass. Ich sass im Zug in dampfenden Kleidern, unter mir bildete sich eine Wasserlache, u. im Zug war natürlich 453 Zugluft von allen offenen Fenstern, nach 2 St. in Prag waren meine Kleider noch nicht trocken. Aber nichts geschah. - Blumen: als ich einen Gärtner hatte, war jedes Zimmer voll Blumen u. rafinierter Farbenzusammenstellungen; das ganze Haus duftete, auch im Winter, da ich Glashäuser hatte (die von den Deutschen vollkommen zerstört wurden, ebenso wie die Wasserleitung für die Gartenspritze). Seit ich aber mir selbst Blumen ahschneiden soll, wehrt sich etwas in mir. Ich stehe mit der Gartenschere vor einer wundervollen Iris, vor einer glühenden Pfingstrose - und soll ihr ins Fleisch schneiden, um sie - für wen? für mich? - in die Vase zu stellen u. verwelken zu sehen? So egoistisch kann ich nicht sein. Dafür aber inconsequent: gälte es zu Ihrem Geburtstag - wann ist der? - Vasen mit Blumen zu füllen, keine Blüthe, u. sähe sie mich noch so flehend an, würde geschont werden! Ich weiss, perennials sind da, um geschnitten zu werden; ich aber lasse sie abblühen u. Samen streuen u. sich vermehren. Gehölze müssen geschnitten werden, um sich zu verjüngen. Ich schneide aber nur, wenn ich einen Zweck verfolge, also nach der Blüthe. Denn warum - für mich - das Leben der Blume verkürzen? Ich glaube, wenn Sie ganz allein wären, Sie würden sich auch keine Blumen schneiden. Man tut es nur für Andere. Insekten töten! Muss es sein? Ja, es muss! (Beethoven's letztes Quartett.) - Ein schwieriges Problem. Ich erinnere mich an K.K.: war eine Maus im Zimmer war er unglücklich. Aber eine Mausefalle aufzustellen war ebenso unerträglich. Befriedigt aber, war die Tat ohne sein Wissen, vollbracht. Einmal fieng sich eine lebend in die Falle, wir trugen sie in den Garten u. Hessen sie dort aus, in der Hoffnung, die Hausmaus würde sich zur Feldmaus verwandeln. Und damals, als ich die Höfe noch verpachtet hatte, interessierten uns Felder nicht!!! Bitte nichts erwidern. Ich weiss. - Ja, Chesterton hat Recht. Aber, ich weiss nicht, was der Mensch darf u. was er nicht darf. Ich weiss nur, er muss gut sein. Ich habe in Andrees Atlas nachgesehen, wie weit Kansas von Connecticut ist. Sehr weit! Wiesenblumen kann man immer pflücken, da sie doch - wenigstens hier - zum Tod durch die Sense verurtheilt sind, u. sie liegen dann so traurig da, bis sie vertrocknen u. als Heu den Kühen u. Pferden verabreicht werden. Jetzt in den Garten. Es will nicht regnen. D.h.: 50 - 60 Giesskannen, 100 m weit schleppen, damit die Gemüse nicht vertrocknen. 454 Trotz Blumen- u. Insektenmord, you always remain my very dear & very close friend. S. Will you see Dr. Samek on yr. way to Falls Village? If yes, bitte ihn von mir zu grüssen u. er soll nicht so schreibfaul sein u. endlich schreiben. Ich sehe K.K. vor mir, wie er mit rührender Geduld u. Mühe bei seinem täglichen Frühstück unter den Trauerweiden auf der Wiese am Teichesrand die ertrunkenen Bienen aus dem Honigglas zu retten versuchte. Wegen des Honigs fand ich ihn oft ganz umgeben von Bienen - aber er lächelte nachsichtig. 18. Juni 1948 Es ist mir, mein lieber, schweigender Freund, schon sehr bange nach einem Wort von Ihnen und ich fange an, besorgt zu sein. Aber ich sage mir, wahrscheinlich hängt das Schweigen mit Ihrer Übersiedlung zu den Wiesenblumen zusammen. Vielleicht haben Sie Dr. Samek gesehen? In einer veränderten, wenn auch bekannten Umgebung muss man sich oft erst wieder sammeln, die Balancierstange finden, die dem Seiltänzer das Gleichgewicht gibt. Dann aber, nicht wahr, werden Sie gleich schreiben? Ich bin jetzt oft in Prag, um den hiesigen unerträglichen Eindrücken zu entfliehen. Dort, wo man Niemand ist, entgeht man dem Podiumleben u. findet eher Ruhe. Aber das öftere Fernsein verzögert das Abschreiben; ich bin froh, Ihnen dennoch wieder einige Blätter senden zu können, bevor ich 10 Tage abwesend sein werde. Mit allen guten Wünschen grüsst innig Sidi Ich weiss, dass wir einander am 12. nahe waren. 455 My dear friend. I have just received yr. long letter, as usually enjoying each word. Langsam bekomme ich ein besseres Bild Ihrer sichtbaren und unsichtbaren Bilder. Ich freue mich auf die versprochenen Photographien. Wie entzückend ist die Berg- u. Wiesenlandschaft! Die kleinen Bilder habe ich mit Vergrösserungsglas studiert. Im Gegensatz zu Ihrem Klima war das ganze Frühjahr heiss u. regenlos mit wundervoller immerwährender Sonne, beklagt von den Landwirten. Heute regnet es zum ersten Mal ausgiebig. Die Wiesenblumen sind längst gemäht u. sonstige Stauden, wie Pfingstrosen verblüht. Jetzt ist der Rosenmonat. Wenn es nur nicht kalt bleibt. Ich hasse Kälte. Sidi lässt Ihnen sagen, Sie sollen nicht besorgt sein was ihre Haushaltung betrifft. Im Haus rührt sie nichts an, wird von einem Ehepaar bestens bedient. Die Haushälterin ist eine vortreffliche Köchin (Italienerin); she runs the house, u. S. ist froh, ihr alles überlassen zu können, denn sie hasst häusliche Dinge, hat von Aufräumen, Kochen us.w. keine Ahnung u. müsste, auf sich angewiesen, verhungern! Sie lebt hauptsächlich im Freien, wo sie freilich nur wenig Hilfe hat, aber sie liebt alles, was mit Erde zusammenhängt. Der Mann bedient bei Tisch u.s.w. Das Ehepaar sorgt für tadellose Reinheit, Sauberkeit u. Ordnung. Sameks langen Brief an Jaray habe ich schon vor längerer Zeit gelesen, ich weiss aber noch immer nicht, ob Jaray Samek als Erben einsetzte. Ich mache Schreibfehler? Wie schrecklich! Natürlich fluchen Sie. Jetzt wieder: Ist Sauwetter keine Blasphemie? (Schreibfehler?) Ich sende heute 2 Blätter, dann kommt eine längere Pause, weil ich auf 8-10 Tage zwei Schloss-Besuche vorhabe. Ich besuche Bekannte fast nie, aber seinesgleichen schliesst sich jetzt im immer enger werdenden Kreis mehr zusammen u. man ist froh, lokalen Sorgen u. Trübungen zu entgehen, umsomehr, wo überall staatliche Verwalter eingesetzt sind, also einem die gewohnte Beschäftigung u. Obhut genommen ist. Das wird bis zur Parcellierung (l.Okt.) dauern. Was dann, weiss niemand. Es folgen dann traurige Jahre: 1918 - 1921 u. das Abschreiben der Briefe wird mich von Neuem bedrücken u. mit Selbstvorwürfen beladen, aber es gehört zum Ganzen. Dank im Voraus für die Cigaretten. 456 Viele gute Wünsche für einen schönen, sonnenreichen Sommer mit Blumen u. Schmetterlingen. Einodis 2 1 . Juni 1948 While I am writing: a strange mingling of Smetanas czech dances at the wireless with a sweet song of my dear little canarybird (left to me by May-May. I personally feel so sorry for caged birds. But he seems very happy, poor darling.) Never heard of Willi Novak. 12. Juli 1948 My dear friend - 1 enclose again 5 pages. How I hate & despise myself at times! - Yr. dear letter, 23. June, reached me long ago & I want you to know & feel, that my thoughts & wishes shall be with you on the 2. of Aug. I hope that by now the rain has ceased & that many flowers shall fill your rooms. We have overtaken your rain; we have wet weather since a month & I too must heat the rooms. I am often in town, where life is less insupportable than here. I feel lonely when you keep silent. Mit allen Grüssen Sidi The cigarettes have not yet come, but I do not need them to think of you! 457 My friend - Two dear letters have remained unanswered (from the 8. & 20.), da ich jede freie Minute (nur nachts) zum Abschreiben benütze. Wieder sende ich einige Blätter (6), die wichtiger sind als was ich schreiben könnte, unruhig u. zerrissen wie ich bin. Ich möchte im Herbst auf einen Besuch nach England, - falls ich die Ausreisebewilligung erhalte. Of course I can always read your "scrawl", English or German. I was glad to get the snapshots & to see your intimate entourage, although of c. one gets only a faint idea of the picture. Tivi, the canary bird, returns your love. Number of your last commentary? VI. (8. 5.) As you see, very long ago! I hope that you shall make up. Vielleicht werden Sie Erschütterndes wieder durchlesen können, wenn Glücklicheres nachfolgt. It makes one feel relieved. I do not understand myself. Oft frage ich mich: war das wirklich ich? I am grateful to you for each kind word. I am glad to give you his letters, denn hier lernen Sie ihn kennen von einer ungeahnten Seite u. ganz persönlich. Ich glaube, nie gab es gefühltere Worte nie schönere Briefe. Hier liegt sein Herz offen, in seiner ganzen Grösse. Blutend und jubelnd. Vielleicht musste das so sein. Sidi wird nicht mehr kritisieren, hofft aber Kommentare zu erhalten. Vom Verzeihenden. Doch das darf sie ja nicht sagen. Ihr letzter Brief hat sie tief gerührt. - Mehr schreibe ich heute nicht. I feel tired & worried. Möge der Sommer schön für Sie sein. Dr. Turnovsky ist gerade hier auf seinen 14 tag. Urlaub. Nicht wahr, Sie werden bald wieder schreiben? S. 10. August 1948 Aus Briefen entnehme ich, dass An eine Heilige an Mechtild gerichtet ist. Hier 7 Blätter. Und viele, viele Grüsse. Sidi 17. August 1948 458 Dear, kind friend, Diesmal sind es 10 Blätter. Ich wollte nicht im Dunkeln stehen bleiben, sondern leichtere Regionen erreichen. - Gestern kamen Brief u. Bild. Auf diesem Schreibtisch also werden Ihre Gedichte niedergeschrieben u. Briefe mir gesandt. Und in diesem Stuhl entstehen Gedanken und Worte. I fear it may last still several months, before the projected visit can be realized, but there is nothing I long more for. I think of nothing else. But it is very difficult - some say impossible- to obtain. Yet - where there's a will there 's a way. Alas, your cig. have not yet arrived. Ich schliesse. Weil mein Kopf voll ist von Dingen, die nicht geschrieben werden können. Aber immer bleibt ein Raum frei für herzliches Denken an den bald einjährigen Freund. 30. August 1948 Wie traurig, dass wieder ein Sommer zu Ende ist. Wie gut, dass er vorbei ist - mit all seiner Qual, die auch der Herbst erwartet. Mit den folgenden 7 Jahren - wie unermesslich niederschmetternd, dass es nur mehr sieben sein sollten - wird es rascher gehen, denn die Briefe sind kürzer, weil es keine Kämpfe mehr gab, und seltener, weil wir uns viel häufiger sahen. Charlie war derart gebrochen während meiner damaligen Erkrankung, dass er ganz sein Herz gewann u. sie wurden die besten Freunde. Und Charlie wurde als erster abberufen. 11. September 1948 My friend - Die nächste Sendung wird die letzte sein. Ich habe auch scheinbar Belangloses abgeschrieben, aber ich weiss, dass jedes Wort, jeder Gedanke u. jeder Aufenthaltsort Ihnen wichtig sind. Wäre es auch im Gemüt so schön, wie es jetzt die Spät-Sommertage sind! - 459 Mit allen besten Grössen einem Schweigenden, der aber hoffentlich es nicht wegen Krankheit ist. S. Die Cigaretten sind leider nie angekommen. (7 Blätter) 13714. September 1948 Dem uns Unbekannten, dem Femen und dennoch Nächsten! Ich bin froh, das Werk vollendet zu haben. Aber zu traurig, um heute mehr schreiben zu können. Sidi Hie und da der Laut eines Käuzchens. Eine sehr stille, träumerische Mondnacht. All das Böse schweigt - aber bald kommt des Morgens Weckruf - und die Nacht versinkt und der Traum weicht dem langen, lügenerfüllten, schmerzenden Tag. Ich bin traurig, gütigster Freund, dass Sie keinen guten Sommer verbracht haben, da Sie so oft krank waren. Es gibt aber auch seelische Höllen, die aufreiben. - Seine Krankheit? Er war nicht gerade gewachsen, als Folge eines Falles als Baby hatte er eine Rückgratverkrümmung - die er sehr geschickt maskierte - und dies drückte auf das Herz u. Atmungsorgane u. verursachte allerlei Schmerzen. Es war das Herz, das versagte. Von einem Gehirn-Tumor oder Ähnlichem habe ich nie etwas gehört. Wenn er schrieb, sass er immer ganz gekrümmt da. Dieses sein körperliches Leiden machte ihn nur umso liebenswerter. Hätte er nicht diesen durch die nurse verursachten Unfall gehabt, wäre er gewiss gross gewachsen, denn an den 460 langen Beinen war zu ersehen, dass der Oberkörper zurückgeblieben war. Bitte adressieren Sie Ihre zukünftigen Briefe an Dr. Jan Turnovsky, auf dem Couvert schreiben Sie "for Sidi"; ich bin nämlich mehr in Prag als hier etc. Das Leben ist eine Qual. Ich komme hier nicht zur Ruhe. - Die Herbstfarbenglut im Park ist jetzt berauschend. Könnte man sie nur geniessen! - Trotz der Beendigung der Abschriften schreibe ich gerne weiter, aber ich glaube, ich habe eigentlich nichts mehr zu sagen, was Sie interessieren könnte, da alles schon gesagt ist. Das Schreiben liegt jetzt an Ihnen, und eventuelle Fragen. Aber vorerst müssen Sie wieder ganz gesund sein. Und Sie werden jetzt wieder malen? Oder dichten? Innig grüsst eine Zerrissene 6. Oktober 1948 15. November 1948 Der Brief, der die Nachricht brachte von Krankheit und Wiedergenesung des armen Freundes u. des Schutzengels, kam heute früh und erreichte mich an Ort u. Stelle, da ich gerade da war. Ich hoffe zu Gott, dass alles bald besser werden wird u. die geliebten Arbeiten wieder vorgenommen werden können. Auch dass ich bald hören werde, was Sie mir zu sagen haben oder mit mir besprechen wollen. Über das lange Schweigen fieng ich schon an sehr beunruhigt zu sein. Auch von Dr. Samek kam in diesen Tagen ein längerer Brief mit Durchschlägen vom Advokaten H. Fischers - alles entstellend - u. von Anfragen an den Schweiz. Anwalt, die unbeantwortet blieben, ebenso seine Richtigstellung an H. Fischer's Anwalt . Es bleibt alles unentwirrbar. Hier nichts Neues. Everything painful. Deshalb schliesse ich, da ich nur den Erhalt bestätigen wollte und sagen, wie betrübt ich bin, dass Sie gelitten haben u. dass sich das nicht wiederholen darf. Mit allen wärmsten Grüssen u. Gedanken Sidi 461 27. April 1949 Wenn die Gefragte getreulich immer dorthin geschrieben hätte, wo ihre oft sorgenden Gedanken waren, so wäre an den nie Verstossenen täglich ein Brief abgegangen. Wenn der stets Gegenwärtige dennoch eines Zeichens bedarf, wird er das Versäumte verstehen und verzeihen, bis sie aus grösserer Nähe, auf die sie seit Monaten wartet, ihm das lange Schweigen erklären können wird. Bis dahin muss er versichert sein, dass auch ohne Gruss nichts im Gefühl sie [ ] konnte dass am 28. April zwei Herzen vereint vor einem Altar knieen werden. Sie möchte aber, ganz leise vorwurfsvoll, erwähnen, daß nur ein kurzer Brief im Lauf des Winters sie in Prag, wo sie seit 4 Monaten lebt (ungeduldig u. sehnsuchtsvoll auf die täglich erhoffte und täglich enttäuschte Erfüllung ihres Begehrens wartend) erreichte, dass aber niemals die Fortsetzung von Aufzeichnungen, durch Sommer und Krankheit unterbrochen, Trost und Freude in das Dunkel u. in die Einsamkeit ihrer Tage brachten. Sie hatte nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu geben, er aber noch vieles. Und dennoch schwieg er. Wer also ist "verstoßen"? Dass weder er noch sie, weiss, mit traurigen Grüssen, Einodis Am Tage vor der Geburt, als das Wort noch nicht war und die Welt arm und leer. 15.Juni 1949 My friend - Das tiefe Gefühl in jedem Ihrer Worte, die gerade am Tag vor dem allertraurigsten mich erreichten, gab ihm Weihe. Ich wusste: wir zwei allein erleben von Jahr zu Jahr in steigendem Maass diese furchtbare Verlassenheit in einer Welt, die immer 462 qualvoller wird. Ich war so dankbar für Ihren Brief, für Ihr ganzes Herz. Nie kann es genug Liebe für ihn geben. Der Sonntag war dadurch, dass es ohne Unterbrechung regnete, von grenzenloser Melancholie, die ganze Natur schien zu trauern. Die Welt war nicht da, nur sie und wir und sein Grab. - Zu Ihrem lieben Brief vom 4. Mai kann ich nur Ihren Satz anführen: zwischen Freunden sollten Aufklärungen u. Erklärungen nicht nötig sein. Seit Monaten lebe ich so zerrüttet und konnte einfach nicht schreiben. Aber die Erinnerung an den 1. Dezember rührte mich tief. Was Mechtild betrifft, ist es ihre Art, monatelang nicht zu schreiben, gewiss hat sie nichts verletzt, sie erwähnte einmal dankbar Ihre Briefe. Auch ihr habe ich seit dem vorigen Jahr nicht geschrieben, denn ich dachte im Jänner bei ihr zu sein. Nun wird es erst im Juli sein. Wie sehne ich mich danach. Ich bin glücklich, dass es Ihnen nach dem harten Winter besser geht u. hoffe, dass Sie einen schönen Sommer haben werden. So bald ich ihn haben werde, schreibe ich ausführlich. Dann wird alle Unruhe gewichen sein. Beiliegende 2 Ausschnitte bitte an Dr. Samek weiterzusenden. Aber Sie scheinen besser informiert zu sein als ich. "Der Fischer mit seiner Kann" - das klingt herrlich! Ich weiss nicht, wer Haiti . . . . ist, wenn ich auch ohne weiteres überzeugt bin, dass nur ein Schwachkopf ein Anhänger der Kann sein kann. In der "Gedenkfeier" im Rathaus entdecke ich soeben den Namen Harth Was ist das ein Malerdichter?? Sehr gut gefällt mir auch "Illustrierte Gedenktage"! Es ist 2 U. geworden (nachts natürlich). Aber ich wollte, dass Sie nicht wieder ohne Nachricht bleiben, wenn auch aus einer nightmare. Mit allen Wünschen Sidi Am Tag, als ihn die Erde aufnahm. 463 My dear friend, at last I have succeeded to cross the frontier, this day a week ago, & words cannot express what joy it is t of feel free, free since 11 years of captivity, free to speak how I like & what I like, free of fear to be put into prison at any moment. The world may be rotten, but to me, after all these years of misery, surrounded by crimes & lies, it seems at the present moment paradise. I feel reborn & as if I had wings. I dont remember when last I felt so happy. He who has not experienced the methods of com[m]unists & nazi-imitators, can scarcely understand how unendurable life can be & how deeply one suffers. Ich hatte ganz vergessen, wie schön die Welt ist, ich war blind geworden für die Schönheit einer Blume, taub für den Zauber eines Vogellauts, nirgends gab es Freude mehr. Wie bin ich offen jetzt für Gottes Wunder! Nie noch gab es eine so berauschende Mondnacht als jene vor 8 Tagen, in der ich schnurstracks über Acker- u. Kartoffelfelder eilend, mit dem "Halt"-Ruf eines Grenzpolizisten hinter mir, das erste deutsche Dorf erreichte u. auf mondbeleuchteter Strasse keiner menschlichen Seele begegnend, umgeben von tiefster nächtlicher Stille, warm u. mild die Luft, durch märchengleichem Wald unter Sternen das Ziel erreichte: eine kleine bayrische Stadt (nach 2 Stunden). Ich hätte die Tafel umarmen wollen, auf der ich endlich in grossen Lettern ihren Namen las. Wie im Traum gieng ich langsam durch die im Silberlicht malerischen Strassen, tief u. berauscht einathmend die reine Luft der Befreiung, hätte jedes Haus streicheln mögen. Als ich vor dem Dom stand, schlug es Mittemacht. Lange blickte ich aus dem Hotelfenster auf die schlafende Stadt u. konnte mein Glück nicht fassen. Und am Morgen weckten mich Kirchenglocken, es war Sonntag, festlich u. bunt gekleidete Menschen eilten in den Dom, gebannt sah ich dem Treiben zu, als hätte ich solches noch nie gesehen. 5 Tage verbrachte ich dann auf einer auf einem Hügel stehenden Burg, die ganze liebliche Landschaft beherrschend, bei Bekannten, lag in der Sonne auf Wiesen u. alles in mir war Friede, jeder Nerv war entspannt, eine wundervolle Ruhe kam über mich, weit hinter mir lagen die Monate des Wartens auf einen Reisepass, den ich nie erhielt. Dann fuhr ich weiter, zuletzt den Rhein entlang, der mir schöner u. eindrucksvoller als je zuvor erschien (selbst an der sogenannten "Lorelei" hieng mein Auge mit Entzücken) u. bin nun hier bei Bekannten u. bringe meine Papiere in Ordnung u. fahre dann weiter nach England. Heute gieng ich 3 Stunden am Rhein entlang, alle Arten u. Grössen von Schiffen glitten über das 464 My dear friend, at last I have succeeded to cross the frontier, this day a week ago, & words cannot express what joy it is t of feel free, free since 11 years of captivity, free to speak how I like & what I like, free of fear to be put into prison at any moment. The world may be rotten, but to me, after all these years of misery, surrounded by crimes & lies, it seems at the present moment paradise. I feel reborn & as if I had wings. I dont remember when last I felt so happy. He who has not experienced the methods of com[m]unists & nazi-imitators, can scarcely understand how unendurable life can be & how deeply one suffers. Ich hatte ganz vergessen, wie schön die Welt ist, ich war blind geworden für die Schönheit einer Blume, taub für den Zauber eines Vogellauts, nirgends gab es Freude mehr. Wie bin ich offen jetzt für Gottes Wunder! Nie noch gab es eine so berauschende Mondnacht als jene vor 8 Tagen, in der ich schnurstracks über Acker- u. Kartoffelfelder eilend, mit dem "HaltM-Ruf eines Grenzpolizisten hinter mir, das erste deutsche Dorf erreichte u. auf mondbeleuchteter Strasse keiner menschlichen Seele begegnend, umgeben von tiefster nächtlicher Stille, warm u. mild die Luft, durch märchengleichem Wald unter Sternen das Ziel erreichte: eine kleine bayrische Stadt (nach 2 Stunden). Ich hätte die Tafel umarmen wollen, auf der ich endlich in grossen Lettern ihren Namen las. Wie im Traum gieng ich langsam durch die im Silberlicht malerischen Strassen, tief u. berauscht einathmend die reine Luft der Befreiung, hätte jedes Haus streicheln mögen. Als ich vor dem Dom stand, schlug es Mitternacht. Lange blickte ich aus dem Hotelfenster auf die schlafende Stadt u. konnte mein Glück nicht fassen. Und am Morgen weckten mich Kirchenglocken, es war Sonntag, festlich u. bunt gekleidete Menschen eilten in den Dom, gebannt sah ich dem Treiben zu, als hätte ich solches noch nie gesehen. 5 Tage verbrachte ich dann auf einer auf einem Hügel stehenden Burg, die ganze liebliche Landschaft beherrschend, bei Bekannten, lag in der Sonne auf Wiesen u. alles in mir war Friede, jeder Nerv war entspannt, eine wundervolle Ruhe kam über mich, weit hinter mir lagen die Monate des Wartens auf einen Reisepass, den ich nie erhielt. Dann fuhr ich weiter, zuletzt den Rhein entlang, der mir schöner u. eindrucksvoller als je zuvor erschien (selbst an der sogenannten "Lorelei" hieng mein Auge mit Entzücken) u. bin nun hier bei Bekannten u. bringe meine Papiere in Ordnung u. fahre dann weiter nach England. Heute gieng ich 3 Stunden am Rhein entlang, alle Arten u. Grössen von Schiffen glitten über das 464 Bekannten u. bringe meine Papiere in Ordnung u. fahre dann weiter nach England. Heute gieng ich 3 Stunden am Rhein entlang, alle Arten u. Grössen von Schiffen glitten über das Wasser, im schönen Bad Godesberg stand ich vor dem Haus, wo Hitler u. Chamberlain sich begegneten (jetzt prunkvoll hergerichtet für den französ. hohen Commis.) Vorläufig kann ich Ihnen keine Adresse geben, u. ich werde später ausführlicher schreiben, wollte nur, dass Sie bald von meiner Errettung erfahren u. vor Allem Sie bitten, diese Zeilen gleich dem lieben Dr. Samek weiterzusenden, weil ich weiss, wie besorgt er meinetwegen war (was mich tief rührte), ich kann ihm leider nicht direkt schreiben, da ich vorläufig mein Adressenbuch nicht bei mir habe, Ihre Adresse aber habe ich in Erinnerung. Er muss auch wissen, dass Frau Anni noch nichts von meiner Flucht weiss, sie glaubt, ich sei "legal" abgereist, u. es ist besser wenn vorerst in meinem Heim dieser Glaube erhalten bleibt. Wegen eventueller späterer Nachforschungen. Er soll mich Niemandem gegenüber erwähnen, mein Name bleibe ausgelöscht. S. My dear friend, What can be the reason of your long silence? Did you not get my happy letter, telling you that I have escaped, & how successful I was & how I am enjoying my new life? Everything appears new to me, as had I never seen it before, having been 12 years cut off from the world. I feel as were I a child again, trying its first steps. I was a month in Bonn & Holland with friends, they brought me in their car from Bonn first to Holland and then to the boat in Hoek v. Holland. I am here now since a fortnight, have found a charming room, shall stay all Nov. & then go to Eire (Ct. Cork, seaside!) to my new provincial home. Do write at once! His picture is before me on my table - Sidi 20. Oktober 1949 465 I suppose you heard that Helene Kann died a month ago in Switzerland quite suddenly (heart-stroke). Mechtild says: "Der Teufel hat sie geholt". Mechtild promised to write to you. Of c. she was only pleased & never hurt - with your letters. I see her nearly daily. Could you not help her in the literary-world? They are so strange here, treating her as were she an unknown writer without importance & refusing continually whatever she sends them, although they are most delightful things. It's strange what rubbish they are reading here. The niveau of the newspapers is shocking, has got much worse - as Mecht. says - since the labour-government. I cannot wonder enough [with] what relish people are reading, day for day, the many kinds of sensational detective papers. Do help M , she needs & deserves help, she is financielly very badly of[f]. And such a rare & wonderful person; her room, in midst of all a city's confusion, is a sanctuary to me, filled with a spiritual atmosphere, which cannot be explained only felt. It brings peace & joy to my soul. She keeps writing continually & is full of inner life. 38, Victoria Road, London W.8. 23. Oktober 1949 My friend - Gottlob, Sie sind gesund. Ihr Brief an Mechtild liegt vor mir. Er beantwortet auch meine Bitte, ihr zu helfen. Ein so hoher, seltener Mensch - und oft so arm: Gestern rief sie mich an, nur, wie sie sagte, um meine Stimme zu hören, obzwar ich fast täglich bei ihr bin. Und icn bin glücklich, wenn ihr unauslöschbarer Humor siegt und ich sie lachen höre. Sie sagt, sie kann nie lachen, nur mit mir. Weil wir einander so nahe sind, uns ganz gehen lassen können und lachen - wie Kinder - über die dümmsten Sachen. Sie erzählt so köstlich, dass ich keinen grösseren Genuss weiss, als ihr zuzuhören, nach jedem Besuch verlasse ich sie erfrischt und lebendig, und mit einem geborgten MS. Unverständlich, dass die Verleger für solche Geistesnahrung zum Heil der Menschheit kein Verständnis haben. Aber fiir Rilke! Und hier möchte ich Sie um Ihren Rat fragen: ich bin ein armer (selbst erwählter) Flüchtling 466 und besitze 187 Briefe von R.M.R. Was tut man da? Ich glaube, man nützt den Augenblick aus, so lange er en vogue = modern ist. Das dauert vielleicht nicht lange, u. vielleicht werden dann wieder die Stimmen von K.K. u. M.L. zu hören sein. Brauchte ich nicht Geld, würde es mir nicht einfallen, private Briefe der öffentlichteit zu übergeben. Seine Briefe aber gehören, wie er selbst in seinem letzten Willen betonte, zu einem Teil seines Schaffens, sind also mehr an die Welt als an eine bestimmte Person gerichtet, wenn auch viel Persönliches, d.h. über meine Person, darin ist. Die wenigen Menschen, die ich hier kenne u. die ich befragte, meinen, ich sollte sie einem hiesigen Verleger übergeben (nebst einem längeren handschriftlichen Essay, das R. mir schenkte) - ich kenne einen solicitor hier (aus Deutschland emigrierter Jude), der alles Geschäftliche durchführen würde - u. dann die Briefe Autographen-Sammlern verkaufen. Man nannte mir einen Prof. Dr. Richard v. Mises in Cambridge, Mass., U.S.A. der hohe Preise für alles Handschriftliche von R.bezahlt (das er dann eventuel auf eigene Faust drucken lässt). In Europa darf vor 30 Jahren nach dem Tod des Verfassers nichts ohne Einwilligung der Erben - die einen Prozentsatz erhalten - gedruckt werden. Ist es wahr, dass in U.S.A. Copyright in dieser Beziehung nicht geschützt ist, dass also ein Verleger in U.S.A. ohne Befragen der Erben die Briefe drucken lassen könnte? Und der Käufer der MS ohne mich zu befragen die Briefe veröffentlichen könnte? Es daher gefährlich wäre, Abschriften zu senden, wie ich es ja tun müsste, soll der Käufer beurteilen, was er für sie zahlen würde. Ebenso gewagt dann auch, einem Verleger in U.S.A. Abschriften zu senden. (Hier würde eine mir bekannte verlässliche Frau die Briefe in der Kanzlei des Verlegers auf seine Kosten abtypen, so dass kein Durchschlag in fremde Hände fallen könnte.) Wahrscheinlich zahlt ein Autographen-Sammler für unveröffentlichte Briefe mehr als für schon publizierte, aber dennoch zahlt es sich vielleicht aus, zuerst drucken lassen u. dann die Handschrift verkaufen. - Was also ist Ihre Meinung? Bitte antworten Sie mir gleich. Denn ich möchte diese Angelegenheit vor meiner Abreise nach Irland ([a]nf. Dez.) erledigen. Ich weiss einen Verleger hier (Secker u. Warburg), der grosses Interesse für die Briefe hat, obzwar er sie nicht kennt, u. zweifelsohne würden verschiedene Verleger, die mir genannt wurden, auf sie fliegen. Wahrscheinlich auch in U.S.A. (wo ja eine Bezahlung in [d]ollars angenehm wäre) u. in der Schweiz. Aber par distance ist das schwieriger. Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie mit einer contre-coeur Sache belästige. 467 Mecht. hat sich sehr über Ihren Brief gefreut. Sie sagt, sonst erhält sie immer nur unangenehme Briefe. Ich bin in bester Stimmung, weit hinter mir liegt das Verlassene - ich zwinge mich, nicht daran zu denken - bin nur so weit hingehörig, als dass das hiesige Czech Refugee Trust Fund mir wöchentlich 3£ auszahlt, eine angenehme Hilfe. - Sonst lebe ich sehr sparsam, kann in meinem reizenden Zimmer (in bester Lage - still u. doch im Herzen d.Stadt) mir Ma[h]lzeiten kochen, freilich nur einfache, da ich ohne Kochkenntnisse bin - die Mecht. reichlich besitzt. Alles Liebe Sidi My dear friend, I have received both your letters, logically explaining yr. silence (in the 1. one). By-the-by, even if creature were "Kreatur", I'd feel quite flattered. But I'm troubled that you are contemplating an operation. Must it really be? You say I'm courageous, but I'd never have the courage to submit my body to the knife of a surgeon.- I'm in the best of spirits. Gleichzeitig mit der lästigen Staatsbürgerschaft habe ich alles was bedrückt, wie Sorgen, Pflicht, Verantwortung abgeschüttelt u. stehe da, wie ein neugeborenes Kind. Are you shocked? Eine ungewohnte (innere) Frivolitat=Leichtsinn ist über mich gekommen. Obzwar meine Zukunft nun ungeklärt u. dunkel ist, sie lässt mich ganz unbekümmert. Ich verliere mein Vertrauen nicht in meinen Schutzengel. Ich merke jetzt, wie Besitz tyrannisiert. Aber der Tyrannei der Cigaretten kann ich mich nicht entziehen - trotz Armuth. Und dennoch - ich muss leider auf den lieben Gedanken einer Zigaretten-Sendung u. auch eines "Care"-Pakets verzichten: 1.) duty f. Zigaretten immens (3£ 3sh. 6p. für 400!), mehr als wenn ich mir die billigsten kaufe, 2.) Ein Care-Packet braucht 4 Wochen anzukommen, u. am 15. Dez. fahre ich nach Eire. Dort werde ich keines benöthigen, denn dort erhält man alles u. ausserdem werde ich in Kost bei Freunden sein (Bruder von Gillian Lobkowicz. May-May's Familie lebt nicht mehr) - Sie haben einen Landsitz bei Cork, ich kenne den Ort, landschaftlich herrlich. Ich werde mich in Eire erkundigen wie es dort mit Zoll für Zigaretten aussieht. - 468 Die Briefe - wie bin ich Ihnen dankbar für Ihr Verständnis Bitte, glauben Sie, Sie "wagen sich nie zu weit hervor". Ich weiss, das Fragen ist manchmal schwerer - bedarf mehr Überwindung - als das Antworten. Mir geht es genau so. Es macht mich froh, dass die Briefe uns einander nicht, wie ich anfangs befürchtet hatte, entfernen, sondern näher bringen. Und auch, dass sie Ihnen eine Hilfe zu noch besserem Verständnis seines Werkes sind. Ich war jetzt eine Woche in Kent zu Besuch, kehre morgen nach London zurück. Freue mich schon auf Mechtild. Die Aufrichtigkeit ihrer jedesmaligen Freude, mich zu sehen, rührt mich. Gleich beim Kommen muss ich sie beruhigen, dass ich nicht forteilen werde, denn es gibt immer so Vieles, was sie mir sagen will. Und ich liebe ihr zuzuhören. Sie erfüllt alles mit Leben. Wie schade, dass Sie nicht eintreten können zu uns in ihr Zimmer, das - für mich - mehr Licht ausstrahlt als ganz London. Sie vor Allem hält mich dort zurück. Aber ausserdem habe ich ein sehr angenehmes Zimmer gefunden, bei dem Kensington-Garten. In der nächsten Strasse wohnt Mary Dobrzensky, die ich auch oft sehe. Es sind gerade 2 Monate, dass ich die Grenze überschritt, u. habe seither nichts gehört, was zu hause geschieht. Man kann sich nicht schreiben, da ich illegal gegangen bin, u. kann nur durch Diplomaten etwas erfahren. Es ist schön hier. Gestern sind wir lange entlang des Meeres gefahren. Gute Nacht und alles Liebe u. Gute. Und bitte bald schreiben und sagen, dass es Ihnen wieder gut geht u. dass es doch nicht zur Operation kommen muss. Ich habe gleich Dr.Samek geschrieben, aber seltsamerweise hat er nicht geantwortet. Sidi 38 Victoria Road, London W 8 13. November 1949 469 My dear, faithful friend, That you have not forgotten the coming birthday touches me & I thank you deeply for the kind wishes - the only ones I shall get. Is it not strange to think, that very likely you - although we have never seen each other from face to face- shall be the only person to remember the day? It shall be nice to know your thoughts with me. I spent my last birthday & the following year in misery & suspense, but this one greets me in happiness, I scarcely know why London has this time such a charm for me; I love to wander through its parks, to watch its traffic, to see the many coloured dazzling lights when the streets grow silent at night. -1 have been staying now a few days with people, who only live for the beauty of their garden & had tea at the [Vansittarts] (I suppose you know Lord Vansittarts books) in Denham. - Should I not like Eire, 3 families already have offered me in the kindest way their houses a future home. They all say: "you are just the person we should love to have always around us". I'm not sure, if I should like them always to be around me - 1 cling to hours of solitude -, but their places are lovely, their houses warm & comfortable. Anyhow, in all of them, I get my breakfast - a very rich one served in bed, never get up before 11 & never show myself before lunch. In the afternoon I helped gardening, what I love to do. But that wont interest you. Something else: Interessiert es Sie - oder wissen Sie, wen es interessieren würde - etwa 20 Briefe von Karl Kraus zu erwerben? Eher trockenen, sachlichen Inhalts. Aber doch er. Zu meinem Schmerz - weil lieblos - verkauft sie Gfin. Mary Dobrzensky. Mir ganz unverständlich. Er war öfters bei ihr in Pottenstein - er liebte dort den Adlerfluss u. die Landschaft u. das Schwimmen. Natürlich wäre ich froh, die Briefe in liebevolle Hände zu retten, ich weiss aber nichts über den Preis u.s.w. Falls Sie Interesse haben - oder Interessenten wissen - u. Abschriften sehen möchten, wenden Sie sich an Frau Edith Mendelssohn Bartholdy (ihr verstorbener Mann war der Enkel von Felix), 48 Brook Street, London, W.l. Sie vermittelt den Verkauf. Übrigens ein ernster sehr sympathischer Mensch, nach grossem Reichtum heute sehr arm. 470 It is nearly springlike today. I believe I told you that I am not leaving before Dec. 15. - 1 like my little room, in wich I am quite independent. But on the other hand, Christmas would be dreary here. Goodnight & thanks. Sidi 22. November 1949 Ich verstehe nicht, dass Dr. Samek mir überhaupt noch nicht geschrieben hat. My friend - How sad the news - 1 am in thoughts with you. Es war ein sorgenvolles, schweres Jahr für Sie, möge das neue glückbringend sein. Sie haben einen Schutzengel, er wird Sie gewiss zu Weihnachten mit Liebe umgeben. Von Mechtild Grüsse u. warme Teilnahme. Sie ist so dankbar, dass Pakete (?) unterwegs. Ich bleibe bis Mitte Januar hier. In Gedanken und mit Wünschen bei Ihnen Sidi 5. Dezember 1949 i 471 Dear friend, Please could you let me know possibly soon, if K.K. published in the Fackel in March or April 1914 an essay from Rilke "Über den jungen Dichter", as I see in one of R/s letters, that K.K. had half & half agreed to do so, I think on April 1, 1914. It would interest me for various reasons, too long to explain. My address from Dec. 20. shall be: 1, Stanford Road, Kensington Court, W.8. - Wishes & thoughts with you. Sidi 15. Dezember 1949 My dear friend In a great hurry just only to thank you for both your dear letters (I will give Mecht. your message), & to inform you 1.) My address remains 38, Victoria Rd., W.8 till my departure for Eire (last days of this month). 2.) I have sold my Rilke-letters to the Rilke-Archive at the Yale-university, U.S.A. Thanks for information, that R/s essay did not appear in the Fackel. According to a letter from R., K.K. had mentioned the possibility of publ. it on the 1. of April, I therefore was not certain, but thought it improbable. Kindest thoughts and wishes Sidi 5. Januar 1950 472 20. Januar 1950 Thanks for dear letter, thinking of you so often in your sorrow & loneliness. - From the 1. of February my address shall be: Drishane House, Skibbereen Co. Cork Eire. Shall write from there, till established. May return here in the spring to enjoy english country-life, as I have got many most warm & cordial invitations. - I have been very active these months here, always seeing something new, creations of God & mankind in nature & art.- not allowing myself to think & remember & hiding into the remotest corner of my heart & longing. . . . Hoping to continue my intoxication at the irish sea-side, where, as I remember, there is great beauty. Love from Sidi My dear friend, I know that you shall be pleased to hear that I am very happy here. It is a heavenly spot. Sea & beautiful landscape & every possible comfort with kind hosts. Rich southern vegetation. - Please write & tell me what the doctors decided; I do hope that the operation shall not be necessary. I was sorry to leave Mechtild, her life is very lonely & she would deserve true happiness. It saddens her too to be separated from her children & her work so hopeless. But she keeps her sense of humour & we had many a laugh. - Please let me hear from you. While I write, his picture is before me -1 gaze-at it with infinite longing. - Sidi Drishane House, Skibbereen, Co.Cork 8. Februar 1950 Eire 473 Mein lieber Freund, Es hat mich sehr beruhigt, dass nicht operiert werden muss. Und hoffentlich bleibt es dabei. Ich musste lachen über Ihren Ausdruck "Flegel" für Samek! Das ist er wirklich nicht. Er ist nur in sehr gedrückter Stimmung (Erkrankungen im Freundeskreis, wirtschaftliche Sorgen, Weltlage). Ich glaube, an [fond], weil er sich als "displaced person" fühlt, er ist doch eigentlich entwurzelt. Auch ich bin es, aber die Neuigkeit dieses Zustands hat vorläufig noch die Kraft, mein Interesse an solchem u. an dieser Art Neugeburt oder - um ein Wort zu prägen - "Altgeburt" wachzuhalten und kein Gefühl der Miss[-]Stimmung aufkommen zu lassen. Jahrelang wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse lebend, strecke ich jetzt meine Fühler in die Welt-Atmosphäre, vorsichtig, da erfahren, u. ziehe sie blitzartig ein, wenn ich Gefahr für mein Gleichgewicht wittre. Man ist so beschäftigt mit dem Erlebnis, seinem Leben eine neue Richtung geben zu müssen, in neuer Umgebung unter fremden Menschen, von denen kein einziger etwas von meinem vergangenen Leben weiss - das ich versiegelt habe - kommt man sich wie ein Abenteurer vor, der dem Leben noch einen Inhalt abringen will. "Ich lasse dich nicht, du segnetest mich denn". Man ist mit Vorbedacht, mit Absicht, Hochstapler an sich selbst als Rezept für Selbstrettung. Mit Sentimentalitäten, wie "Heimweh" - ich habe eine Abneigung gegen dieses, jetzt so oft gehörte Wort unter meinen "Kollegen" - lasse ich mich nicht ein. Heimatlos bin ich, seit er uns verliess. Alles andere war dann nur eine Schale. Vieles, was ich liebte, vieles, was mir teuer ist, Hess ich zurück; aber es war in letzter Zeit von solcher Pest umgeben, dass das Glück, ihr entronnen zu sein zwar den Schmerz des Verlusts nicht aufhebt, aber keine Sehnsucht aufkommen lässt, dorthin zurückzukehren. Zu gross war die Pein. Und seit ich das Land, das mir ein Grauen geworden war, verlassen habe, ist es mir, als geleitete mich ein Schutzengel. Denn ich habe nur Gutes, Schönes, Beglückendes erlebt. Ich war wie verdurstet, verhungert, fast gierig folgte ich jeder Verlockung. Natur schien mir ein Wunder, als wäre ich wieder ein Kind und alles, was London zu bieten hat an Kunstwerken, in Architektur u. Bildern vergangener Jahrhunderte u. alle Mannigfaltigktit seiner Kontraste waren mir eine tägliche Freude. Und ich fand so viele 474 gute Menschen. Und wie herrlich ist dieses Irland, Küste u. Landschaft traumhaft schön, ich kann mich nicht satt sehen. Dabei lebe ich so angenehm u. tue eigentlich nur, was mich freut. - Aber ich bin von Dr.Samek abgekommen. Ich wollte sagen, dass er ein rührender Mensch ist u. immer fragt er, womit er mir Freude machen könnte. Unlängst kam wieder ein lieber Brief ("wieder" bezieht sich auf "lieb", nicht auf Brief, denn Briefe kommen selten, aber er hat nun einmal eine Abneigung gegen Schreiben). Der Tod Helene Kanns hat seinen Entschluss, den schweizer Verlag zu klagen, wankend gemacht; denn er müsste ihr ganzes Lügengewebe aufdecken. Ich gab ihm Recht u. rieth ihm, keinen Prozess zu fuhren, denn es ist peinlich, eine Tote, also Wehrlose anzuklagen. Und sie kann ja keinen Schaden mehr anrichten. Es wäre so gut, wenn er für K.K. Bücher in U.S.A. einen Verleger fände. Er sagt, er habe keinen. Hätte wirklich keiner Interesse? Ferner bittet er mich, falls ich meine K.K. Briefe hier habe, ihm Abschriften von Stellen zu senden, die über seine Gedichte oder Werke handeln. "Sollte ich je in die Lage kommen, etwas zu veröffentlichen, dürften diese Dokumente für mich von Wichtigkeit und Vorteil sein". Ich antwortete, dass ich alles K.K. Betreffende in einem Koffer bei Dr.Turnowsky in Prag zurückliess, denn ich hatte nicht die Möglichkeit, mehr als das Dringendste (Bekleidung) durch Gefälligkeit von Diplomaten über die Grenze zu bekommen. Dass ich aber Ihnen vor längerer Zeit eben diese Stellen abgeschrieben u. eingesendet habe. Natürlich erwähnte ich nicht, dass Sie alles haben. Wie Sie wissen, dürfte es nicht so leicht sein, das Richtige für ihn zu finden, aber gerne würde ich ihm die Freude machen. Fände sich etwas? Er schreibt auch, er hätte jetzt alle Photographien, die sich auf K. K. beziehen, in einem Album vereinigt, "darunter die der Wohnung, Janovice, Purkersdorf u.s.w. und wenn Sie mir die Freude machen wollten, mir ein früheres Bild von Ihnen zu schicken, würde ich es auch in das Album geben. Ich glaube, Sie sind die einzige, die hineingehört." Ich habe ein Bild geschickt. Er hat mir jetzt, auf meine Bitte, die N.YJ/eraW Tribune abonniert, denn dieses Blatt bringt am Häufigsten Nachrichten über Vorgänge in der Tschechoslov. Er schreibt, er sei ausserstande, "stimulus zur Arbeit zu finden." Also sehen sie ein, dass er kein Flegel ist?! Für die Rilke-Briefe bekam ich 450£ (engl.Pfund). Ausserdem wurde die Vermittlerin (eine Freundin von Mecht;) u. ihre Arbeit des Abschreibens bezahlt (Betrag mir unbekannt). Samek erwähnt auch, dass Liegler gestorben sei - . 475 Mecht/s Buch habe ich zwar durchgeblättert, aber nicht gelesen, denn sie hatte nur wenige Exemplare u. ich wollte ihr keines nehmen, hatte es gleich in Wien bestellt, aber noch nicht erhalten. Ihre kritischen Bedenken würden mich interessieren. Würde sie natürlich ihr gegenüber nicht äussern. Ich fürchte, dass es wieder ein Buch ist, wofür das Publikum kein Interesse haben wird, so spannend und interessant, willkommen und notwendig es auch ist (wahrscheinlich nur für unsereiner!) Ich sende Ihnen beilieg., vor wenigen Tagen erhaltenes Gedicht von ihr. Oder haben Sie es auch erhalten? Bitte es ihr gegenüber nicht zu erwähnen, falls sie es nicht getan hat. Bitte retour. Bitte um baldige Nachricht. Insbesondere was Sie über Abschriften aus K.K. Briefen für Samek denken. Mit allen Wünschen und herzlichst Sidi Wie gut, dass man sich endlich "frei" schreiben kann. Und wie gut, dass ich in Sicherheit bin. Habe jetzt erfahren, dass ich rechtzeitig entfloh, man wollte mich einsperren, hat alles beschlagnahmt wegen "politischer Unzuverlässigkeit" (in meiner Abwesenheit!) u. nicht wegen illegaler Ausreise, denn dies ist noch nicht bekannt, da ich um einen Pass angesucht hatte, man also glaubt, ich hätte ihn erhalten. Alles toll und dieses neue Beispiel vollkommener Willkür u. Gesetzlosigkeit bezeichnend. Da ein Zeugnis der Polizei meiner politischen Verlässlichkeit vorliegt, hat mein General-Bevollmächtigter dort gegen die Konfiskation protestiert. Die Antwort in solchen Fällen ist: "Volkswille." Drishane House 27. Februar 1950 Skibbereen Co. Cork, Eire Die Bevölkerung hier ist röm. katholisch und fromm. Unt. and. blüht jetzt Mimosa, die ich liebe. Die Vegetation hier ist ganz tropisch u. vielfältig. Es friert hier nie. 476 Mecht. kann nicht in Deutschland veröffentlichen, weil sie von dort kein Geld - das sie benötigt - bekäme. U. in engl, ist es aussichtslos, denn Sie haben recht: es wurde mir mehrmals bestätigt, dass ihr englisch immer wie eine Übersetzung klingt. Drishane House, Skibbereen, Co. Cork, Eire 12./13. April 1950 Mein lieber, edler Freund, Ich war traurig, durch Ihren lieben Brief vom 10. März zu erfahren, dass Sie wieder leidend sind u. dass auch Ihre armen Augen, mit deren Hilfe so viel Schönes entstanden ist u. hoffentlich noch entstehen wird, angegriffen sind. (Mittler hat an Freunde begeistert von Ihren Ventures in Verse berichtet.) Ich hoffe von Herzen, dass sich inzwischen alles gebessert hat. In der K.K.-Angelegenheit, die dem armen rührenden Samek so viele Sorgen macht, habe ich Mecht. L. gebeten, einen letzten Versöhnungsversuch mit neuen Vorschlägen bei H. Fischer zu versuchen. Da ihm nun die Rückendeckung von H. Kann fehlt u. er isoliert dasteht u. da ihm Samek 20% von jedem Buch, das er herauszugeben mithilft, wenn auch nur beratend, hoffe ich Erfolg zu haben, falls Mecht. das Amt übernimmt u. es nicht über ihre Kräfte geht, Einsicht in das verworrene Material zu nehmen, was immerhin der Fall sein könnte. Ich habe erst gestern geschrieben u. alles erklärt; Sie kennt Fischer. Da er auf Geld happig ist, dürfte diese Aussicht ihn verlocken. Natürlich muss er aber verschiedene Bedingungen erfüllen, vor Allem anerkennen, dass nur Samek das Recht zu veröffentlichen u. herauszugeben hat u. dies u. einiges Andere dem schw. Pegasus Verlag zur Kenntnis bringen. Nur so könnte Samek Verträge mit Verlegern abschliessen, nicht aber so lange sein Recht bestritten wird. Es macht auch Samek Sorgen, welche jüngere Kraft nach seinem Tod sich um das Werk kümmern soll. Wo einen Menschen finden, der sich liebevoll u. mit Verständnis der Arbeit widmen würde! Wenn ich nicht früher geschrieben habe, so war es, weil ich immer zögerte, ob ich es wagen darf, etwas Ihrem Herzen zu entreissen: wenn es Ihnen nicht allzu schmerzlich ist, möchte 477 ich Sie bitten, mir alle Abschriften meiner K.K.Briefe zu senden. Ich weiss, es war bestimmt, dass sie bei Ihnen bleiben sollen. Seither aber hat sich mein Leben von Grund aus verändert, auch insofern, dass ich nichts von K.K., ausser 2 Bilder u. Die ausgewählten Gedichte, um mich habe u. mir ist bange um etwas Persönliches, wenn auch nur Abschriften. Ich konnte keine Bücher, keine Fackelhefte mitnehmen. Sie blieben in Kisten (mit der Bezeichnung - um sie zu retten vor unrechtmassigem Zugriff u. weil mir versichert wurde, dass sie wohlbehalten im Schloss in den Kisten verbleiben werden - "Museums-Eigentum") zurück, die MS. in Turnovskys Verwahrung; ich weiss nicht, ob es mir gelingen wird, sie durch Diplomaten nach England zu schaffen. Alles ist j a so traurig u. aussichtslos. Ich wäre dankbar, wenn Sie mir das Packet der Abschriften hersenden könnten, aber nur, wenn es Ihnen nicht zu schwer fallt, sich von ihnen zu trennen. Ich bin froh, dass Sie die Ursache waren, sie damals abzuschreiben u. dass sie existieren. Ich nehme sie dann am 1. Juni nach England mit, aber ich werde dort eine unstete Adresse haben. Zwar an eine können Sie mir immer schreiben: S... .N.... c/o Mrs.Palachet Fiat 689, The White House, Albany Street, London N.W.l. Ich bleibe in London über den Sommer u. bis ich - was mehrere Monate dauert - das Visum für Argent, erhalte, fahre ich nach Buenos Aires, wo ich bei einer Freundin leben werde. So würde ich jemanden haben, der sich um mich kümmern würde, sollte ich erkranken. K.K. kannte sie. So schön auch die Landschaft ist, so angenehm auch die Bequemlichkeit meines Lebens, gute Nahrung, gute Bedienung, kann ich auf die Dauer die Armut in geistigen Dingen hier nicht ertragen; so nett auch die Menschen sind, es besteht zwischen uns eine grosse Kluft auf geistigem Gebiet u. ich ziehe mich immer mehr in mich zurück u. werde immer schweigsamer. Ich kann nicht auf dieser Basis mit Menschen leben. So weit ich zurückdenke, war immer meine Wahl von Menschen sehr kritisch u. nur Wenigen räumte ich das Recht ein, in meinem Haus zu verkehren. Und da die Meisten durch Tod von mir genommen wurden, lebte ich immer mehr zurückgezogen u. vereinsamt. Hier aber reden die Menschen nur um zu reden. Das wird mit der Zeit unerträglich, u. ich fliehe ihre Gesellschaft u. finde erst Sprache, wenn ich allein am Meer bin u. alle Herrlichkeiten dieser Küste u. Klüfte u. Berge u. immergrünem blühenden Gewirr von Blumen, Sträuchern u. Bäumen mich überwältigen. Freilich, dieses habe ich nicht in London, aber welch eine Wahl an 478 Dingen (u. Menschen), die mit Geistigem Contakt haben, welch eine Mannigfaltigkeit in allem, was mit Kunst früherer Jahrhunderte zusammenhängt, welch pulsierendes Leben. Und Mechtild. Der Reichtum der Sprache vor Allem, was London birgt, ist so tausendzüngig, dass man mitten im Menschengewirr die Menschen nicht sieht noch hört u. verfolgt gespannt u. gebannt den Weg, den man sich aussucht. Und wie lieblich ist die landschaftliche Umgebung von London. Wie schön wird sie im Juni sein. Auch hier erwarte ich mir viel vom Mai. Schon ist alles blau mit bluebells gegen einen Hintergrund von mit gelbem Ginster [Garse] bedeckten Felsenwänden, untermengt mit Epheu. Im Mai werden die Fuchsienhecken blühen, die alle Wege u. Strassen umsäumen. Die Engländer haben eine sehr angenehme Gewohnheit: sie sind nicht neugierig, sie stellen nicht Fragen, sind sehr reserviert, entgegenkommend, wenn man es verlangt, und freundlich, ohne expansiv zu sein, verlieren keine unnützen Worte. Hingegen ist die Redelust der Irländer erstaunlich, wenn auch mit viel Humor vermengt. Seltsam, welch eine Macht die katholische Kirche hier ist, wie wohl heute in keinem anderen Land mehr. Und wie viel Aberglauben beschäftigt ihre Phantasie. Sie sind immer froh u. heiter wie Kinder, die an Wunder glauben u. das Unerklärliche fraglos hinnehmen, was j a so sehr mit Katholizismus verquickt ist. Genug für heute und für kranke Augen. Es ist gleich 1 Uhr nachts u. das Feuer ist ausgebrannt. Alle guten Wünsche Sidi Ebenso ermüdend wie das Menschengeschwätz sind die heulenden Stürme, die fast täglich die Küste umtosen, bis ins Mark dringen u. gegen die anzukämpfen, atemberaubend (im wahren Sinn des Wortes) ist. 479 Mein lieber Freund, Noch immer liegt Ihr langer, interessanter Brief vom 16. 4. unbeantwortet vor mir, inzwischen kam einer vom 30. 4. u. diesen zu beantworten beeile ich mich, weil Sie schnell wissen müssen, dass Sie die Briefe ruhig bis in den Sommer behalten sollen, es eilt nicht u. ich habe ohnedies ein so schlechtes Gewissen, eine Gabe zurückzufordern. Nur die aussergewöhnlichen Umstände können mich entschuldigen. Die Photos bitte natürlich zu behalten. Ich freue mich, dass die Augen nicht beunruhigend sind. Am 28. April wusste ich uns in Gedanken vereint, sich befassend nur mit der einen grossen Begebenheit. Bin heute in keiner Stimmung zu schreiben. Ab 26. Mai bin ich in London. Ich glaube ich sagte Ihnen schon Adresse, die mich immer erreicht: c/o Mrs. Palache, 689 The White House, Albany Street, London N.W.I. Mit allen Wünschen bei Ihnen Ihre Sidi Drishane, 8. Mai 1950 June 9th 1950 Am Vorabend des Tages, als das Licht erlosch. Station: Gerrard Cross. High Trees, Telephone: Chalfont St Giles 205. Chalfont St. Peter, Bucks. My dear kind friend, Bin so dankbar, dass trotz Augen- u. Kopfschmerzen Sie mir vor längerer Pause einen lieben langen Brief sandten. Er geht an M. L. weiter. Und erleichtert, dass Sie mir jeden Selbstvorwurf wegen der Briefe abnehmen. 480 Wahrscheinlich traf ich in Irland keine echten Iren, sondern hauptsächlich vor etwa 100 J. sich angesiedelten Engländer, u. zwar das Ödeste was es gibt: retreated admirals, generals etc. (Protestanten.) Mein besonderer Freund war ein echter Ire, ein r.kathol. Priester. Ein reizender Mensch u. ein leuchtendes Beispiel für Priester: er lebt ganz allein, kocht sich selber (hauptsächlich Kartoffel), melkt seine Kuh u. gibt alles her was er hat. Mir brachte er fort Cigarettten, Weigerungen kränkten ihn. Er sagte er helfe gerne geflohenen Menschen, denn sein Volk habe auch ähnliche Schicksale erlitten. Er hasst die Engländer (commercial, hypocrits, cold etc.). Ich musste immer lachen. Oft spielte er mir am Gramoph. alte irish tunes u. wenn es etwas Trauriges war, rollten ihm die Thrähnen über die Wangen. In Dublin war ich im berühmten Abby-theatre, wo alle neueren irischen Stücke aufgeführt werden. Die Schauspieler waren ganz einzig. Ich weiss, dass es gute irische Schriftsteller gibt, die bei ihrer Erst-Aufführung viel Wirbel aufrührten. Gelesen habe ich leider nur 1 Theaterstück, ganz hervorragend: " Venus? and the playboy" oder so ähnlich hiess es, ich glaube bei Casey. Dann gibt es [ ], u. noch ein ganz besonderer, ich glaube Synge oder so ähnlich. Ich habe ein schlechtes Gedächtnis für Namen. Eines heisstJwwo & the Peacock. Argentinien? Ich weiss sehr wenig über dieses Land, nur dass das Klima sehr angenehm, ebenso das Leben in Buenos Aires. Ich hatte nie das leiseste Interesse für S. Amerika, fühlte mich nie hingezogen. Aber was soll ich immer in einem kl. Zimmer in London, mit wenig Geld? Zwar ist London reich an Anziehendem u. ich habe liebe Freunde dort. Aber - wenn ich z.B. krank würde, wer hätte Zeit sich um mich zu kümmern? Ich läge ganz allein u. verlassen in einem schrecklichen L. Spital, mit vielen Anderen, denn ich hätte j a nicht die Mittel, mir etwas Besseres zu zahlen. Davor zittere ich. Schliesslich werde ich mich einmal [mich] alt fühlen. In Buenos Aires aber lebt eine sehr liebe u. liebevolle Freundin, die mich seit ihrer Kindheit kennt u. liebt, u. nur einen Wunsch hat: dass ich zu ihr komme. Sie ist sehr vermögend, würde ganz [um] mich sorgen, verspricht mir ein selbständiges Leben, wie ich es immer gewohnt war etc. Schliesslich leben dort eine Menge Emigranten, hauptsächlich ungarischer Adel u. alle sind sehr gerne dort u. zufrieden. Ich habe viele Bekannte dort. Die Schwierigkeit aber ist, ein Visum zu bekommen. Es dauert oft ein Jahr ehe man ins Land gelassen wird. - Hoffentlich beruhigt Sie diese Erklärung u. warum ich mich um polit. Einstellung nicht kümmere. Denn schliesslich ändert sich dort die Regierung 481 jeden Augenblick, ist nie stabil wie Franco. Übrigens kenne ich mehrere Engländer (Conservatives, ich kenne keine Labour-Leute), die in Spanien lebten u. sehr glücklich dort waren; also muss das faschist. total. System nicht sehr drückend sein. Jedenfalls mit den Polizei-Verbrecher-Staaten der Communisten nicht in einem Athem zu nennen. Wie eine nightmare taucht in mir manchmal die Erinnerung an diese Zeit vor 1 Jahr in Prag auf. Heute sind Viele, die damals frei waren u. die ich viel sah, im Gefängnis oder Zwangs-Arbeitslager oder zu schweren Strafen verurteilt; ein Bekannter erhielt Todesur te i l . . . Das geschieht dort täglich. Denn die Freiheit gewohnten Tschechen von Masaryk zu Humanismus erzogen, wehren sich mehr als andere Völker. Als ich sie verliess, war es ein Meer von gebrochenen Herzen. God bless you, enjoy your summer-holiday. I'm here with friends, sitting all day under shady trees on a lawn surrounded by masses of roses, sweet smells & a profusion of flowers & dazzling colours in all directions as far as the eye reaches - a sort of paradise. I'm staying here a fortnight, then I 'm moving on to other friends. Therefore keep to the Palache-address. There is no hurry at all with sending the letters. S. Harefield Hosp.; 20. August 1950 My dear friend, Well, this has been a terrible illness, terrible in its length & terrible in its intensity. Although I never had pains, that helped to confuse the doctors, as they had nothing to guide them, & on my stomach they could not find anything whatever, so an xray was decided upon. & Health Service which implies long waiting. In the meantime I was rapidly loosing my strenght. Ich war zum Skelett geworden. Xray war wieder nichts zu finden. Nun griffen die Ärzte zu einem letzten Mittel, das, so schrecklich es war, mich rettete. Sie hatten seit langem suspected dass meine Krankheit nur einen Grund hat that your lung is flooded. Man muss das Blut aus einer Lunge in die andere teiben, eine schreckliche Prozedur. Man 482 wird vom elektrischen Strom ganz wehrlos mit ergriffen u. hat das Gefühl mit dem Blut mitgeschleudert zu werden. Aber dann ist alles normal u. der Arzt bezeichnet es als einen grossen Erfolg, weil er eine Stelle fand, was eher selten ist, die leicht zugänglich war. Also jetzt können die Ärzte nichts mehr für mich tun, aber raten mir, ich soll mich in eine xray station begeben. 3 Wochen lang dauert diese Kur. Leider wegen grosser Popularität sind die Betten seit Langem besetzt. Man soll wie ein neuer Mensch vom Bett aufstehen. - Von dort gehe ich zu meinen Freunden, die für meine Ernährung sorgen wollen. Ich gebe ihre Adresse: High Trees, Chalfont St.Peter; Bucks. Alle lachen, wenn sie hereinkommen, weil sie mich gewöhnlich nickend finden. Man bekommt ungezählte Injektionen. Gute Nacht 9. September 1950 I have given up my permanent address in London & please send me therefore the letters to High Trees, Chalfont St. Peter, Bucks., the address you know, which will be always mine, till in about 6 weeks 1*11 go to a friend in Italy to get away from the cold winter London climate. In thought with you S. 483 Auszüge aus der Anna Bloch-Michael Lazarus-Ilse Turnovskä Korrespondenz 1968 484 Ilse Turnovskä Lucemburskä 40 Praha 3, CSSR Herrn Prof. Albert Bloch 1015 Alabama Street Lawrence, Kansas U.S.A. Prag, 4. Januar 1968 Sehr geehrter Herr Professor, mein Name sagt Ihnen natürlich nichts, doch vielleicht entsinnen Sie sich des Namens meines inzwischen verstorbenen Mannes Dr. Jan Turnovsky, der szt. jahrelanger Rechtsvertreter von Herrn Karl Kraus für die Tschechoslowakei war. Als vor nahezu 20 Jahren unsere gemeinsame Freundin, Baronin Sidonie Nädhernhä die Tschechoslowakei verliess, übergab sie meinem Mann und mir einen Koffer mit Korrespondenz zur Aufbewahrung. Ich habe in all der Zeit den Koffer nie geöffnet und wusste von seinem Inhalt nur im allgemeinen, dass er Briefschaften und Aufzeichnungen enthielt. Erst in jüngster Zeit wurde ich durch äussere Umstände genötigt, den Koffer zu öffnen, und dabei fiel mir u.a. ein grösseres Briefpäckchen in die Hand, auf dessen Umschlag die Weisung steht: "Ungelesen an Prof. Albert Bloch - (folgt Adresse) - zu senden". Den ersten Teil dieser Weisung habe ich selbstverständlich strikt respektiert und möchte nun gerne auch den zweiten Teil befolgen. Zwanzig Jahre ist aber eine lange Frist, da kann sich manches - und jedenfalls eine Adresse - ändern. Bevor ich also das Päckchen ins Blaue hineinsende, möchte ich mich zuerst überzeugen, ob Ihre Adresse noch stimmt. 485 Ich bitte Sie daher mir frdl. mitzuteilen, ob Sie dieser Brief noch an der alten Adresse fand und ich Ihnen das Päckchen dorthin senden kann. Ich füge hinzu, dass ich beabsichtige, Ende Februar auf cca einen Monat auf Besuch zu Freunden nach England zu fahren; es wäre mir lieb, wenn ich diese Angelegenheit vorher erledigen könnte, weswegen ich Ihnen für eine baldige Antwort dankbar wäre. Mit besten Grüssen Ilse Turnovska January 18th, 1968 Mrs. Albert Bloch 1015 Alabama Street Lawrence, Kansas, USA Dear Mrs. Bloch, I received your letter yesterday and deeply regret that I did not return your late husband's letters to Baroness Nädhernä already many years ago. - As I wrote in my first letter I never opened the box entrusted to my husband and me by the Baroness, simply because I did not feel entitled to do so. Only some weeks ago - for reasons I shall explain to Dr. Lazarus at another opportunity - 1 examined the contents of that box and found that package of letters. To-day I sent them - as advised - to Dr. Lazarus, New York, and hope they will safely arrive in due time. With my best regards to you Yours sincerely Ilse Turnovska Lucemburskä 40 Praha3, Czechoslovakia 486 Ilse Turnovskä c/o Mrs. Nelly Palache Flat A, 1? Holland Park Road London W 14 5. März 1968 Herrn Dr. Michael Lazarus 84 Grove Str. New York, N.Y. 10014 Sehr geehrter Herr Doktor, Ich knüpfe an meinen Brief vom 18.I.d.J. in Angelegenheit der Korrespondenz Sidonie Nadherna mit H.Prof.Albert Bloch an und hoffe, dass das am gleichen Tag rekommandiert an Ihre Adresse abgesandte Briefpäckchen inzwischen heil und wohlbehalten eingetroffen ist. Gleich eingangs bitte ich um Entschuldigung, wenn ich Ihre Zeit mit einem Problem beanspruche, das nicht unmittelbar mit der obigen Korrespondenz zusammenhängt, mich aber sehr bedrückt. Wie ich bereits in meinem ersten, noch an Prof. Bloch gerichteten Brief schrieb, wurde ich erst durch äußere Umstände veranlasst, den Inhalt des uns szt. von Baronin Sidonie Nadherna - gestatten Sie dass ich der Einfachheit halber von ihr im weiteren mit der uns vertrauten familiären Abkürzung "Sidi" spreche - übergebenen Koffers zu prüfen. Er enthielt neben verschiedenen, K.K. betreffenden Andenken und Fotos, eine Fotokopie des Testaments von K.K. nebst einer maschinengeschriebenen Abschrift davon, hauptsächlich aber die vollständige, sehr umfangreiche Korrespondenz mit K.K., d.h. nur seine Briefe an Sidi (insgesamt 1070 Stück). Dazu ein von Sidis Hand geschriebener Band Exzerpte der 487 Briefe, die 23 Jahre dieser Korrespondenz umspannen. Auf der ersten Seite steht, ebenfalls von Sidis Hand, die Notiz: "Extrakte der Briefe von Karl Kraus an mich /von ihm gewünscht, zwecks einmaliger eventueller Veröffentlichung". Die Veranlassung zur Öffnung des Koffers war, dass ich von einem mir unbekannten Herrn im Auftrag "eines Münchner Verlages" telefonisch gefragt wurde, ob ich bereit wäre, dem in Rede stehenden Verlag /ich nahm richtig an, dass es sich um den Kasel-Verlag, München, handelt, der bekanntlich nach dem Krieg mit einer Neuausgabe sämtlicher Schriften von K.K. begann/ diese Briefe zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Woher der Verlag von meiner Existenz wusste und dass sich die Briefe in meiner Verwahrung befinden, weiss ich nicht/. Natürlich konnte ich eine Antwort erst geben, nachdem ich festgestellt hatte, was überhaupt in dem Koffer ist. Schon beim ersten flüchtigen Durchblättern der Exzerpte stellte ich zu meiner nicht geringen Überraschung fest, dass es sich in der Hauptsache um Briefe handelt, aus denen eine ganz grosse, tiefe, j a glühend-leidenschaftliche Liebe spricht. - Nun geht aus dem Testament von K.K. eindeutig hervor, dass er eine Veröffentlichung seiner Korrespondenz nicht wünschte, j a sogar untersagte s. den Passus: "Niemand aber den Genannten hat das Recht, eine Zeile von mir - sei es aus Gedrucktem, etwa auffindlichen Handschriften oder Briefschaften / von mir oder an mich geschrieben / - zu veröffentlichen." - -/Übrigens: von den Genannten ist heute nur mehr Heinrich Fischer, soviel ich weiss, eben beim Kösel- Verlag, am Leben/. - Daher war es für mich klar, dass ich höchstens diese von hergestellten und nach obiger Notiz für eine evtl. Veröffentlichung auch von K.K. gebilligten Briefauszüge zur Verfügung stellen könne. Damit wäre aber nach Ansicht des Mittelmannes der Verlag nicht zufrieden, da er selbst bereits etwelche Exzerpte besitze/ welche und woher??/, sondern er sei eben nur an der gesamten Originalkorrespondenz interessiert. Das lehnte ich unter hinweis auf das Testament ab und hielt die Angelegenheit für erledigt. Abgesehen davon, dass ich mich durch das Testament gebunden fühle, - freilich könnte man einwenden, es sind seither mehr als 30 Jahre verflossen, und es dürfte wohl niemand mehr am Leben sein, der aus verwandtschaftlichen Rücksichten gegen eine Veröffentlichung Einspruch erheben könnte, - so widerstrebt mir der Gedanke, eine innere Welt, die K.K. streng von seinem sonst so sehr der Öffentlichkeit ausgesetzten Leben 488 abgegrenzt hatte, von deren Tiefe und Intensität des Gefühls niemand etwas ahnte, die ihm also das Heiligste und Behütetste war, nun dem neugierigen Publikum preiszugeben. Denn ich glaube, es muss schon wie eine Sensation wirken, an K.K., der dem breiteren Publikum vielleicht doch weniger als Dichter, denn als Herausgeber der Fackel bekannt war, also als der Spötter, Satiriker, Verhöhner alles Lächerlichen und unerbittlicher Geissler alles Schlechten und Verabscheuungswürdigen, an diesem Manne nun diese unerwartete Seite zu entdecken. - Dies nur zur Erklärung meines Widerstrebens. Nun aber wandte sich im vorigen Monat abermals ein Abgesandter des Kösel- Verlages an mich: diesmal ist es ein Wissenschaftler, in leitender Stellung am Institut für Sprachen und Literatur der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Spezialist für österr. Literatur und tschechisch-österr. Beziehungen. In seinem Brief wies er - Gegenargumente vorwegnehmend - daraufhin, dass eine Reihe von Aussprüchen von K.K. existieren, wonach dieser damit rechnete, dass die Briefe einmal publiziert würden. Der Schreiber bot an, im Falle meiner Einwilligung die Originalbriefe zu sichten, Abschriften davon herzustellen und in seiner Eigenschaft als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, also "auf kompetenter Basis" eine kritische Edition der Briefe vorzubereiten. - Wir hatten eine Unterredung, wobei ich den Eindruck eines vielleicht nicht gerade geistsprühenden, eher etwas schwerfalligeren Intellekts, aber vor allem eines sauberen, redlichen Charakters gewann. (Sein Spezialgebiet ist Adalbert Stifter, gewiss ein wackerer und auch guter deutschböhmischer Schriftsteller des vor. Jahrhunderts, aber nicht gerade auf der geistigen Linie eines K.K.!). - Immerhin wäre mir - wenn überhaupt - diese Art der Veröffentlichung, bzw. ihre Vorbereitung weitaus sympathischer, weil ich hoffe, dass hier mit mehr Takt und Behutsamkeit vorgegangen würde, als durch mir unbekannte Lektoren und Editoren des Verlags. - Ich habe dem Herrn, (der übrigesn halber Österreicher ist und natürlich ausgezeichnet deutsch spricht) keinen endgültigen Bescheid gegeben, sondern mir Bedenkzeit ausbedungen. Und nun komme ich endlich zu dem Punkt, warum ich Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, dies alles so ausführlich geschildert habe: Sollten Sie in der Ihnen übersandten Korrespondenz einen Passus gefunden haben, der auf eine tatsächliche Äusserung K.K. 5 zurückgeht, dass er nicht so durchaus gegen eine Veröffentlichung der Briefe war, wie dies 489 aus dem Testament hervorgeht, sondern damit rechnete, vielleicht es sogar wünschte - so würde mir dies einen Entschluss in positivem Sinnen ausserordentlich erleichtern. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich diese Verantwortung - in moralischem oder ethischem Sinne, wenn Sie wollen - drückt. Es ist ja eigentlich absurd, dass von allen Menschen, die K.K. nahestanden, zu seinem engeren und engsten Kreis gehörten, niemand mehr am Leben ist, und nun gerade ich, die ich zu diesem Kreis nicht gehörte, nur an seiner Peripherie, sozusagen als Anhängsel meines Mannes in Erscheinung trat / nicht Sidi gegenüber - dass nun also gerade ich über das Schicksal jenes Teiles seines Nachlasses entscheiden soll, der ihm das Wesentlichste, Intimste und Heiligste war! Dabei bin ich heute auch schon 73 Jahre alt und die Frage bedrückt mich sehr, was mit diesem Nachlass geschehen soll, wenn ich nicht mehr bin. Meine Kinder haben dazu gar keine Beziehung mehr, sie sind in ganz anderen Verhältnissen und einem ganz anderen Kultur- und Interessenkreis aufgewachsen und jetzt tätig. Sie würden schon gar nicht mehr wissen, was damit. - Am sympathischsten wäre mir der Gedanke, diesen Nachlass nach Österreich, evtl. dem Archiv der Stadt Wien / von dem in ähnlichem Zusammenhang im Testament die Rede ist / zu vermachen - falls dies zwischenstaatlich tunlich ist. Bitte verzeihen Sie nochmals diese überlange Epistel, mit der ich mich ursprünglich an Prof. Bloch wenden wollte und mit der ich nun Sie über Gebühr behelligt habe. Falls Sie für mich eine günstige Nachricht - in obigem Sinne - hätten, so wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir diese noch hierher nach London an obige Adresse senden könnten. / Ich bleibe bis cca 20. ds. Mts. hier, dann noch 5 Tage in Paris - bis 25. ds. Mts. - , wo mich ein Brief an der Adresse: c/o Bedrich Rohan, 19, Avenue Ferdinand-Buisson, Paris XVIe erreichen würde. Ich füge hinzu, dass mein Mann Alleinerbe nach Baronin S.N. war - was ich aber aus begreiflichen Gründen bitte, in einem evtl. Brief nach der Tschechoslowakei nicht zu erwähnen / und ich nach dem Tode meines Mannes alleinberechtigt bin, über ihren Nachlass, demzufolge auch über ihre Korrespondenz mit K.K. zu verfügen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit und bleibe Ihre Ilse Turnovskä Dr. Michael Lazarus 84 Grove St. New York, N.Y. 10014 10. [Februar] 1968 Sehr geehrte gnädige Frau, Das von Ihnen abgesandte Brief paket kam vor einer Woche in tadellosem Zustand an. Da meine Frau und ich planen, in einigen Wochen Frau Bloch in Kansas zu besuchen, wollte ich das Paket erst dort öffnen. Als ich aber gestern Ihren sehr interessanten Brief vom 5. März erhielt, vermutete ich, dass eine sofortige Untersuchung des Inhaltes Ihnen vielleicht einen Anhaltspunkt geben könnte, ob überhaupt, und auf welche Art eine Veröffentlichung der Briefe im Sinne Karl Kraus' gemacht werden dürfte. Ich fand - ausser den sichtlich zufällig in das Paket geratenen Papieren, die ich Ihnen anbei zurücksende, - mehr als 40 Briefe von Albert Bloch an Frau Nadherny, sowie die wichtige Notiz (in der Handschrift der Baronin), von der ich eine Xerox Kopie beilege. Frau Nadherny hatte in den Jahren 1947/1950 eine Korrespondenz mit Professor Bloch, für den sie auf ihr eigenes Anerbieten Teile aus Briefen von Kraus abschrieb. Diese Briefe, die sich zumeist auf Gedichte von Karl Kraus beziehen, sind der Hauptgegenstand dieser Korrespondenz. Ich besitze die Briefe von Frau N. an Bloch, von denen ich sogar eine Xerox Kopie für den Kösel-Verlag machen Hess und habe nun - dank Ihrer treuen Obsorge - einen wichtigen Teil der Korrespondenz Bloch - Nadherny. Als die Baronin später, nach ihrer Flucht nach England, keinen Brief, keine Bilder, fast nichts oder überhaupt nichts, von den teuren Andenken an Kraus bei sich hatte, bat sie A.B. ihr die Abschriften zurückzuschicken, was auch sofort geschah (23. August 1950). Am 30. Sept. starb sie und der Erhalt der Abschriften wurde nie bestätigt. Anscheinend kamen sie in die Hände des Fürsten Lobkowitz, der sie vor einigen Monaten (auch er ist inzwischen gestorben) dem Kösel-Verlag übergab. Diese Abschriften sind kaum mit denen identisch, die sich in Ihrer Obhut befinden und auf diese dürfte sich beiliegende Notiz der Baronin beziehen. 491 Ich glaube, dass also der Veröffentlichung dieser Abschriften - allerdings nach sorgfältiger Sichtung - nichts einzuwenden wäre. Hier kommt es natürlich darauf an, wen man mit der Aufgabe einer solchen Sichtung betrauen kann. (Ich möchte noch erwähnen, dass Frau Bloch bei Durchsicht des Nachlasses ihres Mannes Ihre Adresse fand. Sie mutmasste, dass Frau N. ihre Korrespondenz mit Karl Kraus Dr. Turnowski anvertraut haben dürfte. Ich habe sie Herrn Pfäfflin vom Kösel-Verlag mitgeteilt und angeregt, dort diskret nach den Briefen zu suchen. Im Augenblick ist es wichtig, dass die schon lange geplante Publikation der Briefschaften vorbereitet und zu diesem Zwecke mit Verständnis und Liebe gesichtet wird. Ich habe mich seinerzeit dem Kösel-Verlag angeboten. Es wurde mir aber mitgeteilt, dass diese Arbeit schon einer verlässlichen Dame übergeben wurde, die seit Jahren mit grossem Verständnis und Verantwortungsgefühl an der neuen Ausgabe der Werke von Karl Kraus mitarbeitet. Ohne jetzt - sozusagen durch eine Hintertür - wieder meine Mitarbeit anzubieten, wiederhole ich lediglich meine Bereitschaft, an der Durchsicht der Briefschaften teilzunehmen, damit auch dem Verlag nicht Angehörende zu Rate gezogen werden. Sowohl der Prager Professor, wie auch eine Mitarbeiterin des Kösel-Verlages könnten nämlich - sogar unbewusst - von ihren weltanschaulichen oder religiösen Motiven in ihrer Auswahl beeinflusst sein. Bei Kraus jedoch ist grösste Unvoreingenommenheit nötig. Man muss alles tun, damit die Veröffentlichung im Sinne von Kraus und Nädherny geschieht, wie Sie selbst so richtig betonen. Später wäre zu erwägen, ob Anlass und Berechtigung besteht, in alle Briefschaften Einsicht zu nehmen. Was den Nachlass in Ihrer Obhut betrifft, wäre, wie ich glaube, heute das Karl-Kraus-Archiv der Stadt Wien unter der Leitung von Dr. Paul Schick wohl das geeignetste Institut. Allerdings müsste man von Dr. Schick zu erfahren trachten, ob einmal ein dem Dr. Sch. würdiger Nachfolger diesem Archiv dienen wird. Ich habe gesehen, wie in hiesigen Instituten wertvolle Legate, vom Nachfolger nicht mehr geschätzt, gewissenlos verschleudert wurden. Ich hoffe, heuer Europa zu besuchen und ich würde es so einrichten, dort mit Dr. Schick und anderen darüber zu sprechen, wenn Sie es mir gestatten wollen. Es würde mich auch freuen, wenn sich eine Gelegenheit fände, mit Ihnen selbst diese Frage zu erörtern. 492 Ich selbst besitze auch Karl Kraus Memorabilien, über die ich heuer in Österreich Verfügungen zu treffen plane. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Karl Kraus-Korrespondenz in Ihnen eine treue Verwahrerin gefunden hat und danke Ihnen für das Vertrauen, mich in Fragen dieses wertvollen Briefwechsels zu Rate zu ziehen. Es würde mich freuen, wieder von Ihnen zu hören und grüsse Sie herzlich als Ihr ergebener [Michael Lazarus] March 14, 1968 Dear Mrs. Turnovskä, I wanted to acknowledge your letter to me, but thought that it might be as well to wait until you had returned from your journey. My thanks to your for it and for sending my husband's letters to Dr. Lazarus, who called me a few nights ago to tell me of hearing from you again, and of the instructions left by Sidonie Nadherny concerning her letters from Karl Kraus. I sympathize profoundly with your doubts concerning the disposal of these, and am personally very happy that you did not feel inclined to turn them over to the publsiher's representative who approached you about them. I have come to suspect the over-eagerness of publishers to publish and to have little regard for the wishes of the writer or the recipient of these invaluable and intimate letters; and I had come to regret that information concerning their whereabouts had originated with me, through what the Baroness Nädhernä had written of them to my husband. With all my heart, I believe that the person who should be entrusted with making the selections that were spoken of in the instructions is Michael Lazarus, whose life has been one of devotion to the word and thought of Karl Kraus. His first contact with my husband came through his sponsorship of the "Theater der Dichtung" in 1930, and although these 493 efforts were not successful in bringing about the realization of this concept, they were responsible (as a substitute achievement) for the publication of Kraus's Shakespeare reconstructions. But he and my husband met personally only after Dr. Lazarus's arrival in this country, in flight from an Austria that had become Hitler's. From then on he and his wife were our fast friends and have remained mine. Michael Lazarus was responsible for the publication in 1947 of a volume of my husband's poems, in which was a section of translations from Kraus; and it was by way of this little book that my husband and S.N. formed an acquaintance which was at once one of such great confidence that she was inspired to make excerpts from Kraus's letters for him. It was through this volume also that a friendship with Mechtilde Lichnowsky began which lasted until her death in [1956], Dr. Lazarus's years-long struggle here in America to bring Karl Kraus to the attention of the English-speaking public is too involved and arduous to bear recounting here, and it still goes on. Two years ago, at the Austrian Cultural Institute in New York, he gave a lecture on Kraus, which was later repeated for the benefit of the many who had to be turned away from the first lecture for lack of space. — But this is only one isolated small instance of his efforts on behalf of Kraus which have had to be carried on under every imaginable handicap. More important to the matter of your concern is the fact that he could be trusted completely with the decision of what should be made public and what withheld; you can be certain that his selections would be made from the point of view of the writer of these letters, from his knowledge of the whole being of the writer - - not to please a publisher or a public. I believe that you would be able to sense his character in every word he addresses to you, but that he was my husband's trusted friend, who in turn was the trusted friend of Sidonie Nädhernä and of Mechtilde Lichnowsky (even though they had never met), as well as the authorized translator into English of Karl Kraus, must carry some weight also. Since by now the Kösel Verlag must be well on the way to completion of the projected publication made possible by Prince Lobkowitz, my recommendations of Michael Lazarus would no doubt have to apply to any further publication from the letters, or from the selection* that is in your hands, if it differs from theirs. - 1 feel confident that, in any case, 494 you will regard what I have said only as a reinforcement of the trust you have already shown toward Dr. Lazarus by discussing these responsibilities that you bear. With all my good wishes, Sincerely, Mrs. Albert Bloch 1015 Alabama Street Lawrence, Kansas [note in the handwriting of Anna Bloch:] •Note to E.[Erich] H.[Heller].: Aside from the total collection of letters, there was also a selection from them, in SN's hand, inside the trunk. Prague, April 23, 1968 Dear Mrs. Bloch, I still have to thank you for your friendly and most interesting letter of March 14, and must apologize for not having done so earlier. /After my return from England and Paris I was immediately swamped with work - 1 am doing translations for the State Publishers of Music/. - And yet I wanted so much to tell you how relieved I felt when I received your and Dr. Lazarus's letters - they have lifted a great burden off my soul! I am especially grateful for the characteristic you gave of Dr. Lazarus's devoted labours in connection with K. Kraus's works during so many years; the warm words you found to recommend him for the task in question - together with the Xerox-copy of S.N.'s instructions about the possibility of publication, which dispersed my principal doubts in this respect - have been of great value to me and decidedly supported my own feeling about Dr. L. as the personality whom I could trust, and so helped to clear up the difficulties and to form my decision. 495 As I wrote to Dr. L. soon after my return, I would be only too happy if he would undertake the task of selecting and preparing the letters for publication. Whether this could be done by him alone or only in cooperation with Frau Jahn, the lady from the Kösel-Verlag, /as I see from Dr. L 's last letter, received to-day/, depends on the outcome of negotiations with the Kösel-Verlag. In any case I shall insist that Dr. Lazarus have the decisive word put in especially with the selection of the texts. I shall keep you informed about how things are developing. With my best thanks and all good wishes Sincerley Use Turnovska Lucemburska 40 Praha3 ,CSSR P.S. I should like you to know that the volume of your husband's poems you were speaking of in your letter is not unknown to me: Ventures in Verse were given to my husband either by S.N. or perhaps by Dr. Samek -1 don't remember now. Anyhow, the book still has its place next to K.K.'s poems on my book-shelf! 496